Berichte

Die Linke und die Nation

Marx-Engels-Stiftung, Berlin, 29.-30. September 2007

Dezember 2007

„Wie hältst Du’s mit der Nation?“ Die Marx-Engels-Stiftung stellte „der Linken eine Frage, die sie anscheinend für eine Gretchenfrage hält“, so hieß es am Beginn eines Berichts über die Konferenz in der jungen Welt. Und in der Tat, bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres hatte die Stiftung zu einer Konferenz geladen, die sich mit dieser „Gretchenfrage“ befasste. Ende November 2006 standen unter der Überschrift Deutsche Arbeiterbewegung, Nation und Hegemonieproblem Fragen nach der DDR als Nation und einer möglichen Ersetzung des Nationalstaats durch die Europäische Union im Mittelpunkt.[1][1] Daran anknüpfend, wurde diesmal mit der Beteiligung des italienischen Philosophen Domenico Losurdo der Blick von außen hinzugenommen sowie vor allem Fragen nach dem Verhältnis von Staat und Kultur gestellt.

Losurdos Beitrag war ein Appell, die nationale Frage nicht aus dem politischen Kampf auszublenden, da „der Nationalstaat der Boden ist, auf dem der Kampf um die Hegemonie geführt wird“. Und „ohne nationale Krise gibt es keine Revolution“. Mit Beispielen aus seinem Buch Kampf um die Geschichte[2][2] wies er nach, dass die Bilanz der deutschen Geschichte keineswegs rechtfertigt, von einem deutschen Sonderweg sprechen zu können. Vielmehr sei sie auch in ihren Tiefen eingebettet in die westliche Sichtweise einer white supremacy, des Kolonialismus und Imperialismus. Die Unfähigkeit der deutschen Linken, diese Zusammenhänge klar zu erkennen, nehme ihr die Möglichkeit, gegen den angemaßten Führungsanspruch der USA als einer sich selbst als auserwählt betrachtenden Nation vorgehen zu können.

Den Zusammenhang von Nation und Kultur stellten David Salomon und Sabine Kebir in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Salomons Beitrag Gramsci, die deutsche Linke und das Problem der Nation, erinnerte an die Haltung des italienischen Theoretikers gegenüber dem Staat, den er keinesfalls als einen im Sozialismus „absterbenden“ empfand. Vielmehr ging Gramsci davon aus, „dass man von der proletarischen Revolution nur dann sprechen könne, wenn sie einen typisch proletarischen Staat ins Leben ruft und verkörpert, denn er wahrt das proletarische Recht und übt seine Hauptfunktion als Ausdruck des proletarischen Lebens und der proletarischen Macht aus“. Seinerzeit wurde Gramsci von italienischen Anarchisten deshalb der Vorwurf der „Staatsvergötterung“ gemacht. Gramscis Antwort darauf, dass „in der Dialektik der Ideen die Anarchie den Liberalismus fortsetzt“ besitzt noch heute Gültigkeit. Sabine Kebir fasste das Themenfeld Kultur und Nation mehr von seiner praktischen, gegenwärtigen Bedeutung an und beschrieb es als „Herausforderung an die Linke“. Für Kebir gehe der gegenwärtige nationale Defätismus einher mit dem Defätismus in der kulturellen Frage, der weitgehend widerspruchslos die Weltmarktorientierung und damit Durchkommerzialisierung der Kultur akzeptiert. Doch da es eine eigene kulturelle Tätigkeit ohne den Bezug auf einen gemeinsamen sozialen Raum, ohne Verankerung in einer geteilten Tradition und vor allem ohne eine von allen verstandenen und gesprochenen Sprache nun einmal nicht geben könne, führe diese Weltmarktorientierung unweigerlich zu einem Verlust von Kultur überhaupt. Kebir präsentierte denn auch einen umfangreichen Katalog von Handlungsfeldern, auf denen eine selbstbewusste, kämpferische Linke aktiv werden müsse, angefangen bei der Verteidigung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bis hin zum Erhalt von öffentlichen Musikschulen, Bibliotheken, Jugendclubs und Sportstätten.

Mehr allgemeine und grundsätzliche Fragen zur Nation stellten Ludwig Elm (Die Rechte und das Nationale. Falsche Antworten auf ein wirkliches Problem) und Manfred Szameitat (Globalisierung und Nationalstaat) in den Mittelpunkt ihrer Beiträge. Elm verortet das Nationale „im vorpolitischen Raum“, wo es aber eine Schlüsselrolle für die Definition des Individuums besitze. Die gegenwärtig zu beobachtende „antideutsche Ignoranz“ gehe über die Lebensbedürfnisse von Millionen Menschen elitär hinweg. So gebe es bei allen ansonsten vorhandenen Unterschiedlichkeiten zwischen Antideutschen und Reaktionären bzw. Konservativen einen Konsens darüber, dass „das Nationale eine Angelegenheit der Rechten“ sei. In einem Diskussionsbeitrag wies Thomas Lühr auf den Charakter eines gegenwärtig zu beobachtenden „reaktiven Nationalismus“ hin, der aus „einem gestiegenen Bedürfnis nach nationaler Identität in einem Zusammenhang mit einem ‚Sozialchauvinismus’, der sich in Rassismus und Fremdenfeindlichkeit äußert“ bestehe. Szameitat ging noch einmal der Frage nach, wie moderne Nationen überhaupt entstehen und was sie im Inneren zusammenhalte. Danach sei für die Nation „die klassenübergreifende Solidarität von Bürgertum, Proletariat und Bauern unter Führung der Bourgeoisie“ charakteristisch. Obwohl es aufgrund der Währungsunion inzwischen ein „europäisches Kapital“ gebe, werde Europa aber nicht an die Stelle der europäischen Nationalstaaten treten können, da „hier die Völker nicht mitspielten“. Die Annahme Szameitats eines bereits bestehenden „europäischen Kapitals“ blieb allerdings in der folgenden Diskussion nicht unumstritten.

Einen kritischen Rückblick auf die Geschichte der KPD bot der Beitrag Hans Coppis zu Nation und nationale Fragen in der Politik der kommunistischen Bewegung in Deutschland. Darin setzte er sich mit der Programmerklärung der KPD zur nationalen Frage vom Juli 1930 und mit dem sogenannten Scheringerkurs[3][3] der deutschen Kommunisten auseinander, die darauf zielten, dem wachsenden Einfluss der NS-Bewegung zu begegnen. Nach Coppi gelang es der KPD seinerzeit aber nicht, die rassistischen und volkstümlichen Motive der Nazis erkennbar genug herauszuarbeiten, so dass dieser – in der übrigen Linken sehr umstrittene Kurs der Kommunisten – am Ende ohne nennenswerten Erfolg blieb. Im Rahmen der Diskussion des Beitrags von Coppi ging Ernst Schumacher auf die Entwicklung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein. Unter der Überschrift Wie ich von 1945 bis 1991 Spaltung und Wiedervereinigung Deutschlands als Bürger zweier deutscher Staaten erlebte schilderte er sowohl die Kämpfe gegen die heraufziehende deutsche Spaltung als auch die Auseinandersetzung in der DDR über die Frage einer eigenständigen sozialistischen Nation, die Schumacher schon damals für eine „große Illusion“ hielt. Die Entspannungspolitik habe vielmehr die „deutsche Frage nicht erledigt“.

Abgeschlossen wurde die Tagung mit einem Streitgespräch zwischen Jürgen Elsässer und Winfried Wolf über Die Linke und die Nation. Mit Elsässer saß dabei ein ehemals führender Kopf der Antideutschen am Tisch, der heute mit scharfer Polemik diese einstmals von ihm mitvertretenen Positionen aufs Korn nimmt. Mit Zitaten aus seinem Buch Angriff der Heuschrecken[4][4] begründete er seine Einschätzung, dass sich die gesamte Welt gegenwärtig in einer Auseinandersetzung mit dem aggressiven US-Imperialismus befände, in der es um die Verteidigung der nationalen Souveränitätsrechte – einschließlich der Deutschlands - gehe. Die europäischen Nationen würden in diesem Kampf freiwillig kapitulieren, und die EU sei dabei „lediglich eine Relaisstation, ein Antistaat“. Für die Linke gehe es um eine exakte Epochenbestimmung, wobei die Frage im Mittelpunkt stehe, wer gegenwärtig der Hauptfeind sei. Elsässer hat diese Frage für sich klar beantwortet: Es sei der US-Imperialismus, gegen den es jetzt eine neue Volksfront aufzubauen gelte. Und die Linke dürfe sich dabei nicht scheuen, in diesem Kampf auch Bündnisse mit konservativen Gruppen - etwa aus dem Bereich der CSU – einzugehen. Eine ganz andere, dem entgegengesetzte Position bezog Wolf, für den ein positiver Bezug auf die Nation bestenfalls für kleine, abhängige Nationen, etwa für Irland oder Dänemark nicht aber für Deutschland, vorstellbar sei. Entscheidend bleibt für Wolf der Klassengegensatz. Der zentrale Gegner sei daher das nationale Kapital. Ganz anders als Elsässer sieht er auch die Rolle der Europäischen Union. Für ihn ist sie bereits heute eine mit den USA konkurrierende Supermacht, die sich gegenwärtig sogar anschicke eine militärische Macht zu werden. Eine linke Kritik an der EU müsse daher in Betracht ziehen, dass die EU als neue Hegemonialmacht eines Tages in das von den USA hinterlassene Vakuum stoßen werde. Für Elsässer stellt diese Einschätzung hingegen eine falsche Epochenbestimmung dar, da es auch 1942 mit Sicherheit nicht sinnvoll gewesen wäre, wenn sich damals die antifaschistischen Kräfte in ihrer Taktik bereits auf die Zeit nach der Niederlage Hitlerdeutschlands konzentriert hätten. Die meisten Diskussionsredner folgten denn auch eher der Position Elsässers, ohne allerdings so manche Überspitzung von ihm, wie etwa seine Forderung nach einem „skrupellosen Antiamerikanismus“, zu unterstützen.

Mit dieser Tagung gelang es der Marx-Engels-Stiftung erneut, wie bereits im Herbst 2006 bei der ersten Konferenz zu diesem Thema, Referenten zusammenzuführen, deren Beiträge durchweg eine hohe inhaltliche Qualität aufwiesen. Dies ist besonders zu würdigen, da dieser Stiftung – im Unterschied zu den großen, staatlich finanzierten Parteistiftungen – nur geringe eigene Mittel für ihre Arbeit zur Verfügung stehen. Da vorgesehen ist, einige Referate der beiden Tagungen im Neuen Impulse Verlag in Buchform zu veröffentlichen, werden die vorgestellten Anstöße in dieser wichtigen Debatte über die Linke und die Nation auch bald schriftlich einem größeren Kreis von Interessierten zugänglich sein.

[1][5] Vgl. den Bericht von Sabine Kebir in der Z 69, März 2007, S. 158 ff.

[2][6] Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte, Köln 2007. Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Wehr in diesem Heft (S. 110 ff.).

[3][7] Richard Scheringer (1904-1986), Offizier der Reichswehr, war in seiner Jugend überzeugter Nationalsozialist und wurde 1930 wegen des "Versuchs einer nationalsozialistischen Zellenbildung innerhalb der Reichswehr" zu Festungshaft verurteilt. In Haft bekannte er sich 1931 in einem aufsehenerregenden Schritt offen zu den Zielen der KPD. Unter Berufung auf Scheringer warb die KPD in der verbleibenden Zeit bis 1933 vor allem mit Hilfe der Monatszeitschrift Aufbruch um national gesinnte, die Ideologie der Nazis ablehnende Reichswehrangehörige. Scheringer selbst war nach 1945 aktiv in der KPD – etwa als Vorsitzender der bayerischen KPD bis zum Verbot 1956 - und einer der Agrarexperten der KPD und dann der DKP.

[4][8] Jürgen Elsässer, Angriff der Heuschrecken, Köln 2007. Vgl. dazu die Besprechung von Andreas Wehr in Z 69, März 2007, S. 185-190.

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