Berichte

Arbeitspolitik im Umbruch – zwischen Abwehrkämpfen und Offensivstrategien

Tagung der IG Metall Grundsatz- und Tarifabteilung und WissenTransfer, Sprockhövel 1. bis 2. Juli 2005

September 2005

Mit1[1] einer Bilanz der gegenwärtigen Arbeitsbedingungen eröffnete Klaus Pickshaus, Projekt „gute Arbeit“ der IG Metall, eine der wohl spannendsten arbeitspolitischen Tagungen der letzten Zeit2[2]. Im Publikum wie auf dem Podium fand sich eine gelungene Mischung von hochkarätigen Experten aus der Wissenschaft sowie erfahrenen Gewerkschaftern. Einleitend stellte Pickshaus fest, dass neben einem insbesondere für ältere Beschäftigte zunehmenden Arbeits- und Zeitdruck3[3] ein arbeitspolitischer Rollback und eine Ausweitung prekärer Beschäftigung festzustellen sei.4[4] Die Gewerkschaften stünden vor der Herausforderung, Arbeitszeitverlängerungen abwehren zu müssen und den Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen entgegenzutreten. Dafür sei eine Belebung der gewerkschaftlichen Strategiedebatte zwingend notwendig.

Thomas Sablowski, WZB Berlin, referierte zum Thema „Neue Handlungskonstellationen im Shareholder-Value-Kapitalismus“. Über die sich durchsetzende Finanzialisierung der Produktion werde ein hoher Renditedruck auf die Industriebetriebe ausgeübt. Erwartet würde ein überdurchschnittlicher Gewinn. „Alles, was unter dem Durchschnitt liegt, wird als ‚Wertvernichtung' definiert.“ Die Folgen dieser Tendenz kumulierten im Verlust einer nachhaltigen produktionsorientierten Unternehmensentwicklung. Wer diese Orientierung auf eine solche Shareholder-Value-Strategie kritisiere, so resümierte Sablowski, komme zwangsläufig auch an einer Kritik der Eigentumsverhältnisse nicht vorbei. Daher dürften auch die Begriffspaare Klassenkampf und Co-Management keine Gegensätze sein. Da jeder Kompromiss immer nur vorübergehend sei, müsse anerkannt werden, dass das Co-Management nicht im Rahmen einer harmonischen sozialen Marktwirtschaft, sondern einer kapitalistischen Klassengesellschaft durchgeführt würde.

In der nachfolgenden Diskussion betonte Otto König, IG Metall Hattingen, dass Gegenmacht und Co-Management kein Widerspruch wären, sondern Co-Management immer auch mit Kampfmitteln unterlegt sein müsse. „Sonst werden wir nicht ernst genommen.“ Hans-Jürgen Urban fragte, ob die Routine der gewerkschaftlichen Vertreter in den Aufsichtsräten immer hilfreich sei, woraufhin Thomas Sablowski einschätzte, dass viele Aufsichtsratsvertreter der Gewerkschaften ihre Möglichkeiten nicht nutzen würden. Zu viel würde im Konsens mit der Kapitalseite beschlossen, so auch bei Managergehältern.

„Spielräume für ‚innovative Arbeitspolitik’ und ‚gute Arbeit’“ lautete die Überschrift der zweiten Diskussionsrunde, die von den Industriesoziologen Klaus Dörre, FSU Jena, Dieter Sauer, ISF München und Michael Schumann, SOFI Göttingen mit Impulsreferaten eröffnet wurden.

Nach einer Einführung von Hilde Wagner, IG Metall Vorstand, beschäftigte sich Michael Schumann5[5] mit den Chancen gewerkschaftlicher Initiativen für „bessere Arbeit“. Seinen Ausführungen lagen die Untersuchungen des SOFI zum VW-Projekt 5000 mal 5000 zu Grunde, welches Schumann grundsätzlich als Fortschritt für die Beschäftigten wertete. Die Teilaufhebung der Fließbandtätigkeit helfe den Produktionsarbeitern „nicht so schnell kaputt zu sein.“ Die Bedeutung des, wenn auch nur partiellen, Aufbrechens der Fließbandmonotonie werde gerade von den privilegierten Schreibtischarbeitern aus dem Wissenschaftsbereich gerne unterschätzt. Nicht die Anpassung an die betrieblichen Notwendigkeiten sondern deren Umgestaltung müsste gewerkschaftliche Politik sein. Schumann empfahl eine Politik des Widerstandes gegen Kostensenkungsstrategien des Managements mittels Re-Standardisierungen des Arbeitsprozesses und setzte dagegen die Aufwertung der Facharbeit im Rahmen einer konsensualen Betriebspolitik mit den Eckpunkten Gestaltungskompetenz, Vertragssicherheit, starke Interessensvertretung. Die IG Metall habe in den 80er Jahren dabei versagt, einen dem gemäßen Produktivitätspakt zu gestalten. Die Betriebsräte hätten das dann selbst gemacht.

In einer direkten Erwiderung kritisierte Dieter Sauer6[6], dass Michael Schumanns VW-Beispiel der erfolgreichen Ent-Taylorisierung zu einer Subjektivierung der Arbeit führe. Die Folge seien die Verdichtung des Arbeitsalltages, gesteigerte psychische Belastungen und eine nachlassende Gesundheits- und Lebensqualität der abhängig Beschäftigten. Diese Entwicklung werde durch die Implementierung des Marktdruckes in zunehmenden Beschäftigungsbereichen durchgesetzt und setze so innovative Arbeitspolitik unter Druck.

Michael Wendel, verdi Bayern, kritisierte am VW-Modell 5000 mal 5000, dass hier ein „Programmlohn“ für einen bestimmten Produktionsertrag gezahlt werde und nicht für eine gewisse Arbeitszeit eine Entlohnung erfolge. Das Unternehmerrisiko des Produktionsverlaufes werde so auf die Beschäftigten abgewälzt.

Klaus Dörre7[7] verwies auf die zunehmende Prekarisierung von Lohnarbeit. Diese sei kein Randproblem mehr. Zum einen haben sich z. B. die Zahlen der in Leiharbeit Beschäftigten in nur kurzer Zeit verdoppelt. Die Zone der Prekarität weite sich aus und dies nicht ohne Auswirkung auf die gesamte Gesellschaft. Der disziplinierende Effekt der Prekarisierung wirke auch dort, wo vor der Hand keine Prekarität bestehe, bis hinein in den Mittelbau und die Leitungsstrukturen der Unternehmen. Die hohe allgegenwärtige Unsicherheit führe zur Illoyalität der Beschäftigten und mache Innovationen kaputt. Als Reaktion auf diese Situation empfahl Dörre den Gewerkschaften eine stärkere Mitgliedereinbindung und -aktivierung, auch wenn diese mit dem Selbstverständnis der Stellvertreterpolitik kollidiere. Eine Re-Regulierung müsse dafür sorgen, dass nur noch Tarifverträge abgeschlossen werden, die auch existenzsichernde Löhne bieten, zudem sei ein gesetzlicher Mindestlohn notwendig. Abschließend verwies Dörre auf die Krise der politischen Repräsentation. Die im Rahmen von Dörres Studien befragten Beschäftigten sahen sich in der Mehrzahl mit ihren Interessen nicht mehr im politischen Raum vertreten. Dies sei eine Situation, in der die Reaktionen zwischen Apathie und Rückzug von Wahlen und andererseits der Etablierung rechtsextremer und fremdenfeindlicher Sichtweisen schwanke.8[8]

In der folgenden Debatte schilderte Rainer Salm, IG Metall Bezirksleitung Baden-Württemberg, Tendenzen einer Re-Taylorisierung. Die Abschaffung von Gruppenarbeit werde von den Unternehmensleitungen angestrebt, um so wieder klassische Hierarchien einzuführen. Ziel sei die Einsparung von Gehaltsbestandteilen. Anstatt zehn multipel qualifizierte Beschäftigte zu bezahlen sei es kostgünstiger, die höheren Qualifizierungen eines Meisters zu entlohnen und die übrigen neun Beschäftigten abzugruppieren. Hans-Jürgen Urban merkte an, dass die Zone der Prekarität auch bis in die Reihen des mittleren Managements reicht, wenn Prekarität als Unsicherheit übersetzt wird. Er plädierte vor diesem Hintergrund für die Etablierung eines Leitbegriffes der „Sicherheit“.

Am Samstag Vormittag moderierte Steffen Lehndorf, IAT Gelsenkirchen, das Forum: „Betrieb-Tarifsystem-Gesellschaft: Auf der Suche nach den Feldern und Eckpunkten einer gesellschaftlichen Offensivstrategie“. Detlef Wetzel, IG Metall Bezirksleiter NRW, stellte die Kampagne „Besser statt billiger“ vor9[9]. Wetzel plädierte für eine konsequente Stärkung der gewerkschaftlichen Organisationskraft. Der entscheidende Ansatzpunkt sei die Mitgliederentwicklung. Nur so lasse sich die Interventions- und Tariffähigkeit sichern. Die Ebene des Betriebes rücke ins Zentrum der Verteilungspolitik. Dafür sei die IG Metall nicht ausreichend aufgestellt.

Da die Entscheidung über den Flächentarif im Betrieb falle, müsse die Dezentralisierung offensiv angegangen werden. Die Konfliktfähigkeit sei in den Betrieben schon vielfach verloren gegangen, es seien fehlende Verankerung und Mitgliederbindung festzustellen. Es fehle der individuell gefühlte Mitgliedernutzen. Dieser müsse persönlich erfahrbar gemacht werden, indem die Mitglieder in die Subjektrolle und die IG Metall von der Stellvertreterpolitik weg kommen müssten. „Besser statt billiger“ setzt in diesem Sinne konfliktorisch in den Betrieben an. Wie wichtig es ist, in die Auseinandersetzungen zu gehen, zeige das Beispiel Wincor Nixdorf. „Generationen von Schwerpunktsekretäre“ hätten hier relativ erfolglos zu organisieren versucht. Wetzel: „In den letzten vier Monaten haben wir im Konflikt mehr Mitglieder gewonnen, als in den ganzen Jahren zuvor.“

Armin Schild, IG Metall Bezirksleiter Frankfurt, sah in den 90er Jahren ein verlorenes Jahrzehnt für Gewerkschaften und Beschäftigte. Kundenorientierte Produktion werde zur Ausnahme, die Anzahl anspruchsvoller Arbeitsplätze ginge zurück. Eine der größten Niederlagen sei die Unfähigkeit der Betriebsräte und Gewerkschaften, prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu regeln. Hier liege eine der eminent wichtigen Aufgaben der Zukunft.

Udo Belz, Konzernbetriebsratsvorsitzender von Alstom Power, schilderte die Auseinandersetzung um den Erhalt des Betriebsstandortes Mannheim. Belz forderte eine Diskussion der Gewerkschaften über die totalitären Verhältnisse in den Ländern der so genannten Dritten Welt, über die dortigen diktatorischen Bedingungen, die Ausbeutung ermöglichten. „Und deswegen geht das Kapital da hin.“ Gewerkschaften müssten in der Diskussion um Münteferings Kapitalismuskritik nachstoßen. Vor 10 Jahren wäre eine Deutsche Bank mit einem Rekordgewinn, die gleichzeitig den Abbau von 5000 Jobs ankündigt, so nicht möglich gewesen. „Vor 30 Jahren wurde mir hier in Sprockhövel als Jugendvertreter der Gegensatz von Kapital und Arbeit beigebracht. Ich glaube, das ist verloren gegangen und das müssen wir wieder thematisieren. Gewerkschaften sind sonst konzept- und zahnlose Tiger.“

Hans-Jürgen Urban, Bereichsleiter Grundsatzfragen/Gesellschaftspolitik IG Metall Vorstand, betonte die Dringlichkeit, über eine umfassende Revitalisierung der Gewerkschaften zu forschen und zu debattieren.10[10] Urban befasste sich mit einem integrierten Strategieansatz, der Rahmen- und Kernfelder gewerkschaftlicher Politik umfasst. Es bedürfe einer Reprofilierung politischer Themen in den Gewerkschaften und keines Rückzugs auf eine „halbierte Interessenvertretung“. „In den letzten Jahren hatte die Steuerpolitik mehr Einfluss auf die Einkommen der Kollegen als alle unsere Tarifvereinbarungen.“ Neben einem aktiven Lobbyismus in den parteipolitischen Raum hinein sei so auch eine Erhöhung der Mobilisierungsmacht in Bündnissen mit außerparlamentarischen Bewegungen nötig.

Die Strategiedebatte dieser sehr gelungenen und anregenden Tagung soll fortgeführt und intensiviert werden. Hier sei u.a. auf die Tarifkonferenz im Oktober 2005 und den Kongress „Gute Arbeit“ am 6./7. Dezember 2006 verwiesen. Die Ergebnisse der Tagung werden im Herbst beim VSA-Verlag publiziert.11[11]

1[12] Vgl. www.wissentransfer.info

2[13] Vgl. http://www.forum-neue-politik-der-arbeit.de/veran5.html und vgl. Klaus Pickshaus, Gute Arbeit. Luxusthema für Schönwetterzeiten? in: WSI-Mitteilungen 4/2005, S. 223ff.

3[14] Vgl. Klaus Pickshaus/Horst Schmitthenner/Hans-Jürgen Urban (Hg.), Arbeiten ohne Ende. Neue Arbeitsverhältnisse und gewerkschaftliche Arbeitspolitik, Hamburg 2001

4[15] Siehe d. Beispiel „Arbeitszeit-TÜV“: www.igmetall.de/themen/gutearbeit/arbeitszeittuev.html

5[16] Vgl. Michael Schumann, Anti-tayloristisches Fabrikmodell. AUTO 5000 bei Volkswagen. in: WSI-Mitteilungen 1/2005: http://www.boeckler.de/pdf/wsimit_2005_01_schumann_.pdf

6[17] Vgl. Dieter Sauer, Arbeit unter (Markt-)Druck. Ist noch Raum für eine innovative Arbeitspolitik? in: WSI-Mitteilungen 4/2005

7[18] Vgl. Klaus Dörre, Prekarität. Eine arbeitspolitische Herausforderung. in: WSI-Mitteilungen 5/2005

8[19] Vgl. hierzu Michael Fichter/Richard Stöss/Bodo Zeuner, Ausgewählte Ergebnisse des Forschungsprojekts ‚Gewerkschaften und Rechtsextremismus’, unter: www.polwiss.fu-berlin.de

9[20] Vgl. die Modernisierungsoffensive der IG Metall NRW unter dem Motto „besser-statt-billiger“: www.nrw.igmetall.de

10[21] Siehe dazu ausführlich: Hans-Jürgen Urban, Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler. Kontexte und Probleme gewerkschaftlicher Strategiebildung. in: Neue Soziale Bewegungen, Heft 2/Juni 2005

11[22] Zwischen Abwehrkämpfen und Offensivstrategien. Arbeitspolitik kontrovers, 176 Seiten, 14,80 Euro.

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  15. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftnref6
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