Klimakrise, Widersprüche, schwache Akteure

von Jürgen Reusch
März 2020

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Eine Krise kommt selten allein. Im vergangenen Jahr ist die Klimakrise mit Macht ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Sie hängt zusammen mit zahlreichen Widersprüchen, die sich in der zurückliegenden Dekade zugespitzt haben: Auf der einen Seite in vielen Ländern Autoritätsverlust und zunehmende Ratlosigkeit der im Kapitalismus herrschenden politischen Kräfte und zugleich Aufstieg der autoritären Rechten und des aggressiven Nationalismus. Der Autoritarismus hat sich etabliert und drängt mit Macht in die gesellschaftspolitischen Diskurse. Das politische Koordinatensystem wurde weiter nach rechts verschoben.[2] Der Verrohung der Sprache folgt die Gewalttätigkeit in Gesellschaft und Politik.

Die 2010er Jahre waren aber auch eine Zeit auflebender gewerkschaftlicher Kämpfe mit einer deutlichen Ausweitung ihrer Ziele, Akteursgruppen und gesellschaftlichen Ausstrahlung – eine bemerkenswerte Entwicklung, nachdem die Gewerkschaften an einem Tiefpunkt ihrer Entwicklung angekommen schienen. Soziale Bewegungen und demokratische Proteste nahmen beträchtlich zu. Ein gemeinsames Programm oder auch nur eine gemeinsame Zielstellung haben sie jedoch nicht. Allerdings ist die Klimafrage allgegenwärtig und zwingt alle politischen Akteure, sich zu positionieren - auf sehr unterschiedliche Weise. Alles ist im Fluss, die Entwicklungsrichtung für die kommenden Jahre ist heftig umkämpft.

Trotz relativer wirtschaftlicher Stabilisierung und Ausweitung der Beschäftigung haben sich nach der Krise 2008/09 die ökonomischen und sozialen Widersprüche zugespitzt. Die Wirtschaft ist krisenanfälliger geworden. Die schwelende, aber nie überwundene strukturelle Krise droht zurückzukehren, Arbeitslosenzahlen gehen wieder hoch, Kurzarbeit nimmt zu. Verteilungskonflikte werden schärfer. Die öffentliche und soziale Infrastruktur ist – gemessen an den gesellschaftlichen Anforderungen – in vielem marode. Ungleichheit von Vermögen und Einkommen und soziale Polarisierung haben zugenommen, die Sozialsysteme wurden ausgehöhlt. Das politische und Parteiensystem befindet sich in einem Prozess der Erosion, auch wegen des nachhaltigen Abgangs der Sozialdemokratie auf neoliberale Positionen und des Fehlens einer mehrheitsfähigen linken Alternative. Deutschland ist als Rüstungsexporteure aktiv beteiligt an der weltweiten Aufrüstungsspirale, forciert den Aufbau einer europäischen Rüstungsindustrie und trägt durch seine Auslandseinsätze dazu bei, Kriege als Mittel der vermeintlichen Konfliktlösung weiter zu legitimieren.

Zudem hat in der vergangenen Dekade der Widerspruch zwischen der globalen kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsweise und ihrer Naturbasis neue Brisanz gewonnen. Das zeigt sich vor allem in der Klimakrise. Politisch ist sie zu einem zentralen Feld der Auseinandersetzung geworden – mit Ausstrahlung auf alle Politikfelder und auf das gesamte Produktionssystem.

In der kommenden Dekade wird sich voraussichtlich entscheiden, ob die entscheidenden Maßnahmen zur Rettung des Klimas durchgesetzt werden können und welchen Entwicklungsweg die Bundesrepublik nehmen wird. Die Bundesrepublik steht vor tiefen strukturellen Umbrüchen – „Digitalisierung“ und „Dekarbonisierung“ sind hier die entscheidenden Stichworte. Das gilt besonders für den strukturbestimmenden industriellen Automobil-Komplex und die Energiewirtschaft. Das neoliberale Zentrum versucht, diese Umbrüche mit einer Kombination des „weiter so“ fortzuführen – ergänzt mit sozialen und ökologischen Zugeständnissen und Anpassungen. Sicherung und Verbesserung der Konkurrenzbedingungen des bundesdeutschen Kapitals sind dabei oberste Maxime. Das gilt auf der Ebene von Bundes- wie Landesregierungen und der Parlamente. Große Teile der Bevölkerung sehen aus unterschiedlichen Gründen ihre Interessen nicht respektiert, fühlen sich nicht mehr vertreten.

Die Offensive der autoritären Rechten erhält dadurch Auftrieb und wird weitergehen. Die Gefahr, dass es zu einem autoritären Kapitalismus kommt, ist real. Das wäre auch für die Klimapolitik ein harter Rückschlag. Gibt es demgegenüber im politischen Feld demokratische Alternativen? Was haben die Gewerkschaften, die sozialen und demokratischen Bewegungen und die Akteure der Linken im politischen Raum den kapitalistischen Verwerfungen entgegenzusetzen?

1. Demokratische Bewegungen: vielfältig, aber zu schwach

Die vergangene Dekade war eine Zeit des Aufschwungs vielfältiger sozialer Bewegungen und Proteste[3]. Allerdings konnten diese – trotz beeindruckender einzelner Manifestationen und Kämpfe – die offenkundige Krise des Neoliberalismus nicht nutzen, um die Entwicklung in eine fortschrittliche Richtung zu drehen.

Die sozialen Bewegungen und Proteste bewegen sich auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität entlang der im vorherigen Beitrag skizzierten zentralen Konfliktfelder. Da sind zum einen die Proteste und Bewegungen im öffentlichen Raum: Frauenbewegung und Frauenstreiks, Proteste gegen TTIP, Initiativen und zum Teil große Demonstrationen gegen Rassismus und Rechtsentwicklung, für Menschenrechte, Seenotrettung und Solidarität mit Geflüchteten, Bewegungen für Frieden und Abrüstung, gegen den Überwachungsstaat und neue Polizeigesetze, Bewegungen für bezahlbaren Wohnraum, gegen Mietenwucher und für die Enteignung der großen Wohnungsgesellschaften, Bewegungen für sexuelle Selbstbestimmung und Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe und die zahlreichen Demonstrationen gegen die Aufmärsche der Rechten. Es bewegt sich also viel.

2019 schließlich war – weltweit und auch in Deutschland – das Jahr des Aufschwungs der Ökologiebewegung; vor allem der Bewegung zur Klimarettung. Die Klimabewegung in Deutschland – hauptsächlich Fridays for Future (FFF) – ist im Kern eine Jugendbewegung, die ihre Aktions- und Mobilisierungsfähigkeit verstetigen konnte und sich rasch professionalisierte. Dabei stützt sie sich auf die modernen Kommunikations- und digitalen Medien. Beurteilt man FFF danach, ob die Bewegung das Ziel erreicht hat, den CO2-Ausstoß zu vermindern, war sie nicht erfolgreich. Erfolgreich war sie aber auf ganz andere Weise: Vor allem mit dem unkonventionellen Mittel der Schulstreiks praktizieren die Schülerinnen und Schüler eine Art Anpassungsverweigerung. FFF schaffte es, die Klimakrise innerhalb weniger Monate ins Zentrum der politischen und medialen Aufmerksamkeit zu bringen und die Notwendigkeit einer radikalen Klimapolitik stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Dass innerhalb eines Jahres alle politischen Kräfte gezwungen werden konnten, sich zur Klimakrise und zu einer Klimapolitik zu positionieren, ist im Wesentlichen ihr Verdienst. FFF hat auch andere – eher traditionelle – Umweltverbände wie den BUND und – mit Abstrichen – den NABU mitgezogen. Zusammen mit Initiativen wie „Ende Gelände“ und weiteren haben diese Bewegungen viel geleistet zur symbolträchtigen Rettung des Hambacher Waldes.

Resonanz im öffentlichen Raum

Die zahlreichen Proteste, Initiativen und Bewegungen agieren im öffentlichen Raum und richten ihre Forderungen an Regierung, Parlamente, Parteien und Verwaltungen. Wirkung erzielen sie am ehesten, wenn sie größere öffentliche Resonanz – Diskursmacht also – erzeugen können, so dass die adressierten Parteien und politischen Institutionen sich unter wahl- und medientaktischen Aspekten zur Reaktion veranlasst sehen. Dafür ist die mediale Vermittlung ausschlaggebend, zunehmend durch die digitalen Medien. Bislang bleiben aber Fernsehen und Massenpresse die entscheidenden Multiplikatoren[4].

Solche mediale Aufmerksamkeit hat ihre eigenen Regeln. Auch wenn die umkämpften Probleme noch so brisant sein mögen – wenn die Medien das Interesse verlieren und sich neuen kurzlebigen Themen zuwenden, lässt auch der politische Druck nach, den die Bewegungen erzeugen können. Unter anderem deshalb flammen manche dieser Proteste kurzzeitig heftig auf und ebben wieder ab. Regierungen und Parteien sehen sich in vielen Fällen stark genug, den öffentlichen Druck „auszusitzen“. Das hängt aber auch damit zusammen, dass es den Bewegungen bisher nicht gelungen ist, in die ökonomischen Kernbereiche der kapitalistischen Gesellschaft vorzustoßen und größere Teile der Lohnabhängigen für demokratische oder ökologische Forderungen und insbesondere für ökologische und soziale Reformen im Zusammenhang mit der Klimakrise zu mobilisieren.

Neue Akzente

Allerdings hat sich hier in den vergangenen Jahren etwas verändert. So erweiterte sich die antirassistische Bewegung – zeitweise durchaus eine Massenbewegung – von der Ein-Punkt-Initiative hin zu einem Bündnis, das – vor allem bei der großen Demo #unteilbar (Oktober 2018) – antirassistische und soziale Forderungen miteinander verband und damit auch andere Bewegungen und Organisationen wie etwa die Sozialverbände und Teile der Gewerkschaften mitziehen konnte. Diese Demo unterstrich, dass Rassismus, Sozialstaatsdemontage und autoritäre Deformation der Demokratie verschiedene Stränge derselben Realität sind.

Bei der Klimabewegung FFF zeigt sich Ähnliches. FFF hatte, gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse, mit konkreten Forderungen an die Politik begonnen und dafür ein exaktes Zeitfenster benannt, vor allem: Kohleausstieg bis 2035, Nettonull bei CO2-Emissionen bis 2030, sofortiger Stopp der Subventionen für fossile Energieträger, Abschalten eines Viertels der Kohlekraftwerke und eine CO2-Steuer mit einem Preis von 180 Euro pro Tonne. Diese Forderungen sind keineswegs „moderat“, wie manchmal vermutet: Ihre Realisierung müsste in die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse massiv eingreifen. Das wird allerdings von der Klimabewegung noch wenig wahrgenommen. Die betroffenen Einzelkapitale (die fossilen Konzerne) interessieren die Erkenntnisse der Wissenschaft wenig. Sie agieren nach ihren Profitinteressen. Der Staat zeigt ihnen einen für sie akzeptablen Weg: Begrenzte Umgestaltungen, die das Klima letztlich nicht retten, die sich aber medial verkaufen lassen und zudem mit staatlicher Hilfe aus Steuermitteln finanziert werden. So funktioniert Kapitalismus.

Es ist nur konsequent, dass das „Klimapäckchen“ der GroKo bei den Bewegungen scharfe Kritik auslöste und den Protest politisierte. Insgesamt ist die Bewegung in vielem heterogen. In einer Bewegung, die sich als ökologisch und basisdemokratisch versteht, finden ganz unterschiedliche Positionen ihren Platz. Bei vorschnellen Etikettierungen ist deshalb Vorsicht geboten. Und auch, wenn ihre Wortführer*innen das Agieren der fossilen Konzerne und der Politik scharf kritisieren, ist die Bewegung nicht dezidiert antikapitalistisch. Die von ihr mobilisierten Jugendlichen geraten aber in Konflikt mit kapitalistischen Profit- und Machtinteressen.

Inzwischen richten ihre Wortführer*innen ihre Anklage gezielter gegen „Politiker und Unternehmen aus dem Bereich fossiler Brennstoffe“, verurteilen das „Streben nach dem schnellen Geld“ auch um den Preis der Zerstörung der Ökosysteme (ein Sachverhalt, der ja auch kaum zu übersehen ist) und unterstreichen, Klimapolitik und der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen müssten sozialverträglich gestaltet werden. Auch bei „Ende Gelände“ finden sich ähnliche Entwicklungen. Innerhalb FFF agieren auch dezidiert kapitalismuskritische Gruppierungen wie „change for future“ und vernetzen sich, bilden aber eine Minderheit.

In einem Interview erklärte Luisa Neubauer, FFF habe sich nach langer Debatte für eine Bepreisung von CO2 ausgesprochen, obwohl „eine Bepreisung ein urkapitalistischer Gedanke ist und wir wissen, dass diese Wirtschaftsweise langfristig nicht funktioniert. Wir fordern die CO₂-Bepreisung dennoch, weil eine überwältigende Zahl von Ökonomen sagt, dass kurzfristige Mechanismen notwendig sind. Man kann nicht von jeder Klimaschutzmaßnahme erwarten, dass sie nebenbei den Kapitalismus abschafft.“ Auf die anschließende Frage, ob wirksamer Klimaschutz innerhalb des Kapitalismus funktionieren könne, antwortet sie ausweichend: „Ideologische Kämpfe entzweien uns und führen zu einer Starre.“[5]

Das ist eher der Versuch, eine entschiedene Position zu vermeiden. Bei Teilnehmenden an Klimademos verbindet sich Kritik an Konzernen und Regierung häufig mit Sympathie für die Grünen. Eine (nicht repräsentative) Befragung von Teilnehmenden einer FFF-Demo durch Sozialwissenschaftler der TU Darmstadt ergab folgendes Bild: 72 Prozent der Protestierenden haben wenig bis sehr wenig Vertrauen in das Handeln von Politiker*innen. 85 Prozent geben der Politik die „Schuld“ an der Klimakrise, 89 Prozent sehen die „Schuld“ bei den Großkonzernen. In der Sonntagsfrage kommen CDU/CSU und SPD zusammen nicht über die Fünf-Prozent-Hürde. Hingegen würden 62 Prozent die Grünen wählen, 12 Prozent die Linke, immerhin noch 10 Prozent „Die Partei“.[6]

2. Gewerkschaften: Revitalisierung und anhaltende Probleme

Bei den Gewerkschaften liegen die Dinge anders. Von ihnen werden Fortschritte in der Klimapolitik in hohem Maße abhängen. Diese Herausforderungen stellt sie vor große Probleme. Ihre Einbußen an Organisations- und Mobilisierungsmacht während der Jahrzehnte der neoliberalen Offensive wiegen schwer – von denen sie allerdings unterschiedlich stark betroffen waren. Mit ihren jetzt knapp 6 Millionen Mitgliedern und ihrer betrieblichen Verankerung sind sie aber – trotz dieser Rückschläge – nach wie vor die mit Abstand stärkste organisierte Interessenvertretung der Lohnabhängigen und sie verfügen – zumindest theoretisch – aufgrund ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit über das größte gesellschaftspolitische Durchsetzungspotenzial. Das zeigt sich insbesondere dann, wenn sie ein aktives politisches Mandat wahrnehmen und dessen Ziele in ihrer Mitgliedschaft verankern können.

Im Verlauf der großen Krise 2008/09 gelang ihnen ein zeitweiliges – medial getragenes – Comeback als von Regierung und Unternehmerverbänden plötzlich wieder geschätzter korporatistischer Co-Manager[7]. Sie blieben aber trotzdem „geschwächte Akteure“[8] in einem neoliberal geprägten Umfeld, dessen andere Akteure vorübergehend auch schwach waren. Ihre Machtbasis erodierte weiter. Und sie zahlten für ihren zeitweiligen Image-Gewinn einen hohen Preis: Auch das Kapital profitierte vom Krisenkorporatismus und stärkte seine Machtposition, indem es z.B. die Kernbelegschaften finanziell mehr an sich band. Schon kurz nach der Krise explodierten die Gewinne wieder. Die Gewerkschaften blieben mehrheitlich fixiert aufs ökonomisch-soziale Kerngeschäft und auf die Stammbelegschaften. Abgesehen von einigen sozialen (durchaus wichtigen) Abmilderungen, die ihnen gelangen, konnten sie weitere Reallohnverluste zunächst nicht verhindern, ebenso wenig die weitere Deregulierung der Arbeitsbeziehungen und weitere Sozialdemontage. Bereits vollzogene soziale Rückschritte wie die Rente mit 67 (2007) blieben bestehen, ohne dass sie dagegen mobilisierten. Die Prekarisierung der Arbeitsbeziehungen verfestigte sich auf hohem Niveau, das arbeitspolitische Rollback von Unternehmerverbänden und Politik ging weiter.

Dass die (meisten) Arbeitsplätze der Stammbelegschaften gerettet werden konnten, wurde von vielen Beschäftigten und IG Metall-Mitgliedern dankbar aufgenommen. Die Gewerkschaftsvorstände verbuchen das – bis heute – als Erfolg. Längerfristig konnten sie aber die Blamage des durch die Krise bloßgestellten Neoliberalismus nicht für eine Stärkung kapitalismuskritischer Positionen nutzen. Trotz deutlich hörbarer kritischer Stimmen verharrten sie in der strategischen Defensive. Es blieb auch bei ihrem weitgehenden Verzicht auf ein gesellschaftspolitisches Mandat. Das ökologische Engagement und die ökologische Kompetenz der Gewerkschaften blieben schwach und hinter den Anforderungen zurück.

Erst etwa ab 2013/14, unter sehr viel günstigeren Bedingungen anziehender Konjunktur, konnten die Gewerkschaften nach Jahren des Verzichts wieder Reallohnzuwächse (um zumeist 1 bis 1,5 Prozent) durchsetzen. Das Jahr 2015 markiert den Beginn einer – bis heute anhaltenden – Belebung gewerkschaftlicher Streikaktivitäten und Arbeitskonflikte[9]. Das alles waren Anzeichen einer gewissen Revitalisierung gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit. Das Streikgeschehen wurde heftiger, war aber auch stärker dezentralisiert und zersplittert. Neben die schrumpfende „erste Welt“ der tariflichen Kämpfe trat immer stärker eine „zweite Welt“ der Abwehrkämpfe in „entstandardisierten“ Arbeitsbeziehungen (Häuserkämpfe) vor allem im Dienstleistungsbereich.[10]

Unter dem Druck der Rechtsentwicklung und der sich zuspitzenden Probleme, vor allem der Verknüpfung der Klimakrise mit strukturellen Umbrüchen (Ausstieg aus den fossilen Energieträgern, Digitalisierung) gegen Ende der Dekade formulierten IG Metall und ver.di stärker den Zukunftsentwurf einer solidarischen Gesellschaft – eine erste Antwort auf die entsolidarisierende neoliberale Politik. Allerdings fehlen diesem Entwurf bisher die konkreten Konturen. Der allgegenwärtige gewerkschaftliche „Gestaltungs“-Diskurs bezieht sich nach wie vor stark auf eine von Kapital und Politik angetriebene Entwicklung, die nur abgemildert und abgefedert werden soll. Ein Trend hin zu einer Verschiebung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses zugunsten der Lohnabhängigen ist damit noch nicht in Sicht.

Das Festhalten der Gewerkschaften an der GroKo als dem „Garanten“ bescheidener sozialer Fortschritte für die Beschäftigten passt dazu. DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann ist da schon mit wenig zufrieden: Lieber schnell ein paar kleine soziale Korrekturen, solange die SPD noch als Koalitionspartner gebraucht wird – und das wird spätestens nach der nächsten Wahl nicht mehr der Fall sein. Insgesamt bewegen sich die Gewerkschaften weiterhin in einem unaufgelösten „Spannungsfeld zwischen konservierender und transformierender Interessenpolitik“[11]. Das gilt auch für ihre Beiträge zur Klimakrise.

Die kapitalistischen Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse im Produktions- und Reproduktionsbereich bilden weiterhin das Zentrum der sozialen Frage des 21. Jahrhunderts. Aber diese Frage umfasst weitere Problembereiche, nämlich die Verteidigung und Erweiterung der Demokratie gegen die Tendenz zu einem autoritären Kapitalismus, das Engagement für Frieden und Abrüstung und in besonders hohem Maße das Ringen ums Überleben der Zivilisation in der ökologischen und Klimakrise.

Es ist bisher nicht gelungen, Mehrheiten der Lohnabhängigen für diese erweiterten Ziele in Bewegung zu bringen. Das ist die entscheidende Blockade für ein progressives Umsteuern: Gründe dafür finden sich sowohl bei den Gewerkschaften als auch bei den sozialen Bewegungen.

3. Unterschiedliche politische Kulturen

Nach wie vor sind beide Seiten – die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen, vor allem die Klimabewegung – durch völlig unterschiedliche politische Kulturen geprägt. Dieses Fremdeln zwischen Gewerkschaften und außerparlamentarischen Bewegungen hat in der Bundesrepublik eine jahrzehntelange schlechte Tradition.

Für die Klimabewegung steht die Abwehr des Klimawandels im Vordergrund, als ein Existenzproblem für die Menschheit, dessen Lösung gegenüber allem anderen Priorität haben müsse. Sicherlich müsse die ökologische Transformation, insbesondere der Ausstieg aus der Kohle, sozial kompensiert werden, soviel wird eingeräumt. Zur Lösung dieses Problems sieht sie aber andere in der Pflicht, vor allem die Politik. Diese Position bestätigen auch Umfragen bei den jugendlichen Teilnehmenden an Klimademos. Über 70 Prozent der Befragten finden den Klimaschutz „wichtiger“ als den Erhalt von Arbeitsplätzen.[12]

Anders die Gewerkschaften. Die von ihnen vertretenen Lohnabhängigen nehmen die Klimakrise in erster Linie als Bedrohung ihrer Arbeitsplätze und ihrer Konsum- und Lebensweise wahr. Für sie hat die Abwehr der sozialen Folgen einer neuen Klimapolitik Vorrang.

Beide Positionen sind für sich genommen verständlich. Die Protestbewegung von Jugendlichen in außerbetrieblicher Ausbildung, noch vor dem Eintritt ins eigentliche Berufsleben, kämpft mit moralischen Appellen um ihre Zukunftsperspektive. Die Beschäftigten in vom Strukturwandel erfassten Bereichen sind dagegen auf materielle Existenzsicherung und Schutz vor sozialem Abstieg aus. Beide Tendenzen ergeben für sich genommen kein schlüssiges Gesamtkonzept für einen sozial-ökologischen Umbau, sofern sie die kapitalistisch geprägte destruktive Produktivkraftentfaltung lediglich in ihren Folgen abmildern wollen. Forderungen und Reformvorschläge dieser Art gehen dann grundsätzlich auf Kosten des jeweils anderen. Benötigt wird letztlich aber ein eigenständiges Projekt einer Produktivkraftentwicklung, die kapitalistische Profitinteressen zurückdrängt und überwindet. Die notwendigen Schritte etwa zum Kohleausstieg und zur CO2-Minderung müssen hier und jetzt gegen Kapitalinteressen durchgesetzt werden. Dazu braucht es breite demokratische Mobilisierung. Dazu müssten Gewerkschaften und Klimabewegung mit einer eigenständigen Perspektive – sozusagen einer „konkreten Utopie“ – verbündet agieren sowie gemeinsame Strategien im Bewusstsein aller Problemstellungen entwickeln. Davon sind beide Seiten noch weit entfernt.

Gewerkschaften und Klimafrage

Die vergangenen Gewerkschaftstage von IG Metall und ver.di haben gezeigt, dass sich beide wieder stärker als soziale Bewegungen verstehen, dass sie wieder politischer werden wollen. Es gab zahlreiche Beschlüsse gegen Rechts, für mehr Demokratie, gegen Rassismus und für eine ökologische Umgestaltung. Es gibt in den Gewerkschaften schon länger auch eine kreative Diskussion um die „Ökologie der Arbeit“. Dies alles fließt in die gewerkschaftliche Praxis aber noch zu wenig ein.

Das vergangene Jahr brachte auch eine vorsichtige gewerkschaftliche Annäherung an die Klimafrage und ein Stück weit auch an die Klimabewegung. Das ist aber nicht mehr als ein erster Schritt. Und genau besehen ein zögerlicher. Im gemeinsamen Papier von IG Metall, NABU und BUND (Juli 2019) werden die mit einer ökologischen Umgestaltung zusammenhängenden Machtfragen umgangen. Es bleibt im Ungefähren, gegen welche konkreten Interessen notwendige Reformschritte mit demokratischen Mehrheiten durchgesetzt werden sollen[13]. Die Politik wird zum Handeln aufgefordert, aber die Forderungen an die Konzerne, die zur Finanzierung der ökologischen Transformation herangezogen werden müssten, bleiben unkonkret. Im Gegenteil: Staat und Steuerzahler*innen werden zur Ko-Finanzierung der Umbaukosten der Autokonzerne aufgefordert, zur Absicherung ihrer Kapitalverwertung durch Kaufprämien, Steuervorteile, Subventionen, Infrastrukturfinanzierung usw. Das wird zwar begleitet von gewerkschaftlichen Forderungen nach Abwendung von der „schwarzen Null“, stärkerer Besteuerung „hoher Vermögen und Erbschaften“, um notwendige Reformen und Konversionen zu finanzieren. Aber das kann wohl kaum als eine eigenständige ökologisch-soziale Reformstrategie interpretiert werden.

Auch der ver.di-Bundeskongress vom September 2019 hat sich in seinen Beschlüssen einem anspruchsvollen Klimaschutz verpflichtet. In dem Beschluss „Nachhaltige Wirtschaft und aktiver Staat“ finden sich Bekenntnisse zu Klimaschutz und einem nachhaltigen sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, der verbunden sein müsse mit guter Arbeit und sozialer Sicherheit und der die betroffenen Menschen „mitnimmt“. Die Gewerkschaft unterstützte den Kohleausstieg bis 2038, besser 2035, plädierte für eine ökologische Verkehrswende, kritisierte das „Klimapaket“ der GroKo, sprach sich für ein Bündnis mit der Umweltbewegung aus. Vertreterinnen von FFF sprachen ein Grußwort auf dem Kongress. Entgegen den Empfehlungen der Antragskommission wurde der Beschluss in einigen Punkten schärfer formuliert. Der Beschluss setzt auf einen starken demokratischen Staat, der all das umsetzen soll, benennt aber keine Mobilisierungsstrategie gegen die Kohlekonzerne, die das mit aller Macht verhindern wollen. Wenige Monate später arrangierte ver.di sich mit der Inbetriebnahme des Kohlekraftwerks Datteln 4 – zusammen mit der IG BCE und dem DGB. NRW-Ministerpräsident Laschet (CDU) lobte die Gewerkschaften dafür ausdrücklich.

Zurück zum Strukturkonservatismus?

Unverkennbare Fortschritte in den klimapolitischen Beschlüssen, aber ein Zurückgehen auf korporatistische Positionen in der Praxis und Verzicht auf eine eigenständige Reformstrategie – so etwa stellte sich die Situation zu Beginn des Jahres dar, z. B. beim von der IG Metall mitgetragenen „Autogipfel“ (Januar 2020). Die IG Metall ist beim Lobbyverband „Nationale Plattform Mobilität“ dabei. Das ist ein typisches staatsmonopolistisches Lenkungsgremium, in dem Auto-, Chemie- und Energiekonzerne, VDA, BDI und Vertreter der Ministerialbürokratie das Sagen haben und der NABU im „Redaktionsteam“ mitreden darf.

Selbstverständlich ist es für die Gewerkschaft essenziell, auch in solchen Gremien die Arbeitsplätze der Beschäftigten in der Automobilindustrie zu verteidigen und dort, wo das nicht möglich ist, neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu erschließen. Deshalb forderte die IG Metall von der Bundesregierung massive Unterstützung durch erweitertes Kurzarbeitergeld und ausreichend finanzierte Qualifizierungsangebote für neue Stellen. Was aber ist mit den rund 30.000 Leiharbeitern, die im zweiten Halbjahr 2019 ihre Jobs schon verloren haben?

Das von den „Sozialpartnern“ – also vom Verband der Automobilindustrie, dem Kapitalverband Gesamtmetall und der IG Metall – vorgetragene Forderungspaket schließt auch staatliche Milliardensubventionen „in zweistelliger Höhe“ ein. Also ein Subventionierungsprogramm für eine Branche, die im Geld schwimmt, die Strafgelder in Milliardenhöhe wegen des Dieselskandals zahlen muss und auch kann, deren ehemalige Konzernchefs wegen des Dieselbetrugs in U-Haft saßen und Gerichtsprozesse zu gewärtigen haben, eine Branche, die die technologische Umstrukturierung verschlafen hat, die den Anteil umweltschädigender SUV an ihrer Produktpalette systematisch hochfährt, weil dies ihr profitabelster Sektor ist und die die Subventionen, falls es sie gibt, auf jeden Fall auch zur weiteren Profitmaximierung und Rationalisierung nutzen wird. Von der stärkeren Besteuerung hoher Vermögen zur Finanzierung notwendiger Reformen, wie es der Gewerkschaftstag forderte, war hier keine Rede mehr, ebenso wenig von einer demokratischen öffentlichen Kontrolle eventuell bereitgestellter Steuergelder. Noch nicht einmal von der Forderung, den Kampf um den Erhalt von Arbeitsplätzen mit dem Kampf um Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich zu verbinden oder auch über die „kurze Vollzeit für alle“ zu sprechen – womit der Punkt erreicht wäre, ein sozialökologisches Umbaukonzept mit der Eigentumsfrage zu verknüpfen.

Die gegenwärtigen Umbrüche sind keine einfache Neuauflage der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09. Die Rezepte, die damals gewirkt haben, sind diesmal von fragwürdigem Nutzen. Im Kern war das die Ausweitung der Kurzarbeit. Das ist diesmal anders. Was hier als tripartistischer Zukunftspakt erscheint, bietet vielleicht kurzfristige Milderung, aber keine wirkliche Zukunft. Und schon gar keine Schritte zu einer ökologischen Reform. In der Krise 2020 verbinden sich konjunkturelle Rückgänge mit tiefen strukturellen Umbrüchen, die auch mit der Klimafrage und dem Abschied vom Verbrennungsmotor und von den fossilen Energieträgern zusammenhängen. Die Konjunktur wird sich nicht nach kurzer Durststrecke wieder in der gewohnten Weise erholen. Die FAZ[14] forderte die Gewerkschaften auf, mit dem Kapital weitergehende „gemeinsame Lösungen“ zu suchen, über die Kurzarbeit hinaus.

Die Gewerkschaften wären gut beraten, eigene kämpferische Konzepte zu entwickeln. Am besten in Konkretisierung und praktischer Umsetzung dessen, was der wiedergewählte Erste Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, am Schluss seines Zukunftsreferats auf dem Gewerkschaftstag 2019 sagte: Wir „werden auch die nächsten Jahre dafür kämpfen, dass wir unserem Ziel einer humanen, solidarischen und vielfältigen Gesellschaft näherkommen. Für eine Gesellschaft, die die im Gegenwartskapitalismus angelegte Spaltung in Gewinner und Verlierer überwinden muss. Für eine Gesellschaft, in der die gesellschaftliche Übereinkunft und nicht die Gesetze des Marktes die Zukunft bestimmen. Sozial, ökologisch und demokratisch.“

Inkonsequenzen und neue Konflikte

Die sozialen Bewegungen sind zwar mit ersten Schritten auf die Gewerkschaften oder zumindest auf das Problem der sozialen Seite der ökologischen Umgestaltung zugegangen. Das äußert sich in vielen verbalen Bekundungen. Allerdings ist die Solidarität dieser Bewegungen mit gewerkschaftlichen Kämpfen und überhaupt ihre Wahrnehmung dieser Kämpfe weiterhin nur schwach – wie der Arbeitszeitstreik der IG Metall 2018, die ver.di-Streiks gegen den Pflegenotstand oder die Streiks bei amazon – zeigen. Diese Kämpfe weisen neue Züge auf, sie sind politischer und hängen stärker von der Diskursmacht und Bündnisfähigkeit der Gewerkschaften auch mit der Zivilgesellschaft und von der Solidarität der sozialen Bewegungen ab. Vor allem der neue Charakter des Arbeitszeitstreiks ist aber in den sozialen Bewegungen weithin nicht erkannt worden. In der Klimabewegung gibt es bisher wenig Bewusstsein dafür, dass sie alleine nicht in der Lage sein wird, einen echten Kurswechsel zu mehr Klimaschutz durchzusetzen, dass sie Bündnispartner braucht. Die Gewerkschaften hat sie dabei eher nicht im Blick.

Auf der anderen Seite präsentieren sich die Gewerkschaften trotz neuer Akzente keineswegs als Schrittmacher des Klimaschutzes, hier und da sogar als Bremser. Ein aktives Engagement der Gewerkschaften für allgemeindemokratische und ökologische Ziele ist noch immer erst in Ansätzen erkennbar und, wenn es konkret werden müsste, auch inkonsequent. Inzwischen stehen die Beschäftigten im Organisationsbereich der IG Metall massiv unter dem Druck von Umstrukturierungen, Auslagerungen und Arbeitsplatzabbau in der Automobilindustrie, bei den Herstellern und den Zulieferbetrieben. Kapitalvertreter drohen der IG Metall mit (weiterer) Tarifflucht. Es zeichnen sich härtere Zeiten ab, auch für eine sozialökologische Reformstrategie.

Die Klimabewegung hat mit dem Problem zu kämpfen, dass ihre berechtigten Forderungen bei der Mehrheit der lohnabhängigen Beschäftigten nur begrenzt auf Resonanz, teilweise auf Skepsis stoßen und an den ökonomisch und politisch Herrschenden weitgehend abprallen. Die Aktivisten der Klimabewegung erleben auch, dass der progressive Neoliberalismus in der Lage ist, ihre Forderungen partiell aufzunehmen und in Politikkonzepte zu integrieren, die nur dem Anschein nach auf Klimaschutz ausgerichtet sind. Und auch die demokratischen Bewegungen gegen Rassismus und gegen Rechts bekommen Sonntagsreden zu hören, konnten aber die autoritäre Wende bisher nicht wirksam aufhalten. Das wirft zwei Fragen auf: Wie agieren die politischen Adressaten der Konflikte in Regierungen und Parlamenten? Und wie kann es gelingen, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse so zu verändern, dass aus berechtigten Forderungen wirksamer Druck zur Veränderung entsteht?

4. Parteipolitische Akteure

Wenn es darum geht, wie die Forderungen von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen auf der politischen Ebene umgesetzt werden könnten, wäre hier vor allem über SPD und Grüne zu sprechen. Nicht nur über ihre aktuellen Grundsatzprogramme und Beschlüsse, sondern vor allem über ihre politische Praxis in den jeweiligen Koalitionen. Zu sprechen wäre auch über die Partei Die Linke. Dort ist die Strategiedebatte nach den Wahlergebnissen der letzten Monate noch im Gange.

+ Zur SPD: Die knappe Mehrheit der abstimmenden SPD-Mitglieder für die neue Führung war auch ein Aufbegehren gegen die perspektivlose Gefangenschaft der SPD in der stagnierenden GroKo. Darin liegt aber auch viel Hilflosigkeit, denn die Gewählten hatten gar kein Alternativkonzept für die Oppositionsrolle gegenüber dem neoliberalen Zentrum. Knapp war das Ergebnis, weil überhaupt nur 54 Prozent der 430.000 SPD-Mitglieder abstimmten; 53 Prozent von ihnen votierten für Esken und Walter-Borjans. Das spricht eher für eine resignative Stimmung in der Mitgliedschaft.

Nach ihrem desaströsen Ergebnis bei der Bundestagswahl vom September 2017 wird die SPD definitiv nicht nur nicht mehr als Herausforderer der CDU wahrgenommen, sie sieht sich auch selbst nicht mehr so. Zwanzig Jahre Neoliberalisierung haben diese Partei völlig ausgelaugt. In der SPD gibt es keine nennenswerte linke Strömung mehr. So überrascht es wenig, dass Walter-Borjans und Esken sogleich dem neoliberalen SPD-Establishment (dem eigentlichen Machtzentrum) die Zusammenarbeit anboten und die Forderung nach Rückzug aus der GroKo aufgaben. Seither hat das neue Vorsitzenden-Duo eine Kaskade von Forderungen und Vorschlägen unterbreitet: Vermögenssteuer, Bodenwertzuwachssteuer, 12 Euro Mindestlohn, Ende der „schwarzen Null“ usw. Allerdings verhallen diese Forderungen recht schnell. Das SPD-Establishment in den Fraktionen und Ministerien lässt sie abperlen, Finanzminister Scholz bekräftigt das Festhalten an der „schwarzen Null“.

Der Beschluss des SPD-Parteitags vom Dezember 2019 mit seinen vielen unverbindlichen Ankündigungen und Vorschlägen nimmt die Realitäten des deutschen Gegenwartskapitalismus gar nicht zum Ausgangspunkt. Er ist ein moralisch angelegter vager Wunschkatalog, der auf Abmilderung der bisherigen, auch von der SPD verantworteten Missstände zielt, der völlig offen lässt, gegen wen und mit wem die SPD das wann, wo und wie erreichen will. Der Widerspruch zum Verbleib in der GroKo ist offensichtlich. Eine linke und demokratische Alternative zum neoliberalen „weiter so“ ist das nicht.

+ Die Grünen: Sie werden als weithin zustimmungsfähige, auf politische Veränderung drängende „moderne“ Kraft wahrgenommen. Sie profitieren von den Klimaprotesten, ohne dafür etwas tun zu müssen. Dafür reicht ihr grünes Image. Politisch streben sie zur CDU oder sind schon dort, werden in dieser Konstellation von vielen positiv gesehen als dynamisches und modernisierendes Korrektiv zur reinen neoliberalen Politik. In ihren sozialpolitischen Konzepten verbinden sie das Festhalten an der „schwarzen Null“ mit der vagen Ankündigung einer Investitionsoffensive für Klimaschutz und Konjunktur. Sie versprechen ein großes „Reformpaket“ für bessere Bildung, besseres Gesundheitswesen, bessere Arbeitsbedingungen, mehr soziale Gerechtigkeit und gerechte Verteilung des Reichtums. Sie plädieren auch für „echten Klimaschutz“, umweltfreundlichen Verkehr und nachhaltige Landwirtschaft. Das sind sympathisch klingende, aber völlig unverbindliche Ankündigungen ohne detaillierte Konzeption – bspw. hinsichtlich Finanzierung –, die moralisch begründet sind und die nicht die realen Machtverhältnisse zum Ausgangspunkt nehmen, die diese Probleme hervorgebracht haben, auch unter grüner Beteiligung. In der Praxis muss mit weiteren faulen Kompromissen gerechnet werden. Es gibt hier keine sozialen oder ökologischen Haltelinien. Aufrüstung und die Militärmacht Westeuropa würden auch mit den Grünen unproblematisch weitergehen, ebenso Auslandseinsätze der Bundeswehr. Umverteilung von oben nach unten bliebe lediglich eine vage Wunschvorstellung. Die aktuellen Beschlüsse der Grünen, z. B. zur Klimapolitik, zielen ausschließlich auf marktwirtschaftliche Instrumente. Die Grünen bleiben den Nachweis schuldig, wie sie eine wirksame Klimapolitik durchsetzen wollen, ohne sich mit den fossilen Konzernen anzulegen und ohne die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse anzutasten.

+ Und was ist mit der Partei Die LINKE? Aufschluss gibt z. B. der Blick in das aktuelle Positionspapier „Der rote Faden für Klimagerechtigkeit“ vom 5. November 2019. Es ist eine Art Kompromisspapier zwischen den miteinander streitenden Strömungen, das zwar viele durchaus zustimmungsfähige Detailforderungen enthält, aber gerade dadurch eine gewisse Beliebigkeit aufweist und einen klaren Markenkern vermissen lässt, der Die LINKE von den Grünen und der SPD oder von Positionen der Klimabewegung deutlich unterscheidbar macht und als kompetent ausweisen könnte. Dieser Markenkern kann nicht darin bestehen, „etwas mehr“ zu fordern als die anderen. Der ganze Forderungskatalog ist in der Hauptsache durch moralische Werte begründet („Geist sozialer Gerechtigkeit“, „Bündnis von Klimagerechtigkeit, sozialer Gerechtigkeit und Demokratieentwicklung“, „Fairness für alle“). Er beruht nicht auf einer konkreten Analyse der kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse, die die Klimakrise hervorgebracht haben. Und er ist auch erstaunlich unpolitisch, z. B. gegenüber der Pseudo-Klimapolitik der GroKo und der Art, wie sie die Profitinteressen der Automobil- und Kohlekonzerne bedient. Dazu heißt es lediglich: „Die Klimakrise ist das größte Marktversagen in der Menschheitsgeschichte“. Zwar ist die Rede davon, „die dominierenden Energiekonzerne“ seien zu „entmachten“ und die „mächtigen Beharrungskräfte, die mit dem fossilen Weiter-So Profite machen“ seien zu „überwinden“. Und es heißt auch: „Die Reichen müssen gerecht besteuert werden“. Sehr viel anders hört es sich bei der Klimabewegung aber auch nicht an. Bis wann, wie und gegen wen soll der Ausstieg aus der Kohle durchgesetzt werden? Wie gelingt es, die betroffenen Beschäftigten dabei „mitzunehmen“? Welche nächsten Schritte für eine ökologische Mobilität werden angepeilt? Was müssten die nächsten Schritte sein, um die Automobilindustrie ökologisch und sozial umzugestalten? Und wie genau soll der „verlässliche Sozialstaat“ geschaffen werden, der bei Millionen Menschen die „Bereitschaft“ wecken kann, sich „für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zu engagieren“?

Auf die Kräfteverhältnisse kommt es an

Nach Lage der Dinge spricht nichts dafür, Hoffnungen auf Rot-Rot-Grün in den Mittelpunkt der Überlegungen zu einer zukünftigen linken Politik zu stellen. R2G ist ein „Wolkenkuckucksheim“, wie es Georg Fülberth zutreffend formulierte.[15] Es kommt viel mehr darauf an, in die hier skizzierten gesellschaftlichen Konflikte im Sinne einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse einzugreifen. Dann müsste der Blick nicht fixiert bleiben auf parlamentarische Konstellationen, auch wenn sie natürlich wichtig sind. Parlamente und Regierungen sind aber nicht das Zentrum der Macht.[16] Aber auch der Blick auf die sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften und die Ansätze zu einem verbündeten Agieren (vielleicht auf getrennten Wegen, aber mit gemeinsamem konkretem Ziel) ist derzeit ernüchternd.

Letztlich kommt es darauf an, dass diese Bewegungen die herrschende Politik angreifen und den politischen und gesellschaftlichen Druck in Richtung auf einen ökologischen und sozialen Umbau verstärken. Das muss in den nächsten Jahren, auf jeden Fall im kommenden Jahrzehnt, gelingen. Der Kampf um eine ökologische und soziale Wende ist ein Machtkonflikt um die Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse nach links, gegen den staatsmonopolistischen Komplex aus fossilen Konzernen und Politik. Sicherlich müssen auch die politischen Akteure, die Parteien „überzeugt“ werden. Eine progressivere politische Konstellation als die GroKo würde vieles erleichtern. Am ehesten aber dann, wenn breite demokratische Mehrheiten für die Ziele einer sozialen und ökologischen Reformpolitik mobilisiert werden können und wenn sie an der Ausarbeitung dieser konkreten Ziele beteiligt werden. Vor dieser Herausforderung stehen die Gewerkschaften und die Klimabewegung auf unterschiedliche Weise.

Die ökologische Umgestaltung sozial abzusichern ist eine richtige, aber nicht ausreichende Forderung. Eine soziale Klimapolitik erfordert vielmehr, der enormen sozialen Ungleichheit zu Leibe zu rücken, eine massive Umverteilung von oben nach unten durchzusetzen und eine demokratisch gesteuerte ökologische und soziale Investitionsoffensive in Gang zu setzen, die von denen finanziert wird, die die Probleme verursacht haben. Das ist ohne eine kämpferische Auseinandersetzung mit Kapital und Politik nicht zu haben. Das Ringen um eine sozial-ökologische Umgestaltung muss im Gegenwartskapitalismus beginnen, die entscheidenden Weichenstellungen müssen jetzt und in der nächsten Zukunft erkämpft werden. Für linke Politik stellt sich zudem die Aufgabe, in diesen Konflikten eine zusammenführende Rolle zu spielen und dabei eine über den Kapitalismus hinausweisende Perspektive zu entwickeln.

[1] In diesen Beitrag sind Hinweise von Jörg Goldberg, Dominik Feldmann, André Leisewitz und Maurice Laßhof eingeflossen. Er knüpft an die im voranstehenden Artikel entwickelte Krisenanalyse an.

[2] S. Frank Deppe, Überlegungen zum Charakter der politischen Krise. In: Z 117 (März 2019), S. 15ff.

[3] André Leisewitz/Jürgen Reusch/Gerd Wiegel/Michael Zander, „Pressure from without“ – Soziale und politische Proteste und Bewegungen 2008 - 2018. In: Z 117 (März 2019), S. 87ff.

[4] Ebd. S. 96.

[5] Der Freitag 3/2020 v. 16. 1. 2020; www.freitag.de/autoren/jaugstein/joe-kaeser-glaubt-das-wirklich.

[6] Daniel Behruzi, Befragung bei „Fridays for Future“ dokumentiert Entfremdung von politischen Institutionen. In: junge Welt v. 5. 10. 2019.

[7] Stefan Schmalz, Das Ende des Niedergangs? Deutsche Gewerkschaften in der Krisenperiode seit 2008. In: Z 100 (Dezember 2014), S. 153ff.

[8] Ebd. S. 159.

[9] S. dazu die Analysen im Streikmonitor: Lea Schneidemesser/Juri Kilroy, Der Streikmonitor. In: Z 106 (Juni 2016), S. 160ff., sowie die seither halbjährlich in Z erscheinenden Übersichten über die Arbeitskonflikte, zuletzt in Z 120 (Dezember 2019).

[10] Stefan Schmalz/Lea Schneidemesser, Arbeitskonflikte um Gute Arbeit: Tendenzen, Bilanz, Perspektiven. In: Lothar Schröder/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.), Gute Arbeit: Transformation der Arbeit Ein Blick zurück nach vorn, Frankfurt/Main 2019, S. 252–264.

[11] Klaus Dörre, Die Gewerkschaften – progressive Akteure einer Nachhaltigkeitsrevolution? In: spw 233, 2019, S. 38.

[12] S. Anm. 6.

[13] Michael Erhardt: IG Metall und Umweltverbände – eine notwendige Annäherung. In: Z 119 (September 2019), S. 17ff.

[14] „Was Kurzarbeit nicht leisten kann“. In: FAZ v. 23. 1. 2020.

[15] Georg Fülberth, Im Wartestand. In: junge Welt v. 23. 12. 2019.

[16] Genau das ist gemeint mit dem Kurt Tucholsky zugeschrieben Zitat, spöttisch auf die von der SPD mitgetragenen Koalitionsregierungen der 1920er Jahre gemünzt: „Sie dachten, sie seien an der Macht. Dabei waren sie bloß an der Regierung.“

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