Editorial

Juni 2008

Im Mai 2008 jährten sich die Ereignisse von 1968 zum vierzigsten Mal. Auch wenn sich die Proteste jener Zeit nicht auf eine Studentenrevolte reduzieren lassen, so spielten doch die Bildungsinstitutionen eine zentrale Rolle. Die sechziger Jahre stehen nicht zuletzt für eine gewaltige Bildungsexpansion und eine grundlegende Reform und Öffnung von Schulen und Hochschulen. Die Abkehr von traditionellen elitären Universitätsstrukturen setzte zugleich einen Prozess frei, der Hochschulen zu Massen(aus)bildungsstätten werden ließ und mit Strukturveränderungen im Schulsystem auf eine wachsende Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften im „fordistischen“ Kapitalismus reagierte. Die Bildungsreformen der sechziger Jahre lassen sich somit durchaus auch als ein Prozess verstehen, in dem eine zunehmende Marktöffnung der Schulen angelegt war.

Auch heute wird viel über Bildung und Bildungsreformen diskutiert. Die ökonomischen Rahmenbedingungen unterscheiden sich dabei deutlich von denen der fünfziger und sechziger Jahre. Statt Vollbeschäftigung herrschen Massenarbeitslosigkeit und zunehmende prekäre Beschäftigung, ein nachfrageorientiertes („keynesianisches“) Kapitalismusmodell wurde durch ein „finanzgetriebenes (neoliberales) Akkumuluationsregime“ abgelöst, das auch die „Ressource Bildung“ in zunehmender Weise kapitalistischen Verwertungsinteressen direkt unterstellt. Das Jubiläum und die aktuellen Debatten sind Grund genug, sich im vorliegenden Heft zunächst der aktuellen Bildungsdebatte zuzuwenden und im Anschluss eine Bilanz der 68er Bilanzen zu versuchen.

In seinem Beitrag untersucht Jens Wernicke, wie Bildungsreform als Herrschaftsinstrument wirkt. Dabei betont er, dass sich ein „dominantes Zielmodell“ der Hochschulstrukturreform durchgesetzt habe, das die Hochschule in ein „marktgesteuertes Dienstleistungsunternehmen“ verwandeln möchte. In den aktuellen „Reformen“ sieht Wernicke eine „reelle Subsumtion der Wissenschaft unter das Kapital“. Nele Hirsch analysiert den „Bologna-Prozess“ und seine Verknüpfungen mit der „Lissabon-Strategie“ der EU und fragt nach einer linken Alternative. Einen Ansatzpunkt sieht sie im UN-Sozialpakt der siebziger Jahre. Herbert Storn beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Schulpolitik der hessischen Landesregierung unter Roland Koch. Gerade in Hessen lässt sich zeigen, wie eine Bildungspolitik aussieht, die durch „Ökonomisierung und Verbetriebswirtschaftlichung des Bildungssystems großen Konzernstiftungen Zugriffe auf die Weiterqualifizierungen und Bildungsinhalte gibt. Klemens Himpele stellt in seinem Beitrag heraus, dass nur ein Zusammenspiel von Bildungspolitik und Verteilungspolitik gesellschaftliche Ungleichheiten beseitigen kann. Alexander Subtil setzt sich kritisch mit den Konzepten von Freerk Huisken und Hans-Peter Waldrich auseinander, die ihrerseits auf unterschiedliche Weise eine Kritik der Schulpolitik im Kapitalismus entwickelt haben. Heiko Bolldorf analysiert in seinem Beitrag die pädagogischen Prämissen in Bernhard Buebs Band „Lob der Disziplin“. Ausgehend von Antonio Gramsci und Leo Kofler ist Bolldorf dabei einem spezifischen Verhältnis von Konservatismus und neoliberaler Anschlussfähigkeit auf der Spur, das die breite Medienresonanz auf Buebs Buch erklären könnte. Karl-Heinz Heinemann setzt sich kritisch mit der Entwicklung auseinander, die Schulen und Hochschulen dem Diktat der Marktwirtschaft unterwirft und unterstreicht, dass ein einfaches zurück zu früheren Zeiten nicht die Alternative sein kann.

Jahrestage politisch relevanter Ereignisse sind oft auch öffentliche Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über deren Auswirkungen. Die Debatte um die Bewertung von „1968“ ist ein Beispiel dafür. Wer die 68er Bewegung verstehen will, muss den Blick zunächst auch auf ihre Anfänge richten, und die reichen zurück bis in die fünfziger Jahre. Eberhard Dähne, 1961/62 selbst einer der beiden Bundesvorsitzenden des SDS, zeichnet in seinem Beitrag die Vorgeschichte der 68er-Bewegung und der Neuen Linken seit 1959 bis in die frühen sechziger Jahre nach. Die sich herausbildende sozialistische Bewegung speiste sich aus mehreren Strängen: Dem Antifaschismus und der Auseinandersetzung mit Deutschlands Nazi-Vergangenheit, der Bildungspolitik, der internationalen Solidarität, dem antimilitaristischen Engagement. Dies alles verlief in steter und heftiger Auseinandersetzung mit den Ausgrenzungsbestrebungen der SPD-Führung. Schon dieser Rückblick zeigt, wie abwegig die Interpretationen Götz Alys sind, die gleichwohl die Debatte 40 Jahre nach 1968 zumindest in den Mainstream-Medien maßgeblich bestimmt haben. Guido Speckmann setzt sich mit Alys Thesen auseinander und zeigt, dass sie weit mehr sind als die Abrechnung eines gewendeten ehemaligen 68ers mit seiner Vergangenheit. Die Chiffre „68“ wird benutzt, um die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit den Begriffen der Totalitarismustheorie zu interpretieren und die These zu erhärten, dass jedes Festhalten an linken Zukunftsvorstellungen zwangsläufig in Gewalt und Terror einmünden müsse. Einen weiteren Versuch, das Erbe von 1968 zu entsorgen, kritisiert Lothar Peter am Beispiel des französischen Philosophen André Glucksmann, der zusammen mit seinem Sohn Raphael in Buchform dargelegt hat, wie der Mai 68 dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy erklärt werden müsse. Glucksmann greift Sarkozys Verdikt auf, das Erbe von 1968 müsse liquidiert werden. Jene im Mai 68 in Frankreich spürbare Entschlossenheit, mit erstarrten Konventionen, eingeschliffenen Denkstereotypen und verknöcherten institutionellen Reglementierungen zu brechen, die alten Zöpfe unbekümmert abzuschneiden und der schöpferischen Phantasie freien Lauf zu lassen, schreibt er heute Sarkozy zu, der somit als legitimer Erbe von 1968 erscheint. Einen weiteren Aspekt der Debatte um 1968 beleuchtet Jörg Roesler mit seinem Blick auf die damaligen wirtschaftlichen und politischen Reformversuche in Osteuropa. Wichtig ist dieser Rückblick deshalb, weil die kapitalistischen Länder auch fast zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Sozialismus nicht am Ende der Geschichte angelangt sind und weil sie heute von einem demokratischen Wohlfahrtsstaat weiter entfernt sind als damals. Daher lohnt es sich mehr denn je, über sozialistische Alternativen nachzudenken und dabei auch jene Reformversuche einzubeziehen, die vor vierzig Jahren stattfanden und damals nicht erfolgreich sein konnten.