Neue China-Studien

Staatlicher Wettbewerbskapitalismus in China

Anmerkungen zu ten Brink, Chinas Kapitalismus

von Jörg Goldberg
Dezember 2013

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Das Buch von Tobias ten Brink ist die überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift des Autors und erscheint als Schrift des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Wenn man bedenkt, dass eine akademische Arbeit (noch dazu eine Habilitationsschrift, die akademische Posten begründen soll) bestimmten Zwängen folgt, so ist das Buch gut geschrieben und – auch dank der Zusammenfassungen – gut lesbar. Insgesamt handelt es sich sicher um eines der besten Chinabücher im deutschen Sprachraum.

Akteure der Reformen: Unternehmen, Staat und Arbeiterschaft

In der Einleitung nennt der Autor drei zentrale Fragestellungen, zugleich nach Ansicht des Autors Defizite der bisherigen Forschungen: Wodurch ist das „sozio-ökonomische System“ Chinas gekennzeichnet? Was sind die Triebkräfte des „neuen Entwicklungstyps“? Welches sind die Widersprüche des gegenwärtigen Wachstumsprozesses? (14/15)

Das Buch geht zunächst chronologisch vor: Nach einem methodischen Kapitel (auf das weiter unten eingegangen wird) behandelt er in Kapitel 2 die Vorgeschichte dessen, was er später als „staatlich durchdrungenen Kapitalismus“ (319) bezeichnet. Im Wesentlichen zeichnet er die Reformschritte zwischen 1978 und heute nach. Die „Wende ab den 1970ern (wird) nicht als vollständiger Bruch mit der Vergangenheit“ (111) dargestellt; auch folgt der Autor nicht der verbreiteten Meinung, welche die Mao-Zeit als einzige Fehlentwicklung bewertet: „Die Landreform und die maoistischen Wirtschaftspolitiken hatten die verhältnismäßig unproduktiven, quasifeudalen Schichten Chinas beseitigt. Der Bildungsdurchschnitt der Gesamtbevölkerung lag vergleichsweise hoch.“ (111). Trotzdem greift der Autor zu kurz: Zwar erwähnt er an methodisch prominenter Stelle (als „Grundkomponente“) das Potenzial des Kapitalismus „nicht- und vorkapitalistische Strukturen in sich aufzunehmen und umzugestalten“ (49), geht aber im folgenden nirgends genauer auf diese Strukturen ein. Für ihn beginnt die aktuelle Wirtschaftsgeschichte Chinas 1949, für einen Autor, der sich als institutionengeschichtlich geprägt darstellt, eine unverzeihliche Schwäche.

Das 3. Kapitel analysiert das gegenwärtige wirtschaftliche System, wobei er drei Hauptakteure des Kapitalismus untersucht: Unternehmen, Staat und Arbeiterschaft. Was die Unternehmen angeht so unterstreicht der Autor die Heterogenität der Unternehmenslandschaft (199). Auch private Unternehmen seien eng mit unterschiedlichen politischen Ebenen verbunden; umgekehrt stehen auch Unternehmen mit staatlichem Eigentum im Wettbewerb, sind also nicht bloß verlängerte Arme des Staates. „…die engen Verknüpfungen zwischen staatlichen, halbstaatlichen und privaten Akteuren (gehören) genauso zu den Eigentümlichkeiten des chinesischen Kapitalismus wie die unternehmerischen Aktivitäten der unteren politischen Instanzen.“ (204) Interessant ist seine Einschätzung des „heterogenen Parteistaats“ (240). Seiner Ansicht nach haben zwar „die zentralstaatlichen Machtapparate ihre Steuerungskapazitäten im Feld der Wirtschaftspolitik erhöhen und die Marktexpansion in einem größeren Ausmaß regulieren (können), als das in anderen Schwellenländern der Fall war.“ (243) Trotzdem wird die zentralstaatliche Steuerungskapazität skeptisch beurteilt, da „weite Teile des politischen Systems kapitalistischen Triebkräften unterworfen“ seien (241) und die „Konkurrenz zwischen Staatsapparaten auf unterschiedlichen Ebenen“ diese beeinträchtige (242). Der chinesische Staat versucht, den Wettbewerb als Steuerungs- und Stimulierungsinstrument zu nutzen, was die Frage aufwirft, ob er die zum Zwecke der raschen Modernisierung gerufenen ‚Geister’ beherrschen kann. Eine nahe liegende Analyse führt der Autor – unverständlicherweise – nicht durch: Zwar bezeichnet er den chinesischen Staat in einer Überschrift als „unternehmerischen Planstaat“, auf das Planungssystems selbst, auf dessen Ziele, Inhalte und Veränderungen wird nicht eingegangen. Überhaupt werden offizielle Positionen und Dokumente kaum rezipiert. Das Buch von Helmut Peters („Auf der Suche nach der Furt“, vgl. Z 86, S. 209ff.), der sich damit ausführlich befasst hat, wird nicht erwähnt.

Als dritten „Akteur“ verweist der Autor auf die „zentrale Bedeutung der chinesischen Arbeiterschaft“ (281). Nach wie vor sei diese aber mehr Objekt als Subjekt der Entwicklung, und zwar aus zwei Gründen: Einmal ist sie stark segmentiert; vielfach handelt es sich um Arbeitsmigranten, die noch mit ihren Herkunftsgebieten verbunden sind und dort über Land verfügen. So kommt es zwar zunehmend zu lokalen Widerstandsaktionen, die meist lokal entschärft werden können. Es handelt sich – wie ten Brink zitiert – mehr um „collective bargaining by riot“ (Lohnverhandlung durch Aufruhr) (282) als um Arbeitskämpfe, die die rechtliche Stellung der Arbeiter dauerhaft stärken. Zwar weist der Autor darauf hin, dass „Rebellionen zu den wichtigsten Traditionen des Reichs der Mitte gehören“, geht dem aber an keiner Stelle seiner Analyse weiter nach. Eine Kernproblem der Arbeits- und Sozialpolitik in China (und damit auch der Umsteuerung auf ein stärker binnenmarktorientiertes Entwicklungsmodell) besteht nach Ansicht des Autors darin, „dass der Zentralregierung zwar an wirksamen Konsultationsmechanismen und einem intakten Interessenausgleich gelegen ist, sie allerdings zugleich die Konkurrenzvorteile niedriger Arbeitskosten aufrechterhalten möchte.“ (309)

Im 4. Kapitel fasst der Autor seine Forschungsergebnisse zusammen. Das chinesische Wirtschaftssystem bezeichnet er „in Ermangelung eines passenderen Begriffs“ „als variegierte (der Jessop entlehnte Begriff bezieht sich auf internationale Einflüsse, J.G.) Form eines wettbewerbsgetriebenen, staatlich durchdrungenen Kapitalismus“ (312). Entsprechend ist er der Ansicht, dass die auch von der chinesischen Regierung erkannten „Paradoxien“ (323) der aktuellen Entwicklung – darunter die fehlende soziale Integration und die Überinvestition – die „Grenzen der staatlichen Steuerung“ (325) offen legten.

Kapitalismustheoretische Defizite

Während es dem Autor im Großen und Ganzen überzeugend gelingt, Entwicklungstendenzen und Widersprüche des aktuellen chinesischen Entwicklungsmodells zu beschreiben, vermag er nicht, methodische Ansätze zu entwickeln, die auch für eine Analyse der nachholenden wirtschaftlichen Entwicklung in anderen Ländern und Weltteilen der ehemaligen Peripherie nützlich sein könnten, obwohl er diesen Anspruch eingangs erhebt: „… ich verstehe den Forschungsrahmen auch als eine Vorarbeit für weitere empirische Forschungen, die anhand des ‚Sonderfalls’ Chinas zur Entfaltung einer erweiterten Spielart der Kapitalismustheorie beitragen könnten.“ (80)

Das Buch ist keine „Weiterentwicklung moderner Kapitalismustheorie“, wie ten Brink’s Mentor Wolfgang Streeck, Direktor des Max-Planck Instituts, in einem Werbetext behauptet. Dies gelingt ihm m. E. vor allem aus zwei Gründen nicht: Erstens müsste er, um ‚Spielarten der Kapitalismustheorie’ diskutieren zu können, einen tragfähigen Kapitalismusbegriff haben, d.h. zwischen den „logischen“ Grundzügen der kapitalistischen Produktionsweise und den jeweiligen „historischen“ Erscheinungsformen unterscheiden. Das versucht der Autor zwar, vermischt aber bei der Aufzählung der fünf „Triebkräfte und Grundkomponenten“ des Kapitalismus die Analyseebenen: „Akkumulationszwang“ und „Konkurrenz“ zählen zu den allgemeinen Merkmalen der kapitalistischen Produktionsweise, „strukturell unterschiedliche strategische Handlungskapazitäten der Akteure“ kennzeichnen aber alle Klassengesellschaften ebenso wie „das Angewiesensein auf nichtökonomische Institutionen, unter denen der moderne Staat die herausragende Rolle einnimmt.“ (48/49) Hier werden Spezifika der kapitalistischen Produktionsweise, nämlich die Lohnarbeit und das besondere Verhältnis von Staat und Wirtschaft im Kapitalismus unter akademisch klingenden Gemeinplätzen begraben. Noch unklarer ist die o. e. fünfte „Grundkomponente“, nämlich „das Potenzial, nicht- und vorkapitalistische Strukturen in sich aufzunehmen und umzugestalten“. Auch das gilt für alle ‚ökonomische Gesellschaftsformationen’, um mit Marx zu sprechen, und nicht nur für den Kapitalismus.

Damit sind wir beim zweiten Grund für die methodische Unzulänglichkeit des Buches: Der Autor streut zwar gelegentlich Hinweise darauf, dass bestimmte Züge des modernen chinesischen Kapitalismus der Verflechtung mit „nicht- und vorkapitalistischen Strukturen“ geschuldet sein könnten (so der o. e. Landbesitz der Wanderarbeiter). Richtig weist er im Eingangskapitel darauf hin, dass „historisch-kulturelle Traditionen und Bedeutungsmuster … durch kapitalistische Modernisierungsprozesse überformt“ würden (50), zeigt aber (außer allgemeinen Hinweisen auf „konfuzianische Traditionen“ und die Rolle von „interpersonalen Beziehungsnetzwerken“, 64) nicht, wie sich diese Ebenen konkret verflechten. Wenn er im Abschlusskapitel darauf verweist, „dass die Kapitalismusforschung vor allem (! J.G.) an den Unterschieden der nichtökonomischen Institutionen in unterschiedlichen Ländern und Regionen ansetzen (muss), um differierende outcomes der kapitalistischen Entwicklung erklären zu können“ (335), so hat er diesen Anspruch leider nicht eingelöst – dazu wäre eine Betrachtung der ‚langen Frist’ (Braudel) der chinesischen Geschichte und eine Analyse dieser „nichtökonomischen Institutionen“ notwendig gewesen. Tobias ten Brink hat eine interessante und lesenswerte Beschreibung des modernen China geliefert, aber nicht mehr: Inwieweit die Verflechtung mit vorkapitalistischen Strukturen, die Übernahme moderner kapitalistischer Elemente durch eine traditionell geprägte, nachholende ‚sozialistische’ Ökonomie die Bewegungsweise der modernen chinesischen Gesellschaft prägt, ob die kapitalistische „Überformung“ traditioneller Strukturen etwas grundlegend Neues hervorbringt (oder nicht), kann vom Autor wegen seines unklaren Kapitalismusbegriffs und seiner unzureichenden historischen Verortung der aktuellen chinesischen Entwicklung nicht geklärt werden. Zudem hat er die einschlägigen Debatten dazu offensichtlich nicht rezipiert: In seiner Literaturliste fehlen nicht nur Autoren wie Godelier und Meillassoux, die sich unter dem Stichwort ‚Artikulation von Produktionsweisen’ intensiv mit der von ten Brink aufgeworfenen, aber nicht behandelten Frage der „Verknüpfungen moderner Formen des Wirtschaftens mit eigenständigen Traditionen“ (334) befasst haben. Es fehlt jeder Hinweis auf die (auch in China geführte) Diskussion über den Begriff der „asiatischen Produktionsweise“ und die u. a. von Eric Hobsbawm angeregte Debatte um den Marxschen Text „Formen, die der kapitalistischen Produktion vorausgehen“ aus den ‚Grundrissen’. Schließlich scheint der Autor sich auch nicht mit den für die historisch orientierte Chinaforschung unabdingbaren Arbeiten von Karl Wittvogel und Mark Elvin auseinandergesetzt zu haben.

Immerhin aber hat er die richtigen Fragen für eine entsprechende „Weiterentwicklung der Kapitalismustheorie“ gestellt. Vielleicht ist ja noch nicht aller Tage Abend.