Nord-Süd: Ökonomie und Politik des „New Imperialism"

Der neue Imperialismus und die globale Enteignungsökonomie

Ein Interview

September 2004

Im Frühjahr sprach Z. mit David Harvey, dessen Band „New Imperialism“[1][1] derzeit stark diskutiert wird. Das Gespräch fand am 16.03.2004 in New York statt. Die Fragen stellten Stephan Heidbrink, David Salomon und Conny Weißbach. Die Übersetzung besorgte Ingar Solty.

Z: Bitte geben Sie uns einen kurzen Überblick über ihren politischen und wissenschaftlichen Werdegang.

H.: Ich bin ausgebildeter Geograph. Diesem Themengebiet steht das Studium von Fragen städtischer Entwicklung und Umweltfragen in einem globalen Kontext sehr nahe, für das ich mich stets interessiert habe. Gegen Ende der 1960er Jahre erschien es mir wichtig, diesen Themenbereich aus einer kritischeren Perspektive zu betrachten. Das war dann auch der Punkt, an dem ich mich mit der marxistischen Theorie beschäftigte. Ich arbeitete mich intensiv in die marxistische Theorie ein und übertrug sie auf Stadt-Umwelt-Fragen. Den Marxismus und das Studium von Urbanisierungsprozessen und Umweltfragen zusammen zu bringen, gestaltete sich nicht immer leicht. Damals scherzte ich im Gespräch mit meinen Kollegen oft, daß es einfacher sei, den Marxismus in das Themengebiet, das mich interessierte, zu importieren, als mein Forschungsgebiet in den Marxismus zu integrieren. Das sind also im Großen und Ganzen die Sachen, die ich in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren als meine politische Agenda betrieb. Ich bin kein politischer Organisierer, jedoch habe ich selbstverständlich versucht, städtische soziale Bewegungen, die sich um die verschiedensten Fragestellungen rankten, zu unterstützen und ein Verständnis der sozialen Bewegungen in meine Arbeiten zu integrieren.

Z.: Können Sie uns einige Beispiele für solche städtischen sozialen Bewegungen nennen?

Nun, zum Beispiel gab es zur Zeit als ich in Baltimore lebte und an der Johns Hopkins University lehrte eine sehr energische „living-wage“-Kampagne mit dem Ziel, den amerikanischen Mindestlohn zu transformieren – der „living wage“ unterscheidet sich vom „minimum wage“ – und wichtige Institutionen wie die Stadt und letzten Endes meine eigene Universität dazu zu bringen, einer „living-wage“-Konfiguration zuzustimmen. Der Kampf für dieses Ziel erstreckte sich über mehrere Jahre. Die Kampagne hatte schließlich einen bescheidenen Erfolg. Es war aber die erste Kampagne dieser Art in den Vereinigten Staaten überhaupt. Sie wurde in anderen Städten fortgesetzt. Es gibt mittlerweile viele, die den „living wage“ heute gesetzlich verankert haben. Das ist eines der politischen Projekte, an dem ich mich beteiligte. Die ganzen 1990er Jahre hindurch steckte ich sehr viel Arbeit in diese „Living-wage“-Angelegenheit.

Z.: Was sind die Projekte, an denen sie gegenwärtig arbeiten?

H.: Bush aus seinem Amt zu verjagen, Amerika aus dem Irak rauszuholen. Spezifische politische Projekte hingegen habe ich momentan nicht. In meiner Zeit in Baltimore beschäftigte ich mich intensivst mit diesen Lokalprojekten. Mittlerweile jedoch, ich denke, seitdem ich in New York wohne, habe ich mich weitaus stärker ideologischen Auseinandersetzungen gewidmet. Seit etwa zwei oder drei Jahren versuche ich etwas im Verhältnis zu den US-ameri­kanischen Medien in Bewegung zu setzen, ein öffentliches Bewußtsein auf allen Ebenen zu schaffen. Das schließt den – allerdings bis dato nicht besonders erfolgreichen – Versuch ein, in die Mainstream-Medien einzudringen, darüber hinaus aber auch etwas zu erreichen, indem ich an verschiedenen Universitäten im ganzen Land lehre. Das sind meine Beschäftigungsfelder: Publikationen zu beeinflussen, die Präsenz einer kritischen Sphäre im amerikanischen intellektuellen Leben ins Leben zu rufen, die Frage nach dem Imperialismus, insbesondere nach dem US-amerikanischen Imperialismus, aufzuwerfen. An dieser Front kämpfe ich weiter.

Der neue Imperialismus

Z.: In ihrem im letzten Jahr veröffentlichten Buch „New Imperialism“ stellen Sie die These auf, daß der Imperialismus sein Antlitz gewechselt hat. Was ist neu am Imperialismus?

H.: Mein Anliegen war es, zwischen verschiedenen Imperialismen zu unterscheiden und zu zeigen, daß der US-amerikanische Imperialismus seit jeher eine äußerst spezifische Herangehensweise an die Welt aufgewiesen hat. Der US-Imperialismus unterscheidet sich vom europäischen Imperialismus und anderen Formen des Imperialismus. Das Buch betont die spezifisch US-amerikanische Form, so wie sie sich im letzten Jahrhundert entwickelt hat. Im nächsten Schritt wollte ich die Art und Weise thematisieren, in der sich die imperialistische Strategie der Vereinigten Staaten seit den 1970er Jahren verändert hat, um dann die Frage zu stellen: Was ist das Besondere an dem Schwenk der Vereinigten Staaten in die Richtung direkter militärischer Interventionen, wie wir sie gegenwärtig im Irak beobachten können. Bestehen diesbezüglich tatsächlich Unterschiede zu dem, was die Vereinigten Staaten in Haiti oder im Libanon gemacht haben usw.? Die Vereinigten Staaten haben die Marines schon häufig in andere Weltregionen geschickt, aber besteht im Zusammenhang mit einem Einsatz wie im Irak hinsichtlich der bevorzugten Strategie ein Unterschied, bei dem es sich um eine permanente Militärpräsenz der Vereinigten Staaten im Mittleren Osten handeln könnte? Und wenn das stimmt: Warum sind die USA dort? Außerdem wollte ich eine Unterscheidung machen zwischen dem, was ich den neoliberalen Imperialismus nenne, und dem, wie ich ihn nenne, neokonservativen Imperialismus, in dessen Richtung sich der US-Imperialismus verschoben hat. Ich weiß nicht, ob dieses neokonservative Experiment eine Zukunftsaussicht hat. Andererseits wird es sich, selbst wenn Bush aus seinem Amt vertrieben wird, für jede Nachfolgerregierung schwierig gestalten, den im Mittleren Osten eingeschlagenen Pfad ohne eine wirkliche, radikale Transformation im Denken zu verändern. Kurzum, mein Ziel war es, einerseits die spezifischen Merkmale des US-Imperialismus herauszuarbeiten und andererseits Verschiebungen im Kontext der imperialistischen Taktiken der Vereinigten Staaten in den letzten 30 Jahren in den Blickwinkel zu bekommen.

Z.: Könnten Sie die Verschiebung vom neoliberalen zum neokonservativen Imperialismus noch einmal genauer erläutern?

H.: Historisch basierte der US-Imperialismus ganz simpel auf dem Konzept der indirekten Kontrolle durch Kompradorenregierungen. Das zeigte sich am deutlichsten in den 20er und 30er Jahren in Nicaragua, als man auf die Idee kam, Somoza dort an die Macht zu bringen. Er tut, was du willst, und gleichzeitig bietest du ihm finanzielle Unterstützung und gewährst ihm Militärhilfen. Er kann dabei persönlich reich werden und auch diejenigen, die ihn umgeben, werden reich. Er plündert sein eigenes Land, während er zur gleichen Zeit nicht verhindert, daß US-Konzerne das Land ebenfalls ausbeuten. In diesem Sinne verfahren die Vereinigten Staaten mit einer Mischung aus Zwang und einem Konsens mit irgendeiner herrschenden Gruppe. Genauso verhielten sich die Vereinigten Staaten gegenüber dem Iran, als sie damals, 1953, die iranische Regierung stürzten und dem Shah von Persien auf den Thron halfen. Die gleiche Vorgehensweise finden wir bezüglich des Sturzes von Allende in Chile und der Einsetzung von Pinochet. Das ist die Art und Weise, wie der US-Imperialismus funktioniert, das ganz allgemeine Modell.

Das neoliberale Modell hingegen entfaltete sich nach 1970. Tatsächlich experimentierte man bereits in Chile damit. Nachdem Pinochet an die Macht gebracht worden war, ergaben sich die verschiedensten Fragen, welches ökonomische Modell man anbringen sollte. Schließlich entschied man sich für die totale Privatisierung von wirklich allem nur Erdenklichen. Man brachte Wirtschaftswissenschaftler von der University of Chicago ins Land, die später als die sogenannten Chicago Boys bekannt wurden, und beauftragte sie mit der Umstrukturierung der Wirtschaft. Bei dem neu installierten System handelte es sich um ein Freihandelsmodell, und zwar eines, das wesentlich über finanzielle Mittel kontrolliert werden sollte.

Die Vereinigten Staaten bedienten sich bei der Ausbreitung der neoliberalen Agenda rund um den Globus insbesondere im Verlauf der 80er und 90er Jahre der Macht des Finanzkapitals, um bestimmte Länder zu kontrollieren. Das Ziel war es, daß diese Länder offene Kapitalmärkte, offene Warenmärkte, keine Schranken für ausländische Investitionen und keine Schranken für den Transfer der Profite zurück in die USA aufweisen sollten. Dies zu erreichen, verließ man sich auf die Macht der Finanzen: Zur Durchsetzung des neoliberalen Freihandelsmodells überall auf der Welt bediente man sich vor allem Mechanismen wie den Strukturanpassungsprogrammen des IWF, internationaler Institutionen wie der WTO und bilateraler Handelsabkommen wie der NAFTA. Im Kern involvierte man die Welt in eine kreditbasierte Expansion. Immer dann, wenn die Dinge schlecht liefen, so wie sie es in Mexiko in den 1980er Jahren und dann noch einmal in den 1990er Jahren taten, so wie es in Brasilien passierte und wie es sich schließlich auch in Südostasien ereignete, wenn Länder also in Finanzschwierigkeiten gerieten, dann waren diese gezwungen, sich an den IWF zu wenden, der dann darauf reagierte, indem er die Parole ausgab: „Privatisieren! Soziale Leistungen kürzen! Öffnung der Kapitalmärkte!“ Das ist der Kern der neoliberalen Strategie: „Die Welt dem Handel auf genau diese Weise öffnen!“

Bei all diesen Herangehensweisen genossen die Vereinigten Staaten selbstverständlich eine gewisse Unterstützung durch das Finanzkapital in Japan und in Europa. D.h., das Projekt war kein exklusiv amerikanisches, sondern ein multilaterales Projekt von Seiten der zentralen kapitalistischen Mächte. Ich bin der Auffassung, daß dieses neoliberale Projekt die Vereinigten Staaten zu einem stillschweigenden Einverständnis mit den Europäern und den Japanern brachte, daß man die Welt genau nach diesem Muster institutioneller Arrangements zu ordnen habe. Gleichzeitig versuchten die Vereinigten Staaten ihre Privilegien dadurch zu wahren, daß sie ihre engen Beziehungen mit den herrschenden Regimen in Chile, Nicaragua oder Saudi-Arabien beibehielten. Im Verlauf der 80er und 90er Jahre vermischten die Vereinigten Staaten ihre traditionelle Politik indirekter Kontrolle mit einer auf die Finanzebene gestützten Politik.

Dieses System begann gegen Ende der 1990er Jahre langsam zusammenzubrechen. Was allen Beobachtern im Kontext der neokonservativen Wende, die sich im Zuge der Bush-Administration zugetragen hat, auffiel, ist, daß die neue Regierung auf den Neoliberalismus nicht verzichtet. Sie behält das neoliberale Argument an gleicher Stelle bei. Nur setzt sie die neoliberale Ordnung wesentlich stärker militaristisch durch. Zum Beispiel ist das Maßnahmenpaket für den Irak ein neoliberales Set institutioneller Arrangements, die mit denjenigen, die man in Chile installierte, identisch sind. Im Irak setzen sie diese Maßnahmen nun allerdings mit militärischem Zwang durch. Die Arrangements, die sie im Irak forcieren, würden sie gerne auf den ganzen Mittleren Osten ausdehnen. Tatsächlich sprach man, als man in den Irak einmarschierte, in den USA davon, daß man danach in den Iran gehen, dann Syrien „befreien“ und in der gesamten Region die neoliberale Ordnung errichten würde. Ich denke, das war die Vision, die man hatte. Selbstverständlich war das mit der Vorstellung verbunden, daß man der ganzen Region die Freiheit bringen würde, und ich denke, daß einige der Neokonservativen sogar fest von diesem Glauben überzeugt sind. Für sie ist die einzig denkbare Form der Freiheit die Freiheit des Marktes, der Marktinstitutionen und des Handels. Für sie sind alle diese Dinge Bestandteile ein und desselben Pakets. Wenn Bush also sagt: „Wir haben dem irakischen Volk die Freiheit gebracht, und unsere Vorstellung ist, dem gesamten Mittleren Osten die Freiheit zu bringen“, dann geht es um die Einführung der Freiheit des Handels und der Kapitalmärkte.

In diesem besonderen Fall handelt es sich nun sowohl aufgrund ihrer geopolitischen Bedeutung und der Wichtigkeit des Öls um eine entscheidende Region. Das neokonservative Projekt begreift momentan, daß es Grenzen gibt, wie weit man dieses Freiheitsargument in Regionen wie den Mittleren Osten drücken kann. Das liegt zum Teil daran, daß Ölstaaten nicht in Finanzkrisen geraten. Sie sind diesbezüglich anders als z.B. Mexiko – ein Land, das über Ölvorkommen verfügt, aber kein Ölstaat ist. Die Staaten im Mittleren Osten können folglich nicht über den IWF diszipliniert werden. Ölstaaten verfügen gegenüber dem Westen über finanzielle Macht genauso wie der Westen ihnen gegenüber über finanzielle Macht verfügt. Die Strategie besteht also darin, daß man – wenn nötig – versucht , die Ölstaaten mit (militärischer) Gewalt in die neoliberale Weltordnung zu zwingen.

Akkumulation durch Enteignung

Z.: Sie sagen in ihrem Buch, der neue Imperialismus sei geprägt von einem Akkumulationsprinzip, das Sie „accumulation by disposession“ nennen. Was genau verstehen sie unter „Akkumulation durch Enteignung“?

H.: Ein Teil des Neoliberalismus besteht aus forcierter Privatisierung: Nicht nur die Kapitalmärkte werden geöffnet, sondern alles, was einst Teil der öffentlichen Sphäre war, muß für die private Akkumulation erreichbar werden. Eine der wichtigsten Bedingungen, die die Vereinigten Staaten und die anderen kapitalistischen Mächte an den Erhalt von Finanzhilfen durch den IWF oder allgemeine Finanzhilfen knüpfte, bestand darin, daß die Länder sich zu Privatisierungen bereit erklärten, während sie gleichzeitig Aufforderungen nachzukommen hatten, bestimmte Bereiche des Wohlfahrtsstaates abzubauen und alle Schranken für freie und flexible Arbeitsmärkte aus dem Weg zu räumen. Im Endeffekt haben wir es hier mit einer neuen Runde der „Einkreisung der Allgemeingüter“ zu tun. Rechte, die einstmals gemeinschaftliche Eigentumsrechte waren, wurden in private Verantwortungen und private Verfügungsrechte transformiert. Vieles von diesen Maßnahmen bedeutete nichts anderes, als daß man Bevölkerungen ihre Gemeinschaftsgüter raubte, und daß man sie von einigen der ökonomischen Ressourcen, über die sie einmal verfügten, trennte und diese der privaten Öffentlichkeit zum Verkauf anbot. Was man über das Kreditsystem häufig tat, war, daß man vollkommen funktionsfähigen ökonomischen Aktivitäten die Kredite verwehrte und sie so in den Ruin trieb; und wenn dann die Firmen ihre Werte zu einem sehr geringen Preis losschlagen mußten, konnte das Großkapital Einzug halten und diese für so gut wie kein Geld aufkaufen. Diese Vorgänge ereignen sich im Übrigen nicht nur in der Peripherie. Wir finden sie auch in den Vereinigten Staaten, wenn wir uns z.B. anschauen, was aus den Familienbetrieben im US-amerikanischen Agrarsektor geworden ist. Familienbetriebe wurden enteignet, indem sie in das Kreditsystem hineingesogen wurden. Plötzlich flossen keine Kreditmittel mehr. Die Farmer waren nicht mehr in der Lage, ihre Rechnungen zu bezahlen und gingen bankrott. Dann konnten industrielle, agrarische Großunternehmen, das so genannte Agribusiness, auf den Plan treten und alle Familienbetriebe aufkaufen. In den letzten 30 bis 40 Jahren hat sich im Agrarsektor der Vereinigten Staaten eine gewaltige Veränderung zugetragen, weg von einer vorwiegend auf Familienbetrieben aufbauenden Landwirtschaft zum Agribusiness. Diese Phänomene sind auch analog zu dem, was den mexikanischen Bauern passiert ist, die über ein auf Gemeinschaftseigentum basierendes Agrarsystem verfügten, das als das „Ejido-System“ bekannt geworden ist: ein System, das die indigene Bevölkerung durch Kollektivrechte am Land absicherte. Ein Resultat der beiden Finanzkrisen, in die Mexiko hineingeriet, war, daß sich die Regierung bereit erklären mußte, dieses System zu privatisieren. Mit anderen Worten: Man raubte den Menschen ihre traditionellen Rechte, weshalb man selbstverständlich Revolten provozierte. Wenn wir uns den Aufstand der Zapatisten in Südmexiko anschauen, dann sehen wir, daß es sehr stark um die Wiederaneignung kollektiver Rechte geht: Dieser Prozeß, den ich „Akkumulation durch Enteignung“ nenne, war in den 80ern und 90ern ein bedeutendes Phänomen.

Vielleicht noch eine ganz allgemeine Anmerkung: Ich möchte eine Trennung vornehmen zwischen der Form der Akkumulation, die durch das, was wir „erweiterte Reproduktion“ nennen, ermöglicht wird (durch die Entwicklung des Arbeitsprozesses und die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft in der Produktion), und einer Form der Akkumulation, die auf Diebstahl, Betrug und Enteignung basiert. Rosa Luxemburg hat stets darauf bestanden, daß diese beiden Aspekte der Akkumulation zusammengehalten werden. Wir allerdings sind dieser Anweisung nicht wirklich gefolgt.

Die Akkumulation durch Enteignung wurde insbesondere in der neoliberalen Epoche immer stärker, während die Bedeutung der Akkumulation über die erweiterte Reproduktion sehr abnahm. Die Akkumulation durch Enteignung verschiebt Werte und Wachstum in der räumlichen Dimension. Z. B. entwickelten sich die Vereinigten Staaten in den 1980er und 1990er Jahren zu einem sehr starken Wachstumszentrum. Das resultierte weitgehend daraus, daß man über die Schuldenkrisen und andere Dinge, die sich anderswo abspielten, Material, Ressourcen und Werte aus dem Rest der Welt ansog. Statt einer Schaffung neuer Werte fand eher eine Umverteilung von Reichtum und Werten statt. Die neoliberale Ordnung (und mit ihr der neoliberale Imperialismus) basierten zu einem großen Teil auf Akkumulation durch Enteignung. In dem davorliegenden Zeitraum, in den 50ern und 60ern, hatten wir es hingegen weitaus stärker mit einer dynamischen, erweiterten Reproduktion zu tun.

Z.: Gibt es einen Unterschied zwischen (den im Deutschen nicht unterschiedenen Begriffen) „dispossession” und „expropriation”?

„Expropriation“ scheint mir ein juristischer Begriff zu sein: Bei der „expropriation“ spielt der Staat eine sehr wichtige Rolle, und tatsächlich hat der neoliberale Staat eine wichtige Rolle bei der Vertreibung der Menschen von ihrem Land etc. gespielt. „Dispossession“ ist ein breiterer Prozeß, in dem die „expropriation“ einen Teil darstellt. „Dispossession“ vollzieht sich über Dinge wie den spezifischen Mechanismus des Kreditwesens. Menschen gehen einfach bankrott, sie werden „enteignet“ (expropriated), allerdings nicht durch einen Staat, der die Menschen von ihrem eigenen Land vertreibt etc. Es erscheint vielmehr als ihr eigenes Verschulden.

Der Unterschied zwischen „expropriation“ und „dispossession“ liegt im monetären Prozeß (als einem Teil des Marktprozesses), wenn Menschen über die marktförmige Macht der Finanzen von ihren Werten und Reichtümern getrennt werden. Im Übrigen würde ich dies auch vom Konzept der Ausbeutung in Prozessen lebendiger Arbeit unterscheiden, d.h. der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, die Wiederherstellung des eingesetzten Kapitals und die Realisierung des Mehrwerts.

Der imperiale Staat

Z.: Mitunter entsteht der Eindruck, daß „Akkumulation durch Enteignung“ nur als Moment der – wie sie es nennen – Kapitallogik auftritt. Wo bleibt da der Staat, insbesondere der imperiale Staat?

H.: Ich mache einen Unterschied zwischen dem, was ich eine territoriale Logik der Macht nenne, und einer kapitalistischen Logik der Macht. Beide lassen sich nicht voneinander ableiten, was allerdings wiederum keineswegs heißt, daß sie autonom voneinander existieren. Stattdessen besteht eine sehr enge Verflechtung zwischen ihnen. Wenn Sie nach der Funktion des kapitalistischen Staates fragen, dann antworte ich, daß die natürlich darin besteht, eine Umgebung zu schaffen, in der Akkumulation stattfinden kann. Darüber hinaus versucht der Staat, wenn er an souveräner Macht interessiert ist (und das ist er), in seinem Innern und in seinem Äußeren eine Umgebung zu schaffen, die dafür sorgt, daß Kapitalakkumulationsprozesse eher auf dem eigenen Territorium stattfinden als auf dem Territorium eines anderen Staates. Mit anderen Worten: Als Staat stehst du in einem permanenten Wettbewerb um die Anlockung von Kapitalakkumulation. Zur gleichen Zeit versuchst du, dir die äußere Welt so zu strukturieren, daß Ressourcen in deine partikulare Sphäre transferiert werden. Das funktioniert zum Beispiel folgendermaßen: Der US-amerikanische Staat hat ein großes Interesse daran sicherzustellen, daß außerhalb der Vereinigten Staaten neoliberale Staaten entstehen, weil er dann in der Lage ist, seine finanzielle Macht dafür zu benutzen, in diese Staaten hineinzustoßen und Ressourcen über Prozesse der Akkumulation durch Enteignung abzusaugen.

Aber wie schafft er sich neoliberale Staaten auf fremden Territorien? Wir sehen, wie er es in Chile mit Gewalt durchgesetzt hat, genauso wie er es gerade im Irak tut. Aber wie gelang es ihm in Mexiko? Man marschierte nicht in Mexiko ein. Stattdessen sagte man Mexiko: „Wenn wir gute Handelsbeziehungen haben, dann leihen wir euch Geld.“ Mexiko geriet in der Folge schließlich in eine Schuldenkrise, woraufhin die Vereinigten Staaten sagten: „Der IWF und die Vereinigten Staaten werden euch Geld leihen, damit ihr aus der Schuldenkrise kommt. Allerdings nur unter der Bedingung, daß ihr eine institutionelle Reform eures Staatsapparates vornehmt etc.!“ Der mexikanische Staat begann daraufhin, Bauern ihre Landrechte zu enteignen; und wer kaufte die freigesetzten Ressourcen auf? Das Agrobusiness aus den Vereinigten Staaten!

So funktioniert das. Die Wirtschaft arbeitet mit dem Staatsapparat Hand in Hand, um eine Situation zu schaffen, die es dem privaten Kapital erlaubt, enteignete Güter zu kaufen etc.; und wenn es Widerstand gegen diese Maßnahmen gibt, dann sagt Washington zu Mexiko: „Unterdrückt die Bauernbewegungen! Verhindert jeglichen politischen Aufstand!“ Beispielsweise riet die Citibank der mexikanischen Regierung, Panzer und Militär einzusetzen, um die Zapatisten-Bewegung im Keim zu ersticken. Ansonsten würde Mexiko kein Investment von ihr bekommen. So kann man auch an diesem Beispiel eine enge Verflechtung von Kapital und Staat beobachten.

Das transatlantische Verhältnis

Z.: Wie sind die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zu bewerten? Sehen Sie ein gespanntes Verhältnis?

H.: Ich denke, es ist wichtig, sich genauer mit den Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen zu beschäftigen. Sehr deutlich wurde das im Rahmen von Cancún, wo Europa, die Vereinigten Staaten und Japan gemeinsam darauf bestanden, daß alle Länder rund um die Welt ihre Kapitalmärkte öffnen. Dagegen näherten sich Indien, Brasilien, China, Südafrika und andere Länder einander an und sagten: „Wir werden das nicht machen, sofern ihr nicht eure Agrarmärkte öffnet!“ Wessen Agrarmärkte sind denn geschützt? Die Europäischen, der US-Amerikanische und der Japanische. Und alle drei Blöcke antworteten: „Nein, wir werden unsere Agrarmärkte nicht öffnen.“ Insofern besteht diesbezüglich ein gemeinsames Interesse. Schauen sie: Im Wesentlichen sind die mächtigen Nationen bestrebt die internationalen Institutionen so zu strukturieren, daß sie ihnen Vorteile bringen. Die Europäer waren hinsichtlich der Frage nach der Öffnung der Agrarmärkte noch schlimmer als die Vereinigten Staaten. Kurzum, in bestimmten Fragen haben die großen Industrienationen ein gemeinsames Interesse. Der Neoliberalismus existiert auf der Grundlage eines gewissen Übereinkommens.

Die Differenzen liegen stärker darin, daß – wie ich den Eindruck habe – die Europäer eine ausgeprägtere Vorstellung davon haben, wie ein internationales Ordnungssystem aufgebaut werden kann, an das sich alle, sie selber eingeschlossen, halten.

Die Vereinigten Staaten hingegen glauben an den Aufbau einer Weltordnung, an die sich alle zu halten haben, während sie selbst ausgenommen sind, weil die USA ein gutes Land mit großartigen Werten sind. Die deutlichste Sprache spricht das Beispiel der Auseinandersetzungen über den Internationalen Strafgerichtshof, der Urteile über Verbrechen gegen die Menschheit fällen soll. Die Europäer sagen hierzu: „Das betrifft jeden.“ Die Vereinigten Staaten sagen: „Es sollte auf Milosevic angewandt werden, aber nicht auf Henry Kissinger, nicht auf uns.“

Was wir in der letzten Zeit beobachten konnten, ist, daß die Vereinigten Staaten Anzeichen zeigen, eine ähnliche Position in ihrem Verhältnis zur Welthandelsorganisation (WTO) einzunehmen. Die USA haben die Leitlinien der WTO über die Stahlzölle verletzt, und ich vermute, daß die Vereinigten Staaten (in absehbarer Zeit) die WTO verlassen könnten, so wie sie Kyoto und auch den ABM-Vertrag [Anti-Ballistic-Missile von 1972; AdÜ] [am 13. Dezember 2001; AdÜ] verlassen haben. Ich denke, daß die Europäer der WTO eine viel größere Bedeutung beimessen als die Vereinigten Staaten. Die USA sind solange mit den Vereinbarungen einverstanden, wie sie von ihnen profitieren – und wenn man genauer hinsieht, dann wird man feststellen, daß die Vereinigten Staaten ihre Außenbeziehungen mit den übrigen Staaten der Welt über bilaterale Vereinbarungen regeln: Mit Singapur, Chile etc.

Mit anderen Worten: Ich denke, wir haben es hier mit sehr verschiedenen Weltordnungskonzepten und Vorstellungen, wie die Welt konstruiert sein soll, zu tun. Die Vereinigten Staaten sehen die Welt als eine hierarchische: „Wir sind hier, Japan und Europa sind geringfügig unter uns, der Rest der Welt liegt darunter.“ Die Europäer wollen die Welt eher wie folgt sehen: „Wir befinden uns aller auf der gleichen Höhe. Wir sollten alle zusammen sein und kooperieren.“ Und tatsächlich entsprach die Perspektive in den Clinton-Jahren stärker dieser zweiten Auffassung. Was Bush getan hat, ist, daß er gesagt hat: „Nein, so kann es nicht sein! Wir sind über den andern und jenseits von ihnen!“ Der Unterschied ist ein philosophischer. Man könnte beinahe sagen, es ist eine philosophische Haltung, die insbesondere im Rahmen der Bush-Administration ausgebrochen ist. Die Clinton-Administration war imperialistisch, jedoch war sie mehr darauf bedacht, eine mit Europa und Japan ausgehandelte imperialistische Position in der Welt einzunehmen.

Der andere Unterschied ist geopolitischer Natur. Die Vereinigten Staaten verstehen den Mittleren Osten als eine entscheidende geopolitische Region, deren Kontrolle sie niemandem anders überlassen werden. Das ist die zentrale Drehscheibe (pinion) der amerikanischen Macht in der Welt. Lange Zeit war es so, daß die Vereinigten Staaten über eine totale Macht im Bereich der Produktion und der Finanzen verfügten. Mittlerweile sind sie, was die Produktions- und die Finanzdimension anbelangt, nur noch eine Macht unter vielen anderen. Man verfügt in diesen Bereichen über keine dominierende Position mehr. Aus diesem Grund ist die Ausübung von militärischer Dominanz über den Mittleren Osten als eine Trumpfkarte gegen jeden zu verstehen, der versucht, die Vereinigten Staaten in irgendeiner Weise ernsthaft herauszufordern.

Widersprüche des neuen Imperialismus

Z.: Was sind die besonderen Widersprüche des Neuen Imperialismus?

H.: Das hängt sehr stark davon ab, wie man die heutige Situation bewertet. Meine eigene Einschätzung ist die, daß die Vereinigten Staaten im Moment weitaus schwächer sind, als viele Menschen üblicherweise glauben. Die USA dominieren keinesfalls mehr auf der Ebene der Produktion. Ihre Vorherrschaft auf der Finanzebene benutzten sie in den 1980er und neunziger Jahren, um sich gewaltige Vorteile zu verschaffen. Aber mittlerweile haben sich die USA in eine unglaubliche Verschuldungsposition gegenüber dem Rest der Welt gebracht. Sie haben einen Großteil dieses finanziellen Vorteils verloren, denn heute bedarf es eines Kapitalzuflusses von täglich 1,5 Milliarden US-Dollar, damit die US-Wirtschaft aufrecht erhalten werden kann. Nahezu die gesamte Summe stammt aus Ost- und Südostasien, wobei gegenwärtig Japan und China diesbezüglich die mächtigsten Positionen einnehmen. Den Vereinigten Staaten bleibt nur noch eine Form der Dominanz, die sie – in der Vergangenheit – außerhalb von Extremsituationen zögerte einzusetzen: Das ist militärische Dominanz.

Was wir momentan im Irak beobachten können, sind die Schwächen militärischer Macht. Aus 10.000 Metern Höhe und mit Hochtechnologie ausgerüstet scheint diese Schwäche keine Schwäche zu sein. Die Vereinigten Staaten verfügen über ein immenses Potential an Destruktivkräften, niemand ist in einer Position (oder hat große Aussicht, kurzfristig in eine solche Position zu kommen), von der aus er die Vereinigten Staaten hinsichtlich ihrer technologischen, militärischen Überlegenheit herausfordern könnte. Tatsächlich versucht das auch niemand. Vielleicht tun das die Chinesen in geringem Maße, aber wirklich nur sehr wenig. Wenn es aber um die Frage der Bodentruppen geht, Besatzungstruppen im Inland, dann verfügen die Vereinigten Staaten im Irak bereits zum heutigen Zeitpunkt über nicht ausreichende militärische Kapazitäten im Sinne der Zahlenstärke der Soldaten. Man hat keine militärische Macht, die noch länger als weitere sechs Monate im Irak bleiben könnte, und gerade aus diesem Grund fliegt man nun herum und sagt: „Wir brauchen [zum Beispiel] Leute aus Polen“, und man zahlt diesen Polen tatsächlich Geld dafür, daß sie vor Ort sind. Mit anderen Worten: Selbst vom militärischen Gesichtspunkt und von der Besatzung eines großen Territoriums über eine langen Zeitraum hinweg aus gesehen, sind die Amerikaner nicht mächtig. Die Vereinigten Staaten sind nicht so dominant, wie manche Menschen glauben. Auf der anderen Seite: Niemand anders ist in einer Position, die USA aus ihrer militärische Überlegenheit in der Luft und in der Technologie etc. herauszudrängen.

Wir haben es mit einer schwierigen Situation zu tun, und die Schwierigkeit ist sogar noch weitreichender. Denn, wenn man fragt: „Wieviel kostet dieser Krieg und dieses ganze Militärzeugs die Vereinigten Staaten?“, dann ist die Antwort: „Es kostet sie verdammt viel!“ Und wer bezahlt das? Die Chinesen und die Japaner finanzieren es. Hier hat man nun eines der Paradoxe dieser Situation. Die Vereinigten Staaten verschulden sich aufgrund dieser Aktivitäten, in die sie verwickelt sind, immer weiter. Die Verschuldung im Inland wächst mit den Schulden der Privathaushalte und den Staatsschulden auf unglaubliche Höhen an.

D.h., wir haben es mit einer potentiellen Schuldenkrise in den Vereinigten Staaten zu tun. Das Problem besteht nun allerdings darin, daß auch der Zustand des Rests der Welt schrecklich sein wird, wenn sie ausbricht. Aus diesem Grund, denke ich, sitzt der Rest der Welt da und denkt sich: „Wir müssen die USA stützen, denn das ist die einzige Möglichkeit, wie auch wir uns am Laufen halten können.“ Das ist die Logik hinter der Tatsache, daß die Chinesen und die Japaner die US-Verschuldung weiterhin finanzieren: Die Vereinigten Staaten kaufen chinesische und japanische Produkte. Wir haben es hier also mit einer wirklich gefährlichen Situation zu tun. Sollte es in den Vereinigten Staaten zum Ausbruch einer Schuldenkrise kommen, dann wird das gewaltige globale Auswirkungen haben.

Darüber hinaus ist die andere Seite des Problems folgende: Was momentan in China passiert, steht in einem wesentlichen Zusammenhang mit dem, was momentan in der Weltwirtschaft geschieht. Sollte die chinesische Wachstumsmaschine zusammenbrechen oder instabil werden, oder sollte China in eine politische Krise geraten, so werden auch die Vereinigten Staaten ganz schön in der Klemme stecken.

Es besteht ein starkes Abhängigkeitsverhältnis zwischen den USA und China und zu einem geringeren Maße eine wechselseitige Abhängigkeit mit Europa und Japan. Ich denke, daß es wenig Chancen gibt, aus dieser Abhängigkeit auszubrechen. D.h., die sich durch das Ganze durchziehende Instabilität schimmert an allen Ecken und Enden durch. Ich denke, sie wird den US-Imperialismus in eine Krise führen, die ungefähr folgendermaßen aussehen dürfte: Sie werden sich entweder von ihrem Drang nach globaler Dominanz verabschieden müssen oder sagen: „Nun gut, die Macht der Vereinigten Staaten als globale Vorherrschaft ist an ihr Ende gekommen. Wir sind lediglich ein Spieler unter vielen, und wir müssen zu einer Art kooperativer Vision kommen, wie die Welt in Zukunft funktionieren soll. Diese Kooperationsversion muß eine sein, die ein (sich eventuell andeutendes) Bündnis zwischen, sagen wir, China, Indien und Brasilien, ja sogar Rußland einschließt. Wir werden uns nun den neuen Gegebenheiten anpassen. Wir sitzen alle in demselben Boot, und deshalb werden wir mit diesem imperialistischen Nonsens aufhören, was die US-Wirtschaft auf den Standpunkt reduzieren wird, lediglich eine Ökonomie unter anderen zu sein.“ Daß sich die Geschichte so entwickelt, ist sehr unwahrscheinlich.

Entweder gehen sie in diese Richtung oder sie geraten in eine solche Krise, daß man einen wirklich rechtsextremen Neokonservatismus bekommt, der auf der Weltbühne noch kriegslüsterner auftritt – Bush im Quadrat –, und der hochgradig militaristisch, aber auch hochgradig instabil sein wird.

Z.: Die erste Variante klingt ein wenig nach dem europäischen Modell.

H.: Das stimmt, wobei es möglicherweise nötig werden dürfte, viel stärkere Verhandlungen mit China, Indien, Brasilien und dem Rest dieser Länder zu führen, denn diese Länder beginnen mittlerweile in stärkere Beziehungen zueinander zu treten. China und Indien unterhalten außenpolitische Beziehungen, was sie eine lange, lange Zeit nicht getan haben. Lula handelte kürzlich ein bilaterales Handelsabkommen mit Indien aus. Es ist absehbar, wie sich dies entwickeln wird. Betrachten wir z. B. einen Bereich wie die pharmazeutische Industrie in Indien und Brasilien: Sie ist in der Lage, Medikamente zu einem zwanzigsten Teil der Kosten herzustellen, zu denen sie von den monopolistischen pharmazeutischen Konzernen mit geistigen Eigentumsrechten in den Vereinigten Staaten und Europa angeboten werden. Das heißt, entweder geht alles in eine Richtung, in der man Indien und Brasilien dazu zwingt, auf ihre Kapazitäten, mit denen sie diese Medikamente mit diesen sehr, sehr niedrigen Kosten produzieren, zu verzichten (und das ist, was man mit dem TRIPS-Abkommen zu erreichen sucht), oder Brasilien und Indien werden sagen: „Nein, das werden wir nicht machen!“ Und ich denke, das ist, was sich langsam anbahnt. An einem solchen Punkt wird es heftigste Auseinandersetzungen geben, und zwar nicht im klassischen Sinne, d.h. mit einem Süden, der nur Rohstoffe produziert, denn diese Länder produzieren nicht länger nur Rohstoffe. Sie produzieren pharmazeutische Produkte, Flugzeuge, Maschinen etc. Sie stellen ein alternatives Modell einer Produktionsmaschine dar, und sie sind sich dessen mittlerweile bewußt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie sehr angestrengt versuchen werden, diese ihre Position noch auszubauen; und hiermit werden sie in den nächsten zehn Jahren ein gewaltiges Problem für den Norden und dessen imperialistische Praktiken schaffen.

Eine antiimperialistische Strategie?

Z.: Gibt es Alternativen? Wie sollte eine antiimperialistische Strategie aussehen?

H.: Als erstes muß man die Frage stellen, wer denn gegen den Neoliberalismus ist. Das ist ein großer Teil der ganzen Welt: Menschen, denen durch die neoliberale Politik Leid angetan wurde, die (über den Markt und/oder staatlich) enteignet wurden, die in den Ruin getrieben wurden und so weiter und so fort. Darüber hinaus hat man natürlich noch diesen großen Bereich, in dem Ausbeutung weiterhin stattfindet, so zum Beispiel in Arbeitsprozessen in Ost- und Südostasien. D.h., es gibt einen riesigen Bereich an Leuten, die das bestehende System nicht mögen und ihm entgegenstehen. Viele von ihnen haben soziale Bewegungen ins Leben gerufen. Dazu zählen die Bauernbewegungen in Indien, die Landlosen- und Bauernbewegungen in Brasilien, die Zapatisten-Bewegung in Mexiko, die momentan in Indonesien sich entfaltende Gewerkschaftsbewegung und die Formen von Bewegungen für Arbeiterrechte, die in manchen Teilen der Welt, selbst in China, mehr und mehr entstehen. Mit anderen Worten: Man hat es mit großen Bereichen zu tun, in denen politische Bewegungen existieren. Mir scheint, daß wir uns inmitten dieser politischen Bewegungen langsam Gedanken über eine alternative Weltordnung machen müssen.

Die Schwierigkeiten dabei sind, erstens, daß viele dieser sozialen Bewegungen Gruppen mit partikularen Zielen sind. Deshalb gestaltet es sich als sehr schwierig, diese Bewegungen zusammen zu bringen, weil sie fragmentiert und hochgradig differenziert sind. Das zweite Probleme besteht darin, daß, selbst wenn man anfängt, diese Gruppen zusammen zu bringen, radikal unterschiedliche Konzeptionen aufeinander treffen werden, die sich in den Vorstellungen unterscheiden, was für eine Art Alternative denn anzustreben sei. Nur um einmal ein paar Beispiel zu nennen: Auf der einen Seite gibt es viele Menschen, die momentan dafür plädieren, daß alle Lösungen lokale Lösungen sein sollten und die Weltordnung verschwinden kann. Dann gibt es wiederum andere Leute, die sagen: „Nein, wir sollten uns über eine alternative globale Ordnung von oben her Gedanken machen, lokale Lösungen sollten in eine Konzeption einer wie auch immer gearteten Weltordnung eingebettet sein.“ Dann gibt es z.B. radikal unterschiedliche Ansätze in Bezug auf Umweltfragen: Inwiefern sollte es in einer neuen globalen Ordnung um eine Beziehung zur Natur gehen, die Priorität gegenüber allen anderen Fragen hat? Oder bis zu welchem Grad sollte es um alternative Entwicklungsmodelle gehen, in denen das Verhältnis zur Umwelt eine eher untergeordnete Bedeutung hat etc.? Wir haben es hier mit einem breiten Spektrum zu tun, das von tiefökologischen Perspektiven bis zu jenen Entwicklungsperspektiven reicht, die sagen: „Gut, wir müssen einige der ökologischen Notwendigkeiten respektieren, aber das muß gegen ein Konzept einer alternativen Entwicklungsstrategie abgewogen werden.“

Dann gibt es auch noch unterschiedliche Dimensionen in Fragen danach, inwieweit fundamentale kulturelle Unterschiede respektiert werden sollen und nach dem Grad der Toleranz unterschiedlicher kultureller Traditionen. Hier stehen am einen Ende des Meinungsspektrums Vorstellungen wie: „Jede einzelne kulturelle Variante sollte respektiert werden.“ Das würde also alles einschließen: Gesellschaftlich organisierte Verstümmelungen der Geschlechtsteile bis zu Homophobie. Wenn eine bestimmte Gemeinschaft solche Praktiken durchzuführen wünscht, sagt man dann: „Das geht in Ordnung, denn es ist ihre Kultur und dabei bleibt es“? Oder sagt man – wie es die Meinungen am anderen Ende tun: „Nein, es existieren einige globale Regeln, einige universelle Gültigkeiten, deren Etablierung wir verfolgen möchten und manche Dinge sind inakzeptabel“? Aus eben diesen Gründen wird es notwendig zu Auseinandersetzungen im und um den Bereich der kulturellen Differenzierung kommen.

Kurzum, es gibt all diese Dinge, die Überlegungen darüber, wie eine Alternative aussehen würde, erschweren; und deshalb denke ich, daß eine der intellektuellen Aufgaben, mit der wir es zu tun haben (und wenn ich „intellektuell“ sage, dann meine ich damit nicht, daß es einer privilegierten Gruppe von Intellektuellen vorbehalten ist, sich mit dieser Aufgabe zu beschäftigen), darin besteht, daß sich jegliche intellektuelle Aktivität (ganz gleich ob sie von organischen oder traditionellen Intellektuellen, wie Gramsci sie bestimmte, betrieben wird) darauf konzentrieren sollte, Begriffe und Darstellungsweisen auszuarbeiten, die das Wesen des Grundproblems erfassen. Man muß Wege entwickeln, über Differenz nachzudenken, und Methoden, mit denen man Fragmentierungen auf eine solche Art und Weise verstehen kann, die uns in eine bessere Position verhilft, der bestehenden Ordnung mit einem kohärenten alternativen Projekt zu begegnen. Das sind die Dinge, mit denen wir uns beschäftigen sollten. Außerdem sollten wir uns darauf vorbereiten, unsere subjektiven Vorstellungen offen auszubreiten, in der Hoffnung, daß wir über kritische Auseinandersetzungen zu einer gemeinsamen Konzeption kommen können, wie es gelingen könnte, den Neoliberalismus zu besiegen. Wenn wir eine Alternative zum Kapitalismus wünschen, dann müssen wir in der Tat in der Lage sein, uns mit diesen Dingen so auseinander zu setzen, daß eine gemeinsame Front gegen den Kapitalismus und gegen den Imperialismus möglich wird. Das ist keine leichte Aufgabe: Aber gegenwärtig beschäftigen wir uns nicht einmal mit ihr, und das ist wirklich ein Jammer.

[1][2] Harvey, David (2003): The New Imperialism. Oxford u.a.: Oxford University Press.Vgl. auch: ders. (2003): Akkumulation durch Enteignung. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 5/2003; ders. (2004): Von der Globalisierung zum neuen Imperialismus. In: ders./Massarat, Mossen (2004): Globalisierung und neuer Imperialismus. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 3/2004, 34-51; Harvey, David (2004): Die Geographie des „neuen“ Imperialismus. Akkumulation durch Enteignung. In: Zeller, Christian (Hrsg.) (2004): Die globale Enteignungsökonomie. Münster: Westfälisches Dampfboot, 183-216

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