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Domenico Losurdos Buch über Stalin-Bilder – eine Gratwanderung

von Richard Sorg
Juni 2013

Für so manchen dürfte das nun auch ins Deutsche übersetzte Stalin-Buch von Domenico Losurdo[1] eine Provokation darstellen, jedenfalls hat es sehr kontroverse Reaktionen ausgelöst.[2]

Losurdo weiß, dass er mit seinem Buch ein Minenfeld betritt. Er weiß auch, dass die mit Stalin und seiner Regierungszeit verbundenen Verbrechen zu den schwersten politisch-moralischen Hypotheken gehören, an denen insbesondere diejenigen Teile der Linken zu tragen haben, die sich in der Traditionslinie der an Marx und Engels orientierten Emanzipationsbewegung verorten und in der Oktoberrevolution den ersten Versuch sehen, unter schwierigsten Bedingungen eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Weder leugnet Losurdo diese Verbrechen noch gar legitimiert er sie; von einem Weißwaschen Stalins kann keine Rede sein. Allerdings gibt er sich mit einem moralischen Verdammungsurteil nicht zufrieden, sondern hinterfragt die Deutungen, die sich zu Bildern und ‚schwarzen Legenden’ verfestigt haben, und zeichnet deren Wandel nach, indem er sie mit den realgeschichtlichen Veränderungen in Beziehung setzt. Bei der Frage, ob oder inwieweit die Bilder mit den ‚historischen Fakten’ übereinstimmen, stützt er sich auf die Auswertung eines breiten Spektrums an Befunden und Belegen und stellt seinerseits eine Deutung der Stalin-Herrschaft zur Diskussion, die das Geschehene aus dem Gesamtkontext der damaligen Konstellationen zu begreifen versucht.

Losurdos zentrale Fragestellung ist die eines politisch engagierten Philosophen, also eine politische und eine philosophische; unter ‚philosophisch’ wird hier – im Unterschied zu einer einzelwissenschaftlichen, z.B. historiographischen oder sonst wie sozialwissenschaftlichen Fachstudie – der Versuch einer ‚Gesamtschau’ verstanden, einer das ‚Ganze’ des Gegenstands mit seinen vielfältigen Seiten in den Blick nehmenden Deutung, um daraus die Beurteilungskriterien für die untersuchten Bilder und Legenden zu gewinnen.

Wie jeder Wissenschaftler, der über seinen eigenen fachlichen ‚Kompetenzbereich’ hinaus Aussagen macht und Deutungen zur Diskussion stellt, hat auch Losurdo mit der damit verbundenen methodologischen Problematik zu tun. Sollten ihm von Fachhistorikern Irrtümer und Fehlurteile nachgewiesen werden können, so wäre dies für seine Gesamtdeutung ohne Zweifel wichtig.[3] Gleichwohl treffen solche im einzelnen möglicherweise problematischen historischen Urteile nicht den Kern des Buches. Über die zweifellos notwendige Ermittlung, Analyse und Einschätzung insbesondere umstrittener ‚Fakten’ hinaus geht es in dem Buch um eine grundlegende methodologische, letztlich geschichtsphilosophische Reflexion über die Entstehung und Bedeutung von Bildern historischen Geschehens, indem gezeigt wird, dass solche Bilder stets ein dem historischen Wandel unterliegendes Konstrukt darstellen, eine Kombination von – mehr oder weniger zutreffend ermittelten (oder auch unterschlagenen!) – ‚Fakten’ sowie von jeweils zeit-, interessen- und machtbedingten, orientierenden Deutungen. Im Umgang mit dem genannten Problem, dass um der Tragfähigkeit politisch-philosophischer Verallgemeinerungen willen auch ein Nichtfachhistoriker nicht unabhängig ist von den einzelwissenschaftlich, historiographisch erbrachten Befunden, folgt Losurdo faktisch der von Canfora (410) vorgeschlagenen Maßgabe, sich bei den Belegen möglichst auf solche Autoren zu stützen, die nicht den eigenen politischen Standpunkt teilen. Dies Verfahren bei der Auswahl seiner Belege werfen ihm manche Rezensenten als unkritischen Umgang mit Quellen vor, zu Unrecht, wie ich meine. Denn es wird in der Regel deutlich gemacht, in welchen historischen Zusammenhängen ein positives und wann und von wem ein negatives Urteil über Stalin zu hören war, z.B. wie Churchill über Stalin urteilte: ob vor Beginn des 2. Weltkrieges, ob während des Krieges als Bündnispartner der SU oder ob später im Kalten Krieg.

Komparatistik und Kontextualisierung

Zu den Kritikpunkten mancher Rezensenten gehört auch das von Losurdo verwendete Verfahren der ‚Komparatistik’ bzw. der ‚Kontextualisierung’ (15ff u.ö.). Wer aber in dem Hegel’schen Satz aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes ‚Das Wahre ist das Ganze’ eine sinnvolle methodische Leitlinie sieht, für den dürften diese Verfahren geboten sein. Denn zum Kern jeder dialektischen Analyse gehört es, ein Einzelgeschehen in seinem von diversen Gegensätzen und Widersprüchen bestimmten Gesamtzusammenhang zu betrachten. Dazu gehören bei historischen Gegenständen die Gesamtheit der realen Bedingungen und Kräfteverhältnisse, der Konzepte und Handlungen aller Akteure, anstatt nur einzelne Aspekte in den Blick zu nehmen. Der Komplex Stalin/Stalinismus ist insofern nicht angemessen zu begreifen und zu beurteilen, ohne auch die gegnerischen Kräfte inner- und außerhalb der SU zu berücksichtigen, bis hin zur Einbeziehung auch der Geschichte und der ‚(Un)Taten’ in der Verantwortung der liberalen, westlichen Staaten. Das Gesamtbild der Situation bliebe ansonsten unvollständig und unzureichend.

So vergleicht Losurdo die Sowjetunion, die er als „Entwicklungs-Diktatur“ zur Überwindung jahrhundertelanger Rückständigkeit einschätzt (197), mit dem nationalsozialistischen Deutschland als einem „Rassenstaat“ und schreibt: „Es ist unmöglich, das Dritte Reich von der Geschichte der Beziehungen zu trennen, die der Westen zu den Kolonialvölkern bzw. den Völkern kolonialen Ursprungs unterhielt“ (201), wobei diese Tradition die Niederlage Hitlers weit überlebt habe. Den gleichen Gedanken nimmt er gegen Ende wieder auf: „Es ist zu billig, die Schandtaten des Nazismus ausschließlich Hitler zur Last zu legen und dabei die Tatsache zu verdrängen, dass er die beiden zentralen Elemente seiner Ideologie der vor ihm bestehenden Welt entnommen und radikalisiert hat: Die Verherrlichung der kolonisatorischen Mission der weißen Rasse und des Westens, die jetzt dazu aufgerufen sind, ihre Herrschaft auch auf Osteuropa auszudehnen; die Deutung der Oktoberrevolution als jüdisch-bolschewistische Verschwörung, die die Revolte der Kolonialvölker angefacht und die natürliche Rangordnung der Rassen unterminiert“ habe (404f).

Ein weiteres Beispiel für die von ihm praktizierte Komparatistik: Losurdo verweist darauf, dass die üblichen Totalitarismusanalysen gewöhnlich von den Produktions- und Arbeitsstätten abstrahieren. Tue man das nicht, so würden die großen Unterschiede sichtbar: In den Arbeitsstätten der SU herrschte keine strenge Disziplin, sondern z.B. hohe Fluktuation bis hin zu einer regelrechten Anarchie, mit dementsprechenden Problemen für die Steigerung der Produktivität. Verglichen mit den Betrieben im Kapitalismus, so Losurdo (im Anschluss an eine These von Marx über das ‚umgekehrte Verhältnis’ zwischen der Autorität im Betrieb und derjenigen in der Gesellschaft bezüglich der Arbeitsteilung), sei festzustellen: „Dem Fehlen einer starren Fabrikdisziplin (mit dem Wegfall des traditionellen, mehr oder weniger ausgeprägten Despotismus des Besitzers) entsprach der vom Staat über die Zivilgesellschaft ausgeübte Terror.“ (212) Hierbei wäre zu berücksichtigen, dass der damals in der SU noch überwiegend bäuerlichen Bevölkerung eine industrielle Arbeitsdisziplin weithin fremd war. Im Kapitel über die „ursprüngliche Akkumulation“ am Schluß des 1. Bandes des Kapital hat Marx drastisch beschrieben, mit welchen brutalen Methoden im Frühkapitalismus die nötige Disziplin und Arbeitssozialisation eingebleut wurde.

Losurdo hält das Prinzip des tu quoque (383ff) und die Komparatistik für unabdingbar, wenn es um ein historisches, Einseitigkeiten vermeidendes Urteil gehe. Über Stalins „terroristische Machtausübung gibt es keinen Zweifel“, aber bei der Anwendung des Prinzips des tu quoque müsse man auch die Verbrechen des Westens kritisch in den Blick nehmen: ob die US-Bombardements im Vietnamkrieg (384), die von den USA unterstützten Massenexekutionen von hunderttausenden von Kommunisten in Indonesien nach dem Staatsstreich Suhartos von 1965, die Lynchmord-Schauspiele gegen Schwarze in den USA in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (385) oder die Errichtung brutaler Diktaturen mit Unterstützung der USA, insbesondere in Lateinamerika, aber nicht nur dort.

Zum Verhältnis von Zielen und Wegen, von ‚Utopie’ und ‚Realismus’

Mit Blick auch auf die aktuelle Relevanz des von ihm untersuchten Problemkomplexes interessiert Losurdo insbesondere die Frage nach dem Verhältnis von (theoretisch-konzeptioneller) Zielsetzung, die bestehende gesellschaftliche Realität grundlegend umzugestalten, und den Wegen der (praktisch-politischen) Realisierung unter konkret vorgefundenen Bedingungen, oder auch: das Verhältnis von ‚Utopie’ und ‚Realismus’. Die schwierige, historisch jeweils neu zu lösende Aufgabe sieht er darin, beide Momente in einer, wenn auch spannungsreichen und widerspruchsvollen Einheit zu verbinden. Diese Problematik diskutiert er vor allem unter dem Stichwort „Messianismus“ bzw. „Utopismus“. Seine kritischen Überlegungen beschränken sich dabei nicht auf die Stalinzeit, sondern gehen zurück bis zu den ‚Klassikern’; es handele sich um ein allgemeines Problem des Marxismus.[4]

Während und nach der Oktoberrevolution ging es politisch-inhaltlich u.a. um die Streitpunkte der fortdauernden Bedeutung des Geldes, des Marktes, der nationalen Frage, der Familie, der Religion, vor allem aber um die Frage des Staates und seines ‚Absterbens’. Losurdo deutet die damalige Anziehungskraft des ‚Messianismus’ so: Nicht zuletzt nach dem Grauen des 1. Weltkriegs war das Bestreben nach dem „radikalen Bruch“ verständlich und hat die vorhandene Tendenz bestärkt, „die utopischen Motive des Marxschen Denkens zu radikalisieren“ (134); daher konnten die realistischeren Versuche leicht als Verrat am Sozialismus verstanden werden. Er kritisiert den „abstrakten Universalismus“ (138), dem die konkrete Vermittlung des Allgemeinen mit dem Besonderen fehlte. Hier wirke eine „objektive Dialektik. Auf der Woge des Kampfs gegen die Ungleichheiten, ... neigen die radikalsten Revolutionen dazu, eine starke, verherrlichende ... Anschauung der Grundsätze der Gleichheit und der Allgemeinheit zum Ausdruck zu bringen.“ (139) Aber: Unter den schwierigen Bedingungen und Anforderungen, nach dem Umsturz der alten Verhältnisse nun eine neue Ordnung aufzubauen, sei die Grenze „zwischen konkreter Utopie (ein gewiss ferner Horizont, der aber dennoch den wirklichen Umwandlungsprozess orientiert und anregt) und abstrakter und irreführender Utopie (letztlich gleichbedeutend mit Ausflucht aus der Wirklichkeit) tendenziell recht labil.“ (140) Losurdo verweist hier auf Hegel und dessen Einschätzung der Rolle des Terrors in der französischen Revolution (vgl. die entsprechenden Passagen in der bereits erwähnten Phänomenologie des Geistes).

Nach dem Umsturz auch regieren zu können, bedeute, „in der Lage [zu] sein, den Idealen der Allgemeinheit, die die Revolution geleitet hatten, einen konkreten Inhalt zu verleihen“ (149). Angesichts der dazu erforderlichen tiefgreifenden Veränderungs- und Lernprozesse unter den real vorgefundenen Bedingungen kommt es fast immer zu Enttäuschungen bei der Erfahrung mit der Einlösung der utopischen Ziele. Der größte Fehler des Staatsmanns Stalin war, so Losurdo, den dafür erforderlichen Lernprozess „unvollendet, ja sogar stark unvollendet gelassen zu haben.“ Auch auf anderen Gebieten kämpfte Stalin gegen die abstrakte Utopie und blieb dann auf halbem Wege stehen, etwa in der Frage der Geldwirtschaft und Warenproduktion. (151) Kurz: Stalin habe den Lernprozess vorschnell abgebrochen. (152)

Losurdos Resümee der Stalinzeit

Losurdo konstatiert das Ineinander von „drei Bürgerkriegen“ (113ff), die nicht immer leicht zu unterscheiden seien; sie konnten Ausdruck der Konterrevolution oder einer neuen (trotzkistischen) Revolution sein, und dies vor dem Hintergrund der drohenden neuen Kriegsgefahr. Dem verwickelten und tragischen Ganzen dieser Konstellation werde weder das Bild gerecht, das Trotzki zeichnete, noch das von Chruschtschow in seiner Geheimrede. Der ‚Stalinismus’ sei „in erster Linie das Resultat ... des permanenten Ausnahmezustands, in dem Russland seit 1914 lebt.“ (154) Nach der „Zwangskollektivierung der Landwirtschaft mit ihren furchtbaren sozialen und menschlichen Opfern scheint es erneut zu einer Politik der Öffnung zu kommen“ (163f). „Auf den Großen Terror und die furchtbare Säuberung, die er mit sich bringt, folgt der Große Vaterländische Krieg.“ (167) Nach dem Sieg über den Faschismus folgt ohne Atempause der Kalte Krieg, nicht zuletzt unter der neuen Drohung der von den USA in Japan eingesetzten Atomwaffen.

Seine Bilanz macht auf das Auf und Ab und auf die Ambivalenzen bei dem Gesamtprozess aufmerksam: „Für die drei Jahrzehnte der Geschichte Sowjetrusslands unter der Führung Stalins ist der grundlegende Aspekt nicht die Mündung der Parteidiktatur in die Autokratie, sondern der wiederholte Versuch, vom Ausnahmezustand zu einer Situation relativer Normalität überzugehen; diese Versuche scheiterten sowohl aus inneren ... als auch aus internationalen Gründen“ (169f), sowie der Verflechtung beider. „Mit dem Aufflammen des dritten Bürgerkriegs (innerhalb der bolschewistischen Reihen) und während sich gleichzeitig der Zweite Weltkrieg (in Asien noch vor Europa) nähert, läuft dieses mehrfache Scheitern auf den Ausbruch der Autokratie hinaus, die ein Führer ausübt, der Gegenstand eines wahren Kults wird.“ (170) Gleichzeitig ist eine Stimmung des Aufbruchs und der Begeisterung wahrzunehmen angesichts dessen, „dass das Land im Eilschritt auf die Industrialisierung zusteuerte und breiten Bevölkerungsschichten ausgedehnte Perspektiven sozialen Aufstiegs bot, gerade als die umliegende kapitalistische Welt von einer verheerenden Krise geschüttelt wurde“ (172). Die Gründe für die Begeisterung und Aufbruchstimmung sieht er in der Erhöhung des Lebensstandards, der Entwicklung der bislang ausgegrenzten Nationen, der rechtlichen Gleichstellung der Frauen, der Entstehung eines Systems der sozialen Sicherungen, der Entwicklung der Kultur und Bildung (175). Losurdo zitiert den US-amerikanischen Forscher Stephen F. Cohen der von „einer Mischung aus brutalem Zwang, denkwürdigem Heroismus, katastrophalem Wahnsinn und spektakulären Resultaten“ spricht. (175) Die Gesamtheit dieser Prozesse und Entwicklungen „erklärt das überschwängliche Gefühl, sich am Aufbau einer neuen Gesellschaft und einer neuen Kultur zu beteiligen, die trotz der Fehler, der Opfer und des Terrors vorankommen“, wobei der Terror nicht nur von Stalin ausgegangen, sondern z.T. auch ‚von unten’ unterstützt worden sei (194).

Charakteristisch in der zweiten Hälfte der 30er Jahre sei eine Mischung von realer Gefahr und von Hysterie gewesen. Der „Terror tritt in einer Zeit forcierter Industrialisierung auf, die darauf abzielt, das Land und die Nation zu retten, und in deren Verlauf der Horror der furchtbaren Repression auf breiter Ebene sich mit Prozessen realer Emanzipation verknüpft: Die massive Ausbreitung der Schulbildung und der Kultur, die erstaunliche vertikale Mobilität, das Entstehen des Sozialstaats, der ungestüme Protagonismus von Gesellschaftsklassen, die bisher zu einer totalen Unterordnung verurteilt waren." (195)

Gemäß seinem Ansatz, den jeweiligen Gesamtzusammenhang in die Beurteilung einer historischen Epoche und Bewegung einzubeziehen, verweist Losurdo auch auf einige positive Wirkungen der Stalinzeit im globalen Gesamtkontext: Während Stalins SU auf die Autokratie zugeht, beförderte sie den Kampf der Kolonialvölker sowie der Afroamerikaner gegen den Rassendespotismus. (339) Stalin habe auch direkt die Gestaltung der Demokratie im Westen beeinflusst. So verurteilte der Entwurf einer sowjetischen Verfassung von 1936 die „drei großen Diskriminierungen, die die Geschichte des liberalen Westens gekennzeichnet haben“ (341): der Klasse, der ethnisch-nationalen Herkunft und des Geschlechts (class, race, gender). Und mit dem proklamierten Recht auf Arbeit, auf Erholung, auf Bildung als Realisierung einer zaghaften Art von sozialistischer Demokratisierung erfolgt die theoretische Begründung der ‚wirtschaftlichen und sozialen Rechte’, „die Hayek zufolge das verheerende Vermächtnis der ‚russischen marxistischen Revolution’ darstellt und die Forderung des Sozialstaates im Westen tief beeinflusst“ (342).

Kritik der Kategorien bei der Analyse geschichtlicher Prozesse

In der Verdrängung der Geschichte, vor allem des Kolonialismus und des Krieges, identifiziert Losurdo „eine Konstante der Mythologie, die sich bemüht, abgesehen von Stalin, alle Führer der kommunistischen und antikolonialistischen Bewegung mehr oder weniger in Zwillingsmonster Hitlers zu verwandeln.“ (373) Die diversen Erscheinungsformen von ‚schwarzen Legenden’ folgen, so Losurdo, einer Methode, die Weltgeschichte als ‚groteske Angelegenheit von Monstern’ und von ‚Fehlbildungen’ zu deuten (397ff). Als analytische Kategorie tauge aber weder der Begriff der ‚Degeneration’ noch der des ‚Verrats’. Das gelte für den Marxismus und Kommunismus nicht weniger als für den Liberalismus oder das Christentum; immer könne man die jeweils schwärzesten Seiten als Verrat an den ursprünglichen Idealen beschreiben. „Der hier kritisierte Ansatz hat also den Nachteil, die wirkliche und profane Geschichte verschwinden zu lassen und sie durch die Geschichte einer verhängnisvollen und mysteriösen Entstellung und Verzerrung von Doktrinen zu ersetzen, welche a priori in den Himmel der Reinheit und der Heiligkeit erhoben werden.“ (401) Aber: „Die Theorie ist jedoch nie unschuldig.“ (402) Hat man erst einmal die Nicht-Unschuld der Theorie bekräftigt, „dann geht es darum, die Verantwortungsgrade zu unterscheiden.“ Das heiße: Für die Schandtaten des Kolonialismus, die sich unter ihren Augen abspielen, tragen die Exponenten der liberalen Tradition (von Tocqueville, Locke und Mill bis zu Roosevelt oder Churchill) eine viel direktere Verantwortung als sie Marx und Engels für die Schandtaten des Sowjetregimes und für den ‚Stalinismus’ zugeschrieben wird (403).

Und weiter: „Ebenso wie die Theorie kann auch die Utopie keine Unschuld für sich beanspruchen. ... Welche furchtbaren sozialen und Menschenopfer hat die Utopie eines sich selbst regelnden Marktes, also die Ablehnung eines jeglichen staatlichen Eingreifens, mit sich gebracht“? Wie viele Katastrophen hat die Utopie hervorgerufen, „die den ewigen Frieden mit der weltweiten bewaffneten Verbreitung der Demokratie realisieren will?“

Die kritisierten Ansätze, Geschichte vor allem mit Kategorien wie Verbrechen, Wahnsinn oder Verrat zu betrachten, unterschieden sich zwar, hätten aber ein gemeinsames Merkmal: die Tendenz, „die Aufmerksamkeit auf die kriminelle bzw. verräterische Natur einzelner Individuen zu konzentrieren. De facto verzichten sie darauf, die wirkliche historische Entwicklung und die historische Wirksamkeit sozialer, politischer und religiöser Bewegungen zu verstehen, die eine weltweite Anziehungskraft ausgeübt haben und deren Einfluss sich über einen recht langen Zeitraum erstreckt.“ (404)

Anders, wegen der größeren Nähe zur Gegenwart, stehe es mit den Fragen nach den Beweggründen jener, „deren Niederlage dem Triumph des ‚amerikanischen Jahrhunderts’ den Weg bereitet hat. Dies erklärt die Relevanz, die Dämonisierung und Hagiographie für die Interpretation des 20. Jahrhunderts immer noch haben, und den anhaltenden Erfolg des negativen Heldenkults.“ (406)

Fazit

Was folgt aus Losurdos Erörterungen und Überlegungen - politisch wie geschichtsphilosophisch betrachtet? Drängt es sich auf, Geschichte als ‚Schlachtbank’ zu sehen (Hegel)? Ist die Konsequenz ein Fatalismus, der sich aus einem von Menschen scheinbar unbeeinflussbaren Determinismus speist? Folgt die stumme Verzweiflung, wie sie etwa aus Georg Büchners Stück „Dantons Tod“ über den Terror im Verlauf der französischen Revolution zu sprechen scheint, die nach und nach ‚ihre eigenen Kinder frisst’? Welche Handlungsoptionen bleiben den Individuen? Welche Rolle spielt das moralische Urteil? Nach welchen Kriterien sollte das Zurechnen von Schuld erfolgen: gemäß den jeweiligen Verantwortungs- und Handlungsspielräumen? – Solche Fragen stellen sich ein nach der Lektüre des Buches und im Bewusstsein der fürchterlichen Blutspur der mit dem Komplex Stalin/Stalinismus verbundenen, unbestrittenen Verbrechen.

Viele Rezensenten, unter ihnen auch Werner Röhr, verfehlen, so meine ich, die zentrale Intention Losurdos, denn dessen Buch setzt nicht einen in die ‚Hölle’ verbannten ‚Gott’ wieder auf seinen Thron, sondern kritisiert solche ungeeigneten Kategorien prinzipiell. Die grauenhaften Verbrechen unter Stalins Verantwortung werden mitnichten geleugnet oder bagatellisiert, es geht Losurdo aber um eine historische "Kontextualisierung" als methodisches Mittel oder Verfahren zum angemesseneren Begreifen komplexer historischer Vorgänge und Ereignisse.

Freilich steht jede Art einer historischen „Kontextualisierung“ und der „Komparatistik“ immer in der Gefahr, als Relativierung von Verbrechen (miß)verstanden zu werden, eine Relativierung, die Losurdo ausdrücklich nicht vornimmt.

Losurdo zeigt (vgl. dazu auch seinen Aufsatz „Psychopathologie und Dämonologie“, in: Marxistische Blätter 1/2012, 89-103), wie bereits mit der Französischen Revolution von deren Gegnern die Revolutionäre als Psychopathen, Irre oder Monster klassifiziert wurden, ein Topos, der sich durchhält bis zur Oktoberrevolution. Er argumentiert gegen eine solche Psychopathologisierung und Dämonisierung, gegen den Versuch, historische Figuren zu rätselhaften Wesen zu erklären, deren Handeln mit rationalen Mitteln nicht mehr erklärbar zu sein scheint. So ist bekanntlich auch der Faschismus und seine Verbrechen als unerklärlicher Einbruch eines schlechthin Irrationalen und 'Bösen' dargestellt worden, hinter dem dann die realen, benennbaren ‚Steigbügelhalter’ der Nazis verschwunden sind.

Wer die Geschichte gern einfacher und übersichtlicher hätte, für den dürfte es Mühe bereiten, das Buch von Losurdo als das zu verstehen, was es ist: als den schwierigen Versuch einer Gratwanderung.

[1] Domenico Losurdo, Stalin: Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende. Mit einem Essay von Luciano Canfora. Aus dem Italienischen von Erdmute Brielmayer, Köln 2012.

[2] Neben einigen positiv-zustimmenden Besprechungen (z.B. von Andreas Wehr in der Jungen Welt vom 15.9.12. Vorabdruck aus den Marxistischen Blättern 5/2012; oder von Sabine Kebir im Freitag vom 4.10.12) gab es eine Reihe sehr kritischer Rezensionen (abgesehen von diversen Verrissen, die man im Internet lesen konnte), so z.B. von Arno Klönne in der Sozialistischen Zeitung SoZ vom Oktober 2012. Zu den heftigen Kritikern gehört auch Werner Röhr mit seiner Besprechung „Gott aus der Hölle geholt“, in: Z - Nr. 92, Dezember 2012, 200-205.

[3] So ist strittig z.B. die Frage der angemessenen Vorbereitung der SU und ihrer Führung auf den zu erwartenden Angriff Nazideutschlands 1941; nicht nur Werner Röhr, sondern auch Luciano Canfora in seinem dem Buch angefügten Essay konstatieren eine mangelnde Vorbereitung der sowjetischen Linien, während Losurdo dies anders sieht, wofür er ebenfalls Belege beibringt.

[4] Vgl. Domenico Losurdo: Hegel, Marx und die Ontologie des gesellschaftlichen Seins, in: Z 86, Juni 2011, S. 114-128, bes. S. 124ff.