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Lothar Peter im Gespräch mit Claudia Krieg

Soziologie und intellektuelles Engagement

von Lothar Peter/Claudia Krieg
März 2013

Lothar Peter im Gespräch mit Claudia Krieg

Soziologie und intellektuelles Engagement

Das folgende Gespräch führte Claudia Krieg mit unserem Autor Lothar Peter. Lothar Peter (geb. 1942), war nach einem Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Germanistik in Marburg und Genf zeitweilig Hochschullehrer an den Universitäten Paris und Marburg und bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Soziologie an der Universität Bremen. Er gehörte über lange Jahre dem Beirat des Frankfurter „Institut für Marxistische Studien und Forschungen“ an. Er ist Vertrauensdozent der Rosa Luxemburg Stiftung. Lothar Peter hat in „Z“ zuletzt in Heft 91 (September 2012) über „postmodernen Linksradikalismus“ geschrieben. Claudia Krieg ist Soziologin, Journalistin und Filmemacherin in Berlin. Sie schreibt u.a. im „Freitag“. 2008 erschien bei PapyRossa in Köln ihr Buch „Dimensionen der Erinnerung“.

(Anm. d. Red.)

Claudia Krieg: Wenn man auf Deine intellektuelle Arbeit und Entwicklung blickt, wird schnell deutlich, dass es darin eine starke Linie marxistischer Theorie gibt. Welche Rolle spielte sie in den verschiedenen Phasen Deines Schaffens?

Lothar Peter: Mit marxistischer Theorie in Berührung gekommen bin ich zuerst durch mein Studium in Marburg bei Wolfgang Abendroth. Abendroth war ja bekanntlich ein profilierter marxistischer Sozialwissenschaftler und Staatsrechtler. Außerdem war er politisch aktiv gewesen im Widerstand gegen die Nazis und hatte von daher das Renommee absoluter Glaubwürdigkeit, was ja für Studierende keine unwichtige emotionale Grundlage ist, wenn sie sich mit irgendwelchen Theorien auseinandersetzen. Durch Abendroth kam ich also in Berührung mit Marxismus, und ich weiß noch, wie ich, 1964 oder 1965, eine große Hausarbeit über 50 Seiten geschrieben habe. Es ging um die Methode im historischen Materialismus, insbesondere um Dialektik. Von dort aus hat sich mein Interesse an marxistischer Theorie weiterentwickelt. Es bezog sich im Übrigen auch auf die Literaturwissenschaften – ich habe ein vollständiges Germanistikstudium absolviert –, im Besonderen auf die literaturtheoretischen Überlegungen von Georg Lukács, mit denen ich da in Berührung gekommen bin. Sie faszinierten mich, weil sie einen völlig neuen Zugang zur Literatur boten, verglichen mit dem, was ich bis dahin aus dem bürgerlichen Germanistik-Verständnis kannte. Ich lernte so zum Beispiel, dass die Person und das Werk Hölderlins nicht ohne die französische Revolution zu verstehen sind; so etwas bekam man in den Germanistikveranstaltungen an der Uni sonst nicht mit. Das führte dann – unter anderem – dazu, dass ich relativ früh in den SDS, den Sozialistischen Deutschen Studentenbund, eingetreten bin. Derjenige, der mich dazu am meisten motiviert hat, war einer der heute bekanntesten deutschen Marxisten, nämlich Georg Fülberth, der im Haus nebenan wohnte. Das war Mitte der 1960er, ich glaube, es war 1965. Da bin ich dann in Kontakt mit einer ganzen Reihe weiterer, sehr interessierter linker Studentinnen und Studenten gekommen. Wir haben im Eigenstudium, auch unabhängig von den Veranstaltungen mit Abendroth, über Georg Lukács „Geschichte und Klassenbewußtsein“ diskutiert, über Karl Korsch und über bestimmte theoretische Diskurse in anderen westeuropäischen Ländern, etwa Sartres Haltung zum Marxismus oder „Humanismus und Terror“ von Merleau-Ponty. Das hat uns alles sehr interessiert und deshalb haben wir uns zum Teil auch durch Selbstschulung und eigenständige wissenschaftliche Aktivitäten entwickelt.

Lehrer: Abendroth und Hofmann

CK: Worin bestand dabei die Faszination, wenn es doch schon das Studium, in dem Fall bei Abendroth, selbst war, was viel Interesse ausgelöst und gebunden hat?

Beides hat sich nicht gegenseitig ausgeschlossen, sondern man kann eher sagen, durch das Studium bei Abendroth bekam man selbst Impulse, eigenständig weiterzumachen, also eher so herum. Es war eine Ergänzung zu dem, was wir im offiziellen Lehrbetrieb bei Abendroth und später auch in der Soziologie bei Werner Hofmann geboten bekamen. Man muss hier hervorheben, und das gilt insbesondere für mich, der sich im Laufe des Studiums allmählich der Soziologie zuwandte, dass neben Abendroth der Soziologe Werner Hofmann immer mehr zu einer zentralen akademischen Figur für die linken Studierenden an der Universität Marburg geworden ist. Hofmann war ebenfalls politisch dezidiert links, unwahrscheinlich gebildet und ausgesprochen konsequent in seiner wissenschaftlichen und politischen Denkweise. Es gab eine ziemlich enge wissenschaftliche und politische Beziehung zwischen Abendroth und Werner Hofmann, der zwar weniger bekannt ist, aber auch Enormes geleistet hat. Er hat Sachen geschrieben, die auch heute noch zur Standardliteratur auf ihrem Gebiet gehören, so zum Beispiel die bis heute unübertroffene differenzierte Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Stalinismus: „Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konflikts“ erschien 1967 bei Suhrkamp und erreichte mehrere Auflagen.

CK: Würdest Du sagen, dass das besondere inhaltliche Interesse auch an die Persönlichkeiten geknüpft war?

Unbedingt, in beiden Fällen. Abendroth hatte eine charismatische Wirkung, weil er auch als Persönlichkeit absolut überzeugend war. Wenn er den Faschismus analysierte, wussten wir, dass wir glauben können, was er sagt, weil wir ja wussten, welches persönliche Schicksal er erlitten hatte. Er hatte vier Jahre wegen Vorbereitung zum Hochverrat in Nazi-Zuchthäusern, vor allem in Luckau, gesessen. Kaum war er da raus, haben sie ihn als „Bewährungssoldat“ in das Wehrmachts-Strafbataillon 999 gesteckt. Glaubwürdigkeit als persönliche Basis für wissenschaftliche Aktivitäten ist natürlich etwas besonders Eindrucksvolles, etwas, was einen selbst bewegt und beeinflusst. Auch Hofmann war ein ausgeprägter Charakter mit allerdings gelegentlich autoritären Anwandlungen eines Patriarchen, aber wissenschaftlich und politisch unbeirrt in der Vertretung dessen, was er für richtig hielt.

CK: Über Abendroth und Hoffman hinaus hat aber auch schon sehr früh die französische Soziologie keinen geringen Einfluss auf Dich ausgeübt...

Ja, das war folgerichtig, weil einige SDS-Mitglieder in Marburg ein sehr intensives Interesse an der Entwicklung linker Diskurse und linker politischer Organisationen in Westeuropa hatten. Dieses wiederum war motiviert durch das Bedürfnis, sich Kenntnisse anzueignen über linke Bewegungen und Parteien, die erfolgreich waren und zwar im modernen Kapitalismus erfolgreich waren, also Massenakzeptanz fanden und nicht als politische Sekten ihr Dasein fristeten. Dafür boten sich in erster Linie Frankreich und Italien an, jeweils mit großen kommunistischen Parteien, die in der Gesellschaft verankert waren. Das hat uns fasziniert und deshalb haben wir uns dafür interessiert, was die dort diskutierten. Da ich französisch konnte, hat sich dieses Interesse dann gesteigert und wir haben uns intensiv damit befasst, was vor allem in Frankreich, aber auch in Italien lief. Wichtig für mich waren damals vor allem die Auffassungen von Frank Deppe, der im SDS sowohl bundesweit als auch natürlich in Marburg selbst wegen seiner theoretischen Kompetenz und seiner politischen Haltung eine große Reputation hatte. Frank Deppe wurde dann etwas später, ich glaube 1972, der Nachfolger von Wolfgang Abendroth auf dem Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Uni Marburg. Er spielt bis heute im marxistischen Diskurs der Bundesrepublik eine herausragende Rolle. Aus den Marburger Diskussionen mit ihm entstand zum Beispiel eine Gemeinschaftspublikation über die so genannte „neue Arbeiterklasse“. Es gab während der sechziger Jahre in Frankreich eine kontroverse sozialwissenschaftliche und politische Debatte über den Strukturwandel der Arbeiterklasse. Daraus entstand der Begriff der „nouvelle classe ouvrière“ – also der neuen Arbeiterklasse. Damit haben wir uns beschäftigt und vollkommen selbständig zu dritt, ich war noch Student, ein Buch produziert, Frank Deppe, dem die Initiative dazu zu verdanken war, Hellmuth Lange, später auch Professor für Soziologie in Bremen, und ich. Wir waren alle drei erst sieben- oder achtundzwanzig. Das Buch trug den Titel „Die neue Arbeiterklasse. Gewerkschaften und technische Intelligenz im organisierten Kapitalismus“. Es erschien in der renommierten Europäischen Verlagsanstalt in Frankfurt – wir nannten sie nur „E.V.A“ – und wurde immerhin zu einem Standardwerk für diese Thematik. Unser wissenschaftliches Engagement für die Thematik war gleichsam der Ausdruck der Rezeption hauptsächlich der – in diesem Fall – soziologischen linken Diskussionen in Frankreich. Vor allem Namen wie Serge Malet, der selbst einflussreiches Mitglied des PSU, des „Parti Socialiste Unifié“, war, Alain Touraine und André Gorz stehen dafür. Aber linke italienische Theoretiker wie Lelio Basso oder der Gewerkschaftsführer Bruno Trentin von der CGIL waren für uns ebenfalls wichtig.

Französische Soziologie

CK: Warst Du zu diesem Zeitpunkt schon in Frankreich gewesen?

Ich war schon vor 1970 in Frankreich gewesen – einmal davon während der Studentenbewegung –, hatte aber zu dem Zeitpunkt, als wir das Buch machten, dort noch nicht wirklich intellektuell oder beruflich Fuß gefasst. Das kam erst später, nach diesem Buch, als ich dann 1971 Assistent an der Universität von Paris wurde. Zwischen dem Buch über die „neue Arbeiterklasse“ und meiner Tätigkeit in Paris an der „Sorbonne Nouvelle“ lag dann noch die Promotion bei Abendroth und – Werner Hofmann starb leider schon 1969 – dem ebenfalls renommierten Soziologen Heinz Maus, der früher Assistent bei Max Horkheimer gewesen war und unter anderem die seinerzeit berühmten „Soziologischen Texte“ im Luchterhand-Verlag mit herausgegeben hat, wo sehr viele Klassiker erschienen sind. Maus war übrigens ein hervorragender Kenner der französischen Soziologie, namentlich ihrer klassischen Periode.

CK: Die französische Soziologie hat Dich im Grunde bis heute nicht losgelassen. Wie betrachtest Du dies über die Zeit gesehen? Ab welchem Zeitpunkt hat Pierre Bourdieu eine Rolle dabei gespielt?

Mein Interesse an Frankreich, an der gesellschaftlichen und politischen Situation in Frankreich, ist, wie ich schon betont habe, immer groß gewesen und hat auch über die Jahre Bestand gehabt. Auf Bourdieu bin ich allerdings erst relativ spät gestoßen. Erst Ende der 1980er Jahre habe ich angefangen, ihn bewusst zu rezipieren. Vorher war er mir nicht wirklich ein Begriff. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass meine Aktivitäten seit den siebziger Jahren sehr stark auf das intellektuelle Umfeld der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) gerichtet waren, zum Beispiel auf die dort sehr anspruchsvoll geführte Debatte über „staatsmonopolistischen Kapitalismus“. Hinzu kam, dass Bourdieu nicht als Marxist galt. Er stand deshalb – ich meine das durchaus selbstkritisch – nicht an vorderer Stelle meiner Agenda.

CK: Wenn ich mich nicht täusche, hat es aber neben Bourdieu für Dich noch andere wichtige Ideen, soziologische Theoretiker und Theoretikerinnen in Frankreich gegeben. Welche waren das?

Einige habe ich ja schon erwähnt. Über Sartre müsste ich gesondert sprechen. Er war ja in erster Linie Philosoph und Schriftsteller, war aber für meine intellektuelle Entwicklung enorm wichtig. Außerdem war die Sache die: Bis Mitte der 1980er Jahre habe ich gar nicht im engeren Sinn soziologisch gearbeitet, sondern es war eher eine interdisziplinäre Kombination von verschiedenen Dingen, nämlich von politischer Ökonomie, Politikwissenschaft und Soziologie. Von daher interessierten mich primär nicht diejenigen Themen und Autoren, die im Fachdiskurs eine Rolle spielten, sondern es waren eher die Probleme, die ich, der inzwischen in die DKP (Deutsche Kommunistische Partei) eingetreten war und ebenso eng wie für mich persönlich überaus erfreulich mit deren faktischem wissenschaftlichen Institut, dem IMSF in Frankfurt, zusammenarbeitete, für politisch relevant hielt, so zum Beispiel die Debatte über „staatsmonopolistischen Kapitalismus“, die so genannte „Wissenschaftlich-technische Revolution“ oder den „wissenschaftlich-technischen Fortschritt“. Das war für mich erst in zweiter Linie eine soziologische Debatte im engeren Sinne. Aber meine durchaus intensive Beschäftigung mit der Soziologie der französischen Arbeiterbewegung öffnete mir den Blick für Probleme, die in meiner bisherigen, etwas objektivistischen Vorstellungsmatrix unterbelichtet geblieben waren. Nun stieß ich auf Soziologen wie Michel Verret, Benjamin Coriat, Jean Loijkine, René Mouriaux und Pierre Rosanvallon, die mir die soziologische Komplexität der Probleme der Arbeiterbewegung im modernen Kapitalismus näher brachten. Ich merkte so allmählich, dass der Marxismus – zumindest derjenige, den ich mir angeeignet hatte – mir auf bestimmte Fragen, etwa der Entstehung gesellschaftlicher Werte, Normen, Handlungsdispositionen und Deutungsmuster, nur begrenzt Auskunft geben konnte. Daraus erklärt sich, warum ich der Soziologie nach meinem Studium erst relativ spät wieder einen fachspezifisch hohen Stellenwert gegeben habe. Und erst in diesem Zusammenhang kam ich dann auch auf Bourdieu. Vorher war meine wissenschaftliche Tätigkeit überformt durch politische Prioritäten. Ich war mehr befasst mit mir politisch relevant erscheinenden Themen und weniger mit der Entwicklung des fachspezifischen soziologischen Diskurses und seiner Fragestellungen, die ich – und das war falsch – pauschal für gesellschaftlich irrelevant hielt.

Soziologie und Gesellschaftskritik

CK: Welche Gegenstände und Probleme waren das?

Es war bis Mitte der 1980er Jahre vor allem die Debatte um die Frage, mit welchem Typ von Kapitalismus wir es zu tun haben – „organisierter Kapitalismus“, „Monopolkapitalismus“, „Neokapitalismus“ oder „staatsmonopolistischer Kapitalismus“ usw. Hinzu kam die Frage der inneren Differenzierung der Arbeiterklasse: Gibt es noch eine Arbeiterklasse und wenn ja, wie sieht sie aus? Es ging ja um das Problem, von welchem kollektiven Akteur zukünftig reale Veränderungen zu erwarten seien. Eine große Rolle spielten auch die Funktion, die Möglichkeit und Grenzen von Gewerkschaften. Gewerkschaften spielten eine zentrale Rolle für mein wissenschaftliches Interesse und zwar vor allem im Zusammenhang mit Prozessen der technologischen Modernisierung und Rationalisierung der Arbeit. Das waren einige der Themen, die einige Jahre, hauptsächlich zwischen 1970 und 1985, im Mittelpunkt meiner Arbeit in Forschung und Lehre standen. Dann kamen noch einige Dinge hinzu, zum Beispiel die Frage: Welche Rolle spielt die wissenschaftlich-technische Intelligenz? Aber diese Themen interessierten mich immer nur unter dem Aspekt ihrer möglichen Politisierbarkeit in einer linken Perspektive. Damit engte ich mir selbst die Möglichkeiten einer wissenschaftlich unvoreingenommenen Analyse ein, die gerade für eine linke Politik und Praxis unabdingbar ist.

CK: Hat sich die Vorrangigkeit dieser Perspektive irgendwann verändert und wenn ja, warum?

Sie begann sich zu verändern, als ich feststellte – und das war bereits vor dem Zusammenbruch des staatssozialistischen Systems –, dass, wie schon angedeutet, die marxistische Theorie im Hinblick auf spezifisch soziologische Fragestellungen auf Grenzen stößt. Die Marxsche Theorie ist ja in erster Linie Grundlegung der historisch-materialistischen Methode und politische Ökonomie und nicht in erster Linie Soziologie. Zwar gibt es bei Marx sehr viele Dinge, die für eine gesellschaftskritische Soziologie unverzichtbar sind, aber bestimmte Fragen konnte Marx nicht behandeln oder er hat sie zumindest nicht behandelt. Das ist überhaupt keine Kritik an Marx in dem Sinne, dass er falsch gelegen hat, sondern dass auch ihm, trotz seiner ungeheuren intellektuellen Energie, von der Ökonomie seiner eigenen Arbeitsfähigkeit her Schranken gesetzt waren. Bei ihm stand eben die Analyse des Kapitals im Mittelpunkt und spezifisch soziologische Fragen wie etwa die nach dem „Sinn“ sozialer Interaktionen, wie gesellschaftliche Wertorientierungen zustande kommen, wie das Geschlechterverhältnis aussieht und was das individuelle Handeln beeinflusst, standen in seinem riesigen Programm nicht oder noch nicht auf der Tagesordnung. Auf diese Probleme konnte auch der nach Marx und Engels sich entwickelnde marxistische Diskurs nur sehr begrenzt oder überhaupt keine Antwort geben. Das heißt, es wurde, wenn man das wissen wollte, notwendig, dem Potential der marxistischen Theorie neue Dimensionen hinzuzufügen. In dem Zusammenhang stieß ich dann auch auf Bourdieu, aber nicht nur auf ihn. Seit Mitte der achtziger Jahre habe ich mir die soziologische Klassik – Max Weber, Durkheim, Tönnies, Simmel, Schütz, Mannheim und andere – systematisch neu angeeignet. Und überall habe ich dort partielle Erkenntnisse gefunden, die meiner Ansicht nach mit dem Marxismus vereinbar sind, ohne ihm etwas von seiner Radikalität zu nehmen.

CK: Weil sich dort die Aspekte und Schnittstellen finden, die Geschlechterfrage, soziale Bewegungen...

Ja, alles das, was man etwas mechanisch als „subjektive Dimension des gesellschaftlichen Lebens“ oder genauer den „Sinn des Sozialen“ bezeichnen könnte. Das heißt zum Beispiel, wie kommen Wertorientierungen zustande? Warum meinen manche Gruppen in der Gesellschaft, dass sie anderen überlegen sind? Was heißt „Individualisierung“? Wie lassen sich soziale Ausgrenzungen, aber auch die Entstehung von Eliten erklären? Welche Momente sind für die subjektive Einstellung zur Arbeit entscheidend? Ist „Gouvernementalität“, um den Begriff von Foucault zu gebrauchen, nur ein ideologisches Konstrukt oder auch tatsächlich ein integrales Moment der Realität der kapitalistischen „Postmoderne“? Das alles sind ja nicht nur ökonomische Fragen, auch wenn ihre Beantwortung ohne Berücksichtigung der ökonomischen Bedingungen fehlschlagen muss. Deswegen wird es ohne Marx keine entwickelte gesellschaftskritische Soziologie geben, würde ich sagen. Marx und – nicht zu vergessen – Engels sind immer eine notwendige, aber nicht allein schon ausreichende Bedingung für kritische Soziologie.

CK: Auf welche Diskurse hast Du Dich in Deiner Arbeit in den letzten Jahren konzentriert?

Ende der 1980er Jahre habe ich einen längeren Artikel in der Zeitschrift „Sozialismus“ geschrieben, der auf eine gewisse Resonanz innerhalb des Spektrums links-orientierter Soziologinnen und Soziologen gestoßen ist. Da ging es zentral um das Verhältnis von Marxismus und Soziologie. Ich habe darin den Begriff der „relativen Autonomie des Sozialen“ entwickelt, also das, was meiner Auffassung nach den eigentlichen Gegenstand der Soziologie ausmacht. Ich ging von der These aus, dass Strukturen, Prozesse und Inhalte sozialer Beziehungen nicht allein aus den ökonomischen Bedingungen ableitbar sind, sondern dass es eine „relative Autonomie des Sozialen“, eine soziale Dimension „sui generis“ gibt, wie Émile Durkheim gesagt hätte. Das kann man schön veranschaulichen, indem man sich etwa Folgendes vorstellt: Zwei Industriebetriebe, etwa gleich groß, beide produzieren ähnlich, haben dasselbe technische Niveau, eine ähnliche Qualifikationsstruktur, ein vergleichbares Lohnniveau und andere Parallelen. Der eine Betrieb liegt in der Region A, der andere in der Region B. Aber die Streik- und Konfliktbereitschaft beider Betriebe unterscheidet sich erheblich. Was sich in den Einstellungen, den Handlungsdispositionen und der mentalen Verfassung der Belegschaften tut, kann also nicht direkt als Reflex auf die ökonomischen und technischen Bedingungen erklärt werden. Es muss ein weiteres spezifisches Moment hinzukommen, um die Differenz erklären zu können. Hier stoßen wir auf die relative Autonomie des Sozialen. Sie ist zum Beispiel durch unterschiedliche Betriebstraditionen vermittelt, etwa dadurch, dass es in dem einen Betrieb eine lange Tradition des Produzentenstolzes gibt, ein ausgeprägtes handwerklich-industrielles Selbstbewusstsein und eine lange „Kampftradition“, so dass die Belegschaft schon über Generationen hinweg darauf eingestellt ist, Konflikte zu riskieren, was in dem anderen Betrieb nicht der Fall ist. Das wäre also ein Beispiel für die relative Autonomie des Sozialen. Ein anderes, ungleich wichtigeres Beispiel ist das Geschlechterverhältnis; denn die strukturelle Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen lässt sich nicht kausal aus der ökonomischen Logik des Kapitalismus ableiten, sondern basiert auf einem patriarchalen Frauenbild, das längst vor dem Kapitalismus existierte, wie Simone de Beauvoir schon vor mehr als einem halben Jahrhundert eindrucksvoll gezeigt hat.

Das, was ich eben gesagt habe, habe ich dann versucht in meinen auch empirischen Studien über Probleme der Arbeit, über soziologischer Theorien – etwa die Soziologie der DDR –, die Geschichte der Soziologie und immer wieder über soziale Konflikte und Arbeitsbeziehungen in Frankreich methodisch anzuwenden.

CK: Also nicht nur die ökonomischen Bedingungen, sondern die sozialen Bedingungen im weiteren Sinn spielen dann auch eine entscheidende Rolle?

Natürlich. Auch die Frage, warum die Menschen sich unterdrücken lassen, kann man nicht allein mit ihrer ökonomischen Lage erklären, so wichtig diese auch immer ist. Man sieht das an Folgendem: Eigentlich müssten ja, ginge es nur nach den ökonomischen Bedingungen, gerade diejenigen, die ökonomisch am wenigsten zu lachen haben, auch diejenigen sein, die besonders heftig Widerstand leisten. Das ist ganz offenkundig, zumindest in Westeuropa, aber nicht der Fall. Es kommt hier nämlich etwas hinein, was man mit der politischen Ökonomie allein nicht erklären kann. Und genau an diesem Punkt beginnt die spezifische wissenschaftliche Funktion der Soziologie.

CK: Die sie auch haben muss?

Unbedingt. Wenn das nicht so wäre, käme es immer wieder zu mechanistischen Fehlschlüssen. Ich kann mich erinnern, dass es in den 1970er und 1980er Jahren innerhalb des westdeutschen Marxismus eine von durchaus intelligenten Leuten vertretene Tendenz gab, von der ökonomischen Krise kausal auf eine Radikalisierung des Arbeiterbewusstseins zu schließen. Ein typischer ökonomistischer Fehlschluss, weil genau die Momente, über die wir eben gesprochen haben, in diesen Überlegungen nicht berücksichtigt wurden. Die „relative Autonomie des Sozialen“ – dazu gehört im weiteren Sinn auch die Funktion politischer Institutionen – wurde nicht adäquat berücksichtigt.

CK: Lässt sich hier auch der Begriff der symbolischen Gewalt, wie ihn Bourdieu entworfen hat, anbinden?

Durchaus, denn mit der relativen Autonomie des Sozialen ist der gesamte Komplex dessen verbunden, was man mit Bourdieu „Symbolische Gewalt“ nennen kann. Symbolische Gewalt zeigt, dass gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse nicht nur ökonomisch und nicht nur politisch zu erklären sind, sondern dass es da Mechanismen gibt, die auf spezifische soziale Dispositionen gerichtet sind, nämlich den Habitus, wie Bourdieu es nennt. Das ist, wenn man so will, die gesellschaftliche Formierung von Individuen. Das geschieht in einem hohen Maße nicht nur über physischen, ökonomischen oder politischen Zwang, sondern durch die Internalisierung von hegemonialen Wertorientierungen, eingeschliffenen Verhaltensroutinen, die man verinnerlicht, weil man sie als normal wahrnimmt, obwohl sie tatsächlich nicht „normal“ sind, sondern vielmehr eine Herrschaftsfunktion haben. Und ich finde, dass gerade im Zusammenhang mit dem Geschlechterverhältnis diese symbolische Gewalt besonders effektiv funktioniert, wie man aktuell leider wieder sehr deutlich sehen kann. Ich denke, dass der Rückgang einer wirklich feministischen Bewegung, einer offensiven feministischen Bewegung, auch damit zusammenhängt, dass über die Medien gleichsam „flächendeckend“ eine bestimmte Botschaft symbolischer Gewalt vermittelt wird, die den Frauen suggeriert: „Wenn ihr feministisch seid, dann seid ihr männerfeindlich.“ Und die überwältigende Mehrheit der Frauen will ja nicht männerfeindlich sein. Wenn jetzt aber durch die Medien überall, massenhaft und mit einer wahnsinnigen Intensität immer wieder suggeriert wird, dass Frauen ihre eigenen Interessen und Rechte nicht wahrnehmen dürfen, weil sie sonst männerfeindlich seien, dann ist das ein struktureller Akt symbolischer Gewalt, den diejenigen, die ihn erleiden, fataler Weise auch häufig akzeptieren und verinnerlichen. Symbolische Gewalt ist eben, wie Bourdieu treffend gesagt hat, eine „sanfte“ Gewalt, die nicht mit dem Knüppel ausgeübt wird, sondern mit Hilfe von Symboliken, Leitbildern, Werten, ästhetischen Präferenzen usw.

Soziale Bewegungen

CK: Nun gibt es neben symbolischen Gewaltverhältnissen als Herrschaftsfunktion nach wie vor sehr offensichtliche Machtverhältnisse und sehr konkrete Gewaltverhältnisse, die Herrschaft stützen und gegen die sich Menschen auflehnen, wie zum Beispiel die Ereignisse seit dem letzten Jahr in einigen nordafrikanischen Ländern gezeigt haben. Beeinflussen diese politischen Ereignisse das aktuelle Denken über Macht und Herrschaft? Auch in Europa?

Wir beobachten weltweit neue Formen sozialer Bewegung, die ich zunächst gar nicht bewerten, sondern deren Existenz ich zunächst nur konstatieren will. Es gibt ja seit einigen Jahren globalisierungskritische Bewegungen und Aktionen, es gibt Attac, die Weltsozialforen, die Aktionen gegen G 8-Gipfel. Und es gibt neuerdings die „Occupy Wall Street“-Bewegung. Genauer, es hat sie, scheint mir, bis vor kurzem gegeben. All das zeigt, dass überall auf der Welt, aufgrund der Zuspitzung komplexer globaler Widersprüche – ökonomisch, politisch, ökologisch, kulturell – auch Widerstand dagegen in Bewegung kommt. Inwieweit das in der westlichen Hemisphäre, oder im „Norden“, wie man heute auch sagt, politisch sensibilisiert und zu mehr Bewusstsein führt über den objektiven Charakter von Herrschaft und Gewalt, kann ich pauschal nicht beurteilen. Zumindest für die Bundesrepublik scheint das bisher kaum der Fall zu sein. Im Massenbewusstsein, im Bewusstsein der Bevölkerungsmehrheit hierzulande wird die Bundesrepublik als wichtiger Akteur globaler Herrschaft gar nicht gesehen, sondern ausgeblendet. Aber auch die nach innen gerichteten Herrschaftsfunktionen werden nicht als solche wahrgenommen. Man denke etwa an Phänomene der Entdemokratisierung im Namen der Demokratie. Wenn eine Parteivorsitzende, die über Kommunismus diskutiert, mit dem Bann der Demokratiefeindlichkeit belegt wird, dann ist das auch ein Akt symbolischer Gewalt, der von der Mehrheitsmeinung aber paradoxer Weise für ein leuchtendes Beispiel von Demokratieverständnis gehalten wird.

CK: Ist das in anderen Ländern anders?

Zum Teil. Ein Blick nach Frankreich zeigt auch hier, dass es möglich ist, gewisse Politiken in Frage zu stellen. Allerdings ist das in den letzten Jahren relativ selten, manchmal aber eben auch sehr manifest geschehen, zum Beispiel anlässlich des Gesetzes über die Einstellung von Berufsanfängern 2006, da hat es eine sehr breite Massenbewegung gegeben, die letztlich zum Rücktritt einer Regierung geführt hat. Aber das heißt noch nicht, dass bei solchen Bewegungen das gesamte gesellschaftliche System Frankreichs gleichzeitig im Kontext globaler kapitalistischer Interessen gesehen wird. Wobei ich noch einmal betonen möchte im Hinblick auf die modernen Gesellschaften, wie wir sie heute kennen: Wir leben nicht nur im Kapitalismus, wir leben auch in einer patriarchalen Gesellschaft. Es gibt neben der kapitalistischen auch eine patriarchale Hegemonie, die strukturell nicht weniger Gewicht hat als erstere. Und in wesentlichen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens verstärken sich beide Hegemonien wechselseitig.

CK: Was sagt uns das bezogen auf Nordafrika?

Ich denke, es ist völlig legitim, dass die Menschen gegen Unterdrückungsverhältnisse rebellieren. Das ist das eine. Das andere ist aber, dass ich im Moment in den entsprechenden Regionen Nordafrikas und in Syrien keine kollektiven Akteure entdecken kann, die in der Lage sind, die berechtigte Empörung der Massen in eine politische Perspektive zu übersetzen, die mich selbst überzeugen würde – also in eine klare, linke Alternative. Die Tatsache, dass inzwischen die „gemäßigten“ Islamisten und die extremistischen Salafisten in Ägypten etwa 70 Prozent der Wählerstimmen haben, lässt nichts Gutes erwarten. Oder dass in Marokko sich seit jüngstem Demonstrationen dagegen richten, dass Frauen an die Universitäten gehen. Es gibt eine Diskrepanz, finde ich, zwischen der materiellen Berechtigung und moralischen Legitimität des Widerstandes breiter Teile der Bevölkerung gegen ihre Regime einerseits und den politischen Perspektiven andererseits, die sich daraus ergeben. Da klafft ein Bruch. Es fehlt etwas dazwischen. Und dass die Linken ganz schwach in diesen Bewegungen sind, zeigt sich an der schlichten Tatsache, dass die tonangebenden politischen Bewegungen und Akteure in Tunesien, Libyen und Ägypten vom Westen – materiell oder symbolisch oder beides – unterstützt wurden. Der Westen würde ja nie Bewegungen in Tunesien oder Ägypten unterstützen, wenn das Kräfte wären, die sowohl eine klare antiimperialistische als auch revolutionäre Perspektive im Bezug auf die Geschlechterverhältnisse hätten.

CK: Von welcher Unterstützung sprichst Du dabei?

Zum Beispiel von der militärischen Intervention der NATO in Libyen. Jetzt gibt es nicht nur in dem bekanntlich superdemokratischen Saudi-Arabien, sondern auch im Westen schon Überlegungen, ob man den Anti-Assad-Widerstand in Syrien mit Waffen unterstützt. Es gibt auch andere Kanäle der Unterstützung, etwa durch Stiftungen, die in solchen Fällen auch manchmal eine Rolle spielen. Ich bin prinzipiell immer misstrauisch, wenn der Westen etwas unterstützt, denn der Westen ist für mich ein- für allemal und egal wo und wie diskreditiert, er ist prinzipiell nicht glaubwürdig. Erst liegen sich Gaddafi und Sarkozy in den Armen und dann kann es Sarkozy mit der Bombardierung Libyens gar nicht schnell genug gehen. Dass sich die sich so gern menschenrechtsfromm gebende Bundesrepublik in Afghanistan in einen Krieg involviert, der ein – sagen wir es offen – extrem reaktionäres und korruptes Regime unterstützt, führt die gebetsmühlenartige Berufung auf Menschenrechte, Freiheit und Demokratie ad absurdum. Und warum sollte man dem Westen, der mit seinen Lügen den Irak zum Schauplatz eines Krieges gemacht hat, nun plötzlich mit Blick auf den Iran oder Syrien noch irgendwie Glauben schenken? Mit „Westen“ meine ich also den kapitalistischen Westen, in erster Linie die USA, aber eben nicht nur sie. Allerdings sind es vor allem die USA, die sich überall auf der Welt durch ihr faktisches Verhalten diskreditieren, ein Verhalten, dass jedoch ihren imperialen Interessen entspricht. An der Unterstützung der so genannten „Arabellion“ durch die USA und Konsorten kann ich also absolut nichts Positives entdecken. Deshalb finde ich es schwierig, die Frage zu beantworten, ob und inwiefern von Nordafrika Signale für uns in Westeuropa ankommen, die hier den Widerstand gegen Krise, soziale Ungleichheit und Entfremdung stärken könnten.

CK: Ist die Forderung nach Freiheit eine leere Formel, solange sie nicht weiter ausgeführt wird und ist das weltweit das gleiche Problem?

Ja, die Forderung nach Freiheit in Ägypten, Libyen usw. bleibt eine Worthülse, wenn sie nicht korrespondiert mit der Entwicklung materieller Freiheit, im Sinne tief greifender ökonomischer, sozialer und vor allem auch geschlechterbezogener Reformen. Das würde also auch bedeuten, dass Eingriffe in das kapitalistische Privateigentum und die Macht ausländischer Konzerne unumgänglich sind. Aber dem würden, käme es tatsächlich dazu, die Interessen des Westens sehr schnell einen Riegel vorschieben.

CK: Freiheit gibt es nur noch im Sinne der kapitalistischen Ideologie?

So ist es. In Frankreich sagt man „pensée unique“, es gibt nur dieses eine Modell von Freiheit, dass konkurrenz- und alternativlos ist – angeblich. Damit wird aber gleichzeitig der Zusammenhang von politischer, intellektueller und kultureller Freiheit auf der einen Seite und materieller Freiheit auf der anderen Seite zerrissen. Würde man ihn herstellen, würde man sich sofort hineinbegeben ins Herz der Antagonismen zwischen Kapital und Patriarchat auf der einen Seite und dem, was für die Menschen wirklich gut ist auf der anderen Seite. Ich finde es im Übrigen sehr bedauerlich, dass ich im Hinblick auf Nordafrika so ausgesprochen skeptisch bleiben muss. Vorhin habe ich gerade die Meldung gehört, dass Barack Obama seinen Stabschef angewiesen hat, eine militärische Intervention in Syrien zu prüfen und wenn das so ist, bedeutet das nichts Gutes für die Entwicklung dort.

Leben und Engagement

CK: Gibt es etwas, auf dass Du persönlich zurzeit mit weniger Skepsis schauen kannst?

Ja durchaus, es gibt eine Vielzahl von Initiativen und Bewegungen, oft kleinere Initiativen, die ich für gut und unterstützenswert halte. Da sind wir auch beim Problem der Intellektuellen, wozu ich gleich noch etwas sagen möchte. Aber zunächst: Ich denke, es ist unbedingt notwendig, dass die Menschen in ihrem lebensweltlichen Kontext oder da, wo sie arbeiten, persönlich selbst in einer Weise handeln, die für größere Zusammenhänge verallgemeinerbar ist. Wer gegen das kapitalistische Privateigentum ist, kann nach Möglichkeit auch in seinem eigenen Leben etwas tun, um sich vom Tanz um’s goldene Kalb zu verabschieden. Da gibt es viele Möglichkeiten. Aber es muss in die Richtung gehen, dass die Subjekte selbst konkret etwas an ihrer Lebensweise und ihrem bisherigen Selbstverständnis verändern. Gesellschaftliche Zukunftsprojekte, die nicht wirklich in der Bedürfnisstruktur der Subjekte verankert sind, werden schnell labil und sind dann vom Zusammenbruch bedroht. Man kann versuchen, in kleineren Gruppen wenigstens in manchen Bereichen gemeinsame Ökonomien aufzubauen. Ich kenne Menschen, die sich auf der Grundlage gemeinsamer politischer Auffassungen zu einer Finanzkooperative zusammengetan haben und sich seit Jahren finanziell gegenseitig unterstützen; denn wenn man mehr Geld hat als man selbst unbedingt benötigt, muss man es nicht nur für sich verbrauchen. Da gibt es unendlich viele mögliche Varianten, andere daran partizipieren zu lassen. Man kann selbst ohne asketische Exzesse versuchen, relativ bescheiden zu leben, und damit zeigen, dass man in gewisser Weise frei ist von den Obsessionen des Privateigentums und eines schrankenlosen Konsums. Natürlich spreche ich hier nicht von Hartz IV-Beziehern und den working poors, denen das Notwendige fehlt. Und ich verlange auch nicht, dass jeder ein Asket werden muss, aber wenn nicht irgendwo im eigenen Leben etwas real wird von den politisch erforderlichen Veränderungen, dann werden entsprechende politische Projekte schnell fragwürdig. Selbstveränderung halte ich also für eine wesentliche Voraussetzung für politische Veränderungen. Auch weil das die Chance einschließt, dass, wenn es bei politischen Auseinandersetzungen einmal schwierig wird, die Leute nicht sofort „von der Fahne“ gehen, wenn sie mal eine Nacht ohne Heizung oder einen Morgen ohne Brötchen auskommen müssen. Wer in seinem eigenen Leben zeigt, dass er etwas ertragen und sich einschränken kann und wem es also gelingt, bei der materiellen Gestaltung seines Lebens andere Wege zu gehen, wird auch eher in der Lage sein, dann, wenn es darauf ankommt, einen längeren politischen Atem zu haben als diejenigen, für die das politische Engagement nur an der Oberfläche und ohne persönliche Konsequenzen bleibt. Letztere würden sehr schnell erschrecken, wenn in politisch zugespitzten Situationen die Akteure, Eliten und Apparate der Herrschenden massiv Gegendruck entfalten. Wenn am nächsten Tag die Brötchen nicht da sind, die Straßenbahnen nicht fahren oder – noch schlimmer – die Bankautomaten gesperrt sind, kann sich der Unmut der Leute sehr schnell praktisch gegen diejenigen richten, die die Macht der Herrschenden in Frage stellen, anstatt gegen die Herrschenden. Hier sind gerade auch die Intellektuellen gefordert.

CK: Du hast gerade gesagt, dass wir hier auch auf ein Problem der Intellektuellen stoßen?

Ja, Intellektuelle haben in Prozessen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Transformationen traditionell immer eine große Rolle gespielt. Sie waren immer wichtig für die geistige Dimension von sozialen Widersprüchen und ihre konfliktuellen Bewältigung oder Nicht-Bewältigung. Diese Rolle hat sich aber sehr stark geändert. Das zeigt sich auch bei prominenten Soziologen, die sich über ihre unmittelbare fachliche Tätigkeit hinaus politisch artikulieren, also als Intellektuelle in Erscheinung treten. Man denke etwa an Anthony Giddens in Großbritannien mit seinem „Der Dritte Weg“ oder in Deutschland an Ulrich Beck mit der „Risikogesellschaft“ und seinen Individualisierungsvorstellungen. Giddens und Beck haben durchaus politisch gestaltend interveniert, zwar in einer Weise, die ich keineswegs gut finde, aber sie haben es getan und sie tun es weiterhin. Die neuere Entwicklung geht sehr stark dahin, dass das kritische Potential von Intellektuellen zurückgedrängt wird. Das hängt damit zusammen, dass viele Intellektuelle meinen, dass sie immer mehr auf die Medien angewiesen sind. Diese üben eine unglaublich intensive symbolische Gewalt aus, die auch die Intellektuellen betrifft. Sie werden, gerade wenn sie prominent sind, mit Haut und Haaren von den Medien vereinnahmt. Das wiederum führt dazu, dass für Intellektuelle nicht mehr ihre fachliche Kompetenz als SchriftstellerIn, WissenschaftlerIn oder KünstlerIn im Vordergrund steht, sondern dass ihre Fähigkeit zur Performance und medialen Selbstinszenierung in den Vordergrund rückt und damit kritische intellektuelle Potentiale stillgelegt werden. Der klassische engagierte Intellektuelle, der gewissermaßen als Tribun für subalterne Kollektive gesprochen hat, man denke an Emile Zola, später Jean-Paul Sartre oder Pierre Bourdieu, der wird immer stärker durch den Typ des „Medienintellektuellen“ ins Abseits gedrängt. Ich denke aber, wenn man die gesamtgesellschaftliche Entwicklung betrachtet, dann ergibt sich nichtsdestoweniger die Notwendigkeit für einen neuen Typ des Intellektuellen. Er wäre ein Typ des Intellektuellen „von unten“ – also nicht mehr der klassische Groß-Intellektuelle, der letztlich von den Massen abgehoben bleibt, auch wenn er für sie spricht oder beansprucht, für sie zu sprechen. Sartre zum Beispiel fühlte sich zwar als Repräsentant der Verteidigung des Kommunismus, aber mit den realen Bedingungen der französischen Arbeiterklasse hatte er wenig zu tun. Das ist ihm nicht unbedingt vorzuwerfen, erklärt aber in gewissem Maße, die Entfremdung linker Intellektueller von der Lebensrealität „normaler“ Menschen. Heute hingegen werden die Abstände zwischen intellektueller Tätigkeit und den Problemen materieller Reproduktion der Gesellschaft und dem konkreten alltäglichen Leben ihrer Menschen geringer. Das könnte dazu führen, dass sich etwas entwickelt, was bereits Foucault in einer sehr klugen Vorwegnahme als den „lokalen Intellektuellen“ bezeichnet hat, also Menschen, die intellektuell gebildet und qualifiziert sind, aber da politisch aktiv werden, wo sie konkret arbeiten oder in ihrem Leben unmittelbar stehen, d.h. nicht primär auf der Bühne der öffentlichen Diskurse, sondern in ihrem Betrieb, ihrem Krankenhaus, ihren Büros, als Ingenieure, Ärzte, Informatiker, Rechtsanwälte, als Lehrkräfte an den Hochschulen usw.

CK: Läge der intellektuelle Akt dann vor allem darin, sich zu äußern?

Er läge darin, die konkreten Probleme, die da entstehen, wo Intellektuelle leben, bzw. arbeiten, wo sie ihre spezifische Kompetenz einbringen, zu politisieren. Politisierung ist wichtig. Sie ist die zentrale Aufgabe von Intellektuellen. Es geht ja nicht darum, Probleme bloß „technisch“ zu lösen. Zum Intellektuellen wird ein Chemiker etwa dann, wenn er zum Beispiel eine Umweltinitiative in seinem Stadtteil aktiv unterstützt. Er wird dann nicht nur seinen Job als Betriebschemiker machen, sondern das, was er kann und weiß, auch öffentlich machen und mit einem politischen Anspruch artikulieren. Das wäre für mich so ein Intellektueller „von unten“.

CK: Was ist denn mit denjenigen, die diese Entwicklung nicht mitmachen wollen oder können? Was würde Sartre heute machen – wäre er nur noch ein Original oder ein Unikum? Abgesehen davon, dass es ja seinem Selbstverständnis keineswegs entsprechen würde. Aber ich denke auch an Phänomene wie radikale konservative Wendungen ehemaliger linker Intellektueller, deren Wendung zum Performativen nicht in Deinem Sinne vollzogen wird. Was steckt dahinter?

Es handelt sich bei solchen ideologischen Mutationen der Versöhnung mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen meiner Meinung nach immer um Menschen, die bestimmte moralische Orientierungen nicht so tief verinnerlicht haben, dass sie wirklich resistent sind gegen systemkonforme Demagogie und sei sie auch der feinen ästhetischen oder kulturellen Art. Das ist das Eine. Das Zweite hängt mit Enttäuschungen darüber zusammen, dass linke Entwicklungen, von denen man sich selbst Vorteile, Karriere und Prestige versprach, nicht stattgefunden haben bzw. erfolglos waren. Da zeigt sich vor allem bei manchen Medienintellektuellen: Sie haben auch die Phase, in der sie links waren, als eine Möglichkeit gesehen, durch ihren linken Trip zu Führungspositionen zu gelangen, also Karriere zu machen und zur Elite zu gehören, und sei es in einer maoistischen Organisation. Und weil das auf Dauer nicht funktioniert hat, weil das linke Projekt oder das, was sie dafür hielten, gescheitert ist, suchten sich nun wieder erneut einen Ort, wo sie ganz oben stehen können, wo sie eine privilegierte Position einnehmen können und das trügerische Gefühl haben, in der Welt einen relevanten Part zu spielen. So lässt sich meiner Ansicht nach etwa die erstaunliche Metamorphose eines André Glucksmann erklären, der 68 nicht nur einfach „ultralinks“, sondern ein fanatischer militanter Maoist gewesen ist, vor ein paar Jahren dann aber für Sarkozy die Wahltrommeln gerührt hat. In solchen Fällen kommen mehrere Dinge zusammen, natürlich die politische Situation, aber auch die Persönlichkeitsentwicklung und, wie Bourdieu sagen würde, der „Habitus“, also wer man selbst ist und was einem im Leben wichtig ist. Bei den Medienintellektuellen ist es das heftige Bedürfnis, aufzusteigen und zu denen zu gehören, die „oben“ sind. Wenn sich die politischen Aussichten der Linken verdüsterten und ihre Projekte scheiterten, sind Intellektuelle oft sehr schnell „umgestiegen“. Ein krasses Beispiel dafür sind die „nouveaux philosophes“ in Frankreich, also Leute wie Glucksmann und Bernard-Henri Lévy, aber auch ein Daniel Cohn-Bendit oder in Deutschland Joschka Fischer und andere. Das hat es immer wieder gegeben, dass linke Leute nach rechts gewandert sind. Das gibt es natürlich auch umgekehrt. Die Medien üben heute auf Intellektuelle einen ungeheuren Sog der Charakterlosigkeit aus. Dem muss man – das ist das Mindeste – Widerstand leisten.

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