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Ein Großer Text

Über "Der Implex" von Dietmar Dath und Barbara Kirchner

Juni 2012

Die Form

Der Untertitel des Buches „Der Implex“ von Barbara Kirchner und Dietmar
Dath1 heißt „Sozialer Fortschritt. Begriff und Geschichte“, handelt also von
Gesellschaftlichem. Bevor Soziologen, Politologen, Philosophen, Ökonomen
und Historiker sich damit befassen, sollten sie eine Warnung zur Kenntnis
nehmen, die gleich im ersten Satz steht. Sie lautet:
„Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Monographie, kein Manifest, keine
philosophische Abhandlung.“
Das überrascht. Tatsächlich wird 835 Seiten lang über Gesellschaft, Politik,
Kunst, Philosophie räsoniert. Das Buch hat Anmerkungen, Literaturverzeich-
nis und Register wie ein wissenschaftliches Werk.
Dennoch werden Spezialistinnen und Spezialisten verschiedener Disziplinen
sich aufregen. Sie müssen den durchaus zutreffenden Eindruck gewinnen, als
seien die Erträge ihrer Fächer nur Material zu einem Zweck, der außerhalb
liegt. Ergebnisse werden abgegriffen, oft nur im Namedropping erwähnt, Lob
und Tadel werden verteilt, aber zuweilen im Detail nicht begründet. Hinterher
erscheinen die Fächer geplündert, und die Lieferanten fragen sich, was
schließlich daraus neu erstellt werden soll.
Kirchner und Dath antworten: „Man könnte sagen, dass das Buch eine Art
Roman in Begriffen ist: Es begleitet die Schicksale von Versuchen, die Welt
besser einzurichten, als die neuzeitlichen Menschen sie vorfanden, als sie an-
fingen, neuzeitliche Menschen zu sein.“
Der wissenschaftliche Aufwand scheint ein literarisches Ziel zu haben: er
trägt Material zu einem Roman über ein gesellschaftlich relevantes Thema
herbei. Kirchner und Dath versuchen sich – einzeln und zu zweit – seit über
einem Jahrzehnt im erzählenden Genre. Barbara Kirchner schrieb den Roman
„Die verbesserte Frau“ (2001), gemeinsam mit Dietmar Dath verfasste sie
„Schwester Mitternacht“ (2002). Es handelt sich um Thriller mit Science Fic-
tion, auch mit gezielt eingesetzter Pornographie.
Es sind zugleich politische Texte. Thema ist die Einfunktionierung von Wis-
senschaft in Macht und Herrschaft. Ein programmatisches Gerüst wurde 2008
in der Programmschrift „Maschinenwinter“ von Dietmar Dath sichtbar. Orien-
tiert an Marx und Saint-Simon hält er sich nicht damit auf, Wissenschaft und
Technik als instrumentelle Vernunft zu verbellen, sondern sieht sie als durch
eine verkehrte Gesellschaft gefesselte Emanzipations-Potentiale. Der letzte
Satz lautet: „Die Menschen müssen ihre Maschinen befreien, damit die sich
revanchieren können.“
Das Manifest „Maschinenwinter“ hätte politisch diskutiert werden müssen.
Dies geschah nicht. Zu den Gründen mag gehören, dass ein gleichzeitiger lite-
rarischer Erfolg der Debatte über die Broschüre im Weg lag: Dietmar Daths
Roman „Die Abschaffung der Arten“, ebenfalls 2008, kam auf die Shortlist
des Deutschen Buchpreises, landete nur ganz knapp hinter Tellkamps „Der
Turm“, wurde in den Feuilletons, wie bei ihm üblich, kontrovers, aber breit
besprochen, ist inzwischen auch ins Englische übersetzt und festigte seinen
Ruf als Dichter. Die linken Milieus, von denen man eine Debatte über „Ma-
schinenwinter“ hätte erhoffen können, blieben stumm. Dabei ist „Die Ab-
schaffung der Arten“ die fiktionale Fortsetzung dieser Streitschrift: der Ro-
man zeigt, was passiert, wenn die Maschinen nicht befreit werden. Er ist die
Dystopie einer transhumanen Gesellschaft.
Indem Kirchner/Dath ihr Buch als eine Art Roman vorstellen, haben sie sich
für das formloseste literarische Genre entschieden und sich so eine sehr weit-
gehende Lizenz verschafft. Reicht sie aus? Zu einem Roman gehören entwe-
der – konventionell – mindestens ein Plot und ausgearbeitete Charaktere oder
die vielfältigen neuen Formen, die das zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht
hat. Die opulente Großerzählung des 19. Jahrhunderts ist nicht tot, sie wird
immer wieder neu geschrieben. Zugleich wurde sie aufgesprengt: irgendwo
finden sich in dieser Geschichte ihrer Hybridformen James Joyce, Arno
Schmidt und der Nouveau Roman. Dietmar Daths 1000-Seiten-Roman „Für
immer in Honig“ (2005, 2. Auflage 2008), der eine andere Veränderung der
alten Gattung veranstaltete, ist inzwischen Kult in der Szene um den Berliner
Verbrecher Verlag und den von Barbara Kirchner gegründeten Freiburger
Implex-Verlag. Aber jetzt findet ein weiterer Wechsel innerhalb des Genres
statt: statt Personen werden Begriffe bewegt, anstelle einer Handlung haben
wir Argumentationsabläufe, deren Verzweigungen, Widerreden und Über-
windung. Wer sich darauf einlässt, erlebt einen Abenteuerroman im Kopf.
Man hört eine Art Rap-Rhythmus und versucht sich das, was da passiert, et-
was hilflos zu dolmetschen: es sei wohl ein Poproman in Begriffen.
Aber das ist dann wohl schon Rabulistik, die darüber hinwegtäuscht, dass es
eben doch kein Roman ist. Also sollte eine andere, zutreffendere Bezeichnung
gefunden werden. Kirchner/Dath sind sich offenbar ebenfalls nicht ganz si-
cher. Nicht schlankwegs ein Roman in Begriffen liege hier vor, sondern „eine
Art Roman in Begriffen“.
Ist es ein Essay? Ja und nein. Dafür spricht, dass es sich unverkennbar um Re-
flexionsprosa handelt. Dietmar Dath hat sich in seinen journalistischen Arbei-
ten als ein Meister dieses Fachs erwiesen. Wer genau hinsieht, entdeckt auch
im „Implex“ die kleine Form. Einerseits ist das Buch eine Abbreviatur von
Überlegungen, die über seinen Rahmen weit hinausgehen und noch zur Auflö-
sung entweder durch das Autoren-Duo oder durch andere anstehen. Anderer-
seits setzt es sich selbst wieder aus Abbreviaturen, die wie Aphorismen wir-
ken, zusammen. Diese können ihrerseits recht lang sein. Sie konzentrieren,
was andernorts schon gedacht wurde, von Kirchner/Dath neu erwogen wurde
und nun einem vorläufig abschließenden Urteil zugeführt werden soll. Neh-
men wir als Beispiel die Seiten 641/642. Hier wird eingangs die Ansicht kriti-
siert, das Internet öffne eo ipso das Reich der Freiheit; sie wird dann mit Illu-
sionen über den Aufstieg Chinas in Analogie gesetzt, wobei auf eineinhalb
Seiten Argumente gereiht werden, die diese Phantasien widerlegen sollen, um
in die Bemerkung zu münden: „ – das Internet, wollen wir sagen, ist eine Art
China“. Alles das geschieht in einem einzigen Satz von 37 Zeilen, der dann
aber noch gar nicht endet, sondern nach einem Doppelpunkt noch weitere
zwölf Zeilen aufbringt. In „Z.“ Nr. 89, S. 138, haben wir eine Sequenz aus
„Der Implex“, S. 630/631, zitiert, in der – dort wiederum auf 37 Zeilen – ein
Abriss neurotischer Aspekte Marxschen und marxistischen Herangehens an
den Kapitalismus gegeben wird. Das sind Groß-Aphorismen und Klein-
Essays, in denen da und dort mehr gesagt werden mag, als die Autorin und der
Autor als jeweils im Speziellen Fachfremde wissen, in denen sie aber Teile ih-
res Publikums animieren, eigene, vielleicht sogar genauere Vorkenntnisse zu
mobilisieren, so dass die entsprechende Passage zur Projektionsfläche wird.
Wer den Band einmal als Ganzen gelesen und sich das Interesse an seinem
Thema erhalten hat, wird die zweite Lektüre kleinteilig vornehmen: die Porti-
onen sollten sich dann auf jeweils einen der 132 Unterabschnitte beschränken,
vorzunehmen nicht notwendig in der Reihenfolge des Buchbinders.
Aber ein Band von – mit Register und Literaturverzeichnis – 880 Seiten ist
dann doch mehr als ein Essay. Es gehört zu einer neuen Gattung, die im letz-
ten Viertel des 20. Jahrhunderts entstand: eher formlose Erörterungstexte in
Buchformat an der Grenze von Politik und Literatur. Im deutschsprachigen
Bereich mag das mit „Öffentlichkeit und Erfahrung“ sowie „Geschichte und
Eigensinn“ von Alexander Kluge und Oskar Negt angefangen haben. Sie ha-
ben ein breites, damals vor allem jüngeres Publikum auf sich gezogen, wäh-
rend Historiker der Arbeiterbewegung vor Entsetzen die Hände über dem
Kopf zusammenschlugen. Globale Aufmerksamkeit erregte „Empire“ von
Michael Hardt und Antonio Negri. Es fällt auf, dass solche gesellschaftstheo-
retischen Welterklärungen von Autoren-Paaren geschrieben werden: vielleicht
ein Eingeständnis, dass ein(e) Einzelne(r) sich damit übernehmen müsste und
eine Verdoppelung letztlich ebenfalls nicht ausreicht.
Bei „Der Implex“ kommt ein autobiografischer Gesichtspunkt hinzu. Barbara
Kirchner, mittlerweile Professorin für Theoretische Chemie in Leipzig, und
Dietmar Dath, im Brotberuf Redakteur bei der „Frankfurter Allgemeinen Zei-
tung“, arbeiten und denken bereits seit Schulzeiten zusammen und legen hier
das Ergebnis jahre-, wenn nicht jahrzehntelanger Bemühungen vor. Insofern
hat das Buch auch Spuren eines sehr alten, aber kaum noch gebrauchten litera-
rischen Genres, der „confessiones“ (lat.) oder „confessions“ (frz.). Autobio-
grafische Entwicklungsromane haben einen Helden: den Autor, und eine
Handlung: sein Leben. Kirchner/Dath verstecken sich nicht hinter ihrem Ge-
genstand, aber die Heldenrolle besetzen sie anders, es besteht ein Unterschied
zwischen der erzählenden und der erzählten Person. Sie bringen sich eher wie
ein Recherche-Team ins Bild. Beobachtungsgegenstand – gleichsam der Held
– ist der soziale Fortschritt. Die Landschaft, in der er sich bewegt, ist die mo-
derne Welt und das, was seit der Aufklärung (deren Anfänge mit ihren eige-
nen zusammenfallen) in ihr steckt: der Implex.

Die Argumentation
Dieser Begriff nun ist ein genialischer, wenn nicht sogar schon genialer Griff.
Wer das Buch durchgearbeitet hat, dann zu seiner Überschrift zurückkehrt und
schließlich aus dem Fenster blickt, sucht das überall: „jene wahrnehmbaren
Spuren des Nichtmehrseienden und Voraussetzungen des Nochnichtseienden,
die wir Implex nennen.“ (S. 754 f.) In „Der Implex“ ist nicht „Das Prinzip
Hoffnung“ linear fortgeschrieben, sondern dessen Impuls ist gebrochen durch
die „Dialektik der Aufklärung“ und dann wieder aufgeladen durch die Perspek-
tiven weiteren technischen Fortschritts und popkulturelle Erfahrungen, die
Adorno und Horkheimer perhorresziert hätten und denen auch Bloch – Kirch-
ner/Dath kritisieren seine Ablehnung des Jazz – nicht immer gerecht wurde.
Ein häufig gebrauchtes Gegensatzpaar ist – von Aristoteles entlehnt – Hexis
und Praxis. Erstere meint den zur Gewohnheit gewordenen und als Habitus
verinnerlichten Zwang der Verhältnisse, letztere folgt bei Kirchner/Dath der
Norm des sozialen Fortschritts. Dass dieser möglich und anzustreben sei, le-
sen sie einerseits aus Kämpfen und Ansätzen der Vergangenheit, andererseits
ist es eine Forderung, nicht ontologisch oder als Zwangsläufigkeit in der Rea-
lität angelegt, sondern deontisch aus ihr herauszubringen.
Zentral steht die Figur der Maschinen. Diese sind nicht nur Gegenstände z.B.
aus Glas, Kunststoff und Stahl, sondern alle von Menschen zur Bewältigung
ihres Lebens und prinzipiell nie allein, sondern gesellschaftlich hergestellte
Arrangements, also auch Theorien. Natur bleibt außerhalb und ist anders als in
rhetorischen Figuren der frühen Aufklärung– „deus sive natura“ – keine Refe-
renzgröße. Alles, was gesellschaftlich relevant ist, ist künstlich: Maschine –
Ergebnis von Praxis, zu der es jeweils Alternativen gab und die erst dann,
wenn eine Entscheidung gefallen ist, zu – vorläufiger – Hexis wird. Natur ist
kein Sein, aus dem ein Sollen gefolgert werden kann, es gibt nur von Men-
schen Gemachtes – unbewusst, hinter ihrem Rücken: Hexis, aus der – bewusst
– in Praxis etwas Anderes hergestellt werden kann.
Das Gedankenexperiment des Buches besteht in der Evaluation von Ge-
schichte, Gegenwart und Zukunft der Aufklärung in der praktischen Ab-
sicht des sozialen Fortschritts. Dessen Ziel wird so benannt: „Auskom-
men, Freiheit, Mitsprache.“ (430, 431, 435) Das klingt bescheiden – ein
gutes Programm, dem niemand widersprechen wird, aber irgendwie weni-
ger als „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Be-
dingung für die freie Entwicklung aller ist“ oder auch nur als „Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit“.
Der Unterschied der Tonlage hat offenbar zwei Gründe:
Erstens: Barbara Kirchner und Dietmar Dath haben eine Gemeinsamkeit zwi-
schen ihren Unterschieden gesucht. Sie beschreiben sich selbst so: „Einer der
beiden Köpfe, die sich das Buch zusammen ausgedacht haben, wäre nicht be-
leidigt, wenn man ihn einen sozialdemokratischen Kopf nennen würde. Der
andere bevorzugt jüngere und verrufenere Namen. Da diese beiden nun aber
herausfinden durften, dass sie einander näher sind, als sie dachten, und sich
beispielsweise herausstellte, dass das, was der sozialdemokratische der beiden
Köpfe unter Sozialdemokratie versteht, jedenfalls wenig mit dem zu tun hat,
was die SPD tut und will, ist das Bündnis während der Arbeit nicht zerbro-
chen, sondern gefestigt worden.“ (15 f.)
Zweitens: Barbara Kirchner und Dietmar Dath, beide Jahrgang 1970, verste-
hen sich als ideologische Trümmerfrauen. Sie fangen noch einmal da an, wo
andere – die 1789er, die 1917er und die Achtundsechziger – gescheitert sind.
Ohne Wimperzucken quittieren sie den Einbruch der beiden großen Erzählun-
gen des 19. und 20. Jahrhunderts – Liberalismus und Sozialismus in ihrer da-
maligen Gestalt – und widmen sich stattdessen dem Kern, der bleiben müsse:
Möglichkeiten, die entgegen landläufiger Resignation nicht geringer werden,
sondern vielfältiger. Diese offenen Enden nennen sie mit einem Begriff u. a.
aus der Mathematik: Freiheitsgrade. Diese sind nicht zu verwechseln mit
Freiheit, sondern bezeichnen lediglich durch Vernunft und bewusstes Handeln
beeinflussbare Wahrscheinlichkeiten. Hardt/Negris scheinbare Gegenwartsbe-
schreibung behandeln sie wegen dieser Verwechselung als Kitsch. Ob dieser
zusammen mit dem Manifest „Der kommende Aufstand“ des Unsichtbaren
Komitees so umstandslos mit Baldur Springmann kurzgeschlossen werden darf,
wie dies auf den Seiten 258/259 geschieht, wäre zu überlegen – vielleicht pole-
mischer Überschuss, vielleicht Hellsicht. Laut Barbara Kirchner und Dietmar
Dath sind die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft nicht eine Art Gefan-
genen-Dilemma mit Zusammenbruchs-Perspektive, sondern der Gegensatz
zwischen dem, wie diese bürgerliche Gesellschaft ist, und dem, was nach ihr –
im Guten und im Bösen – kommen kann und in ihr schon angelegt, also ihr
implizit ist.
Dies wird nun auf entweder disparat erscheinenden oder auch wirklich dispara-
ten Feldern durchprobiert: Aufklärungsphilosophie, Arbeit, Geschlechter-, ras-
sistische und imperialistische Verhältnisse und Emanzipation von diesen, Tech-
nik, Kunst, Revolution. Für Barbara Kirchner und Dietmar Dath ist der Kapita-
lismus seinerseits ein Produkt der Aufklärung und ein Implex: „Wenn ein Pro-
duktionsverhältnis so ungeheure Beschleunigungen im Wachstum der Produk-
tivkräfte bewirkt wie das der freien Konkurrenz von Kapitalen auf dem Markt,
dann vervielfachen sich auch die Ausfahrten, von denen unser Bild im letzten
Kapitel redet.“ (403) Dieses letzte Kapitel heißt: „Der explizite Implex“.
Indem Kirchner/Dath die Position von Konservativen als gegnerische charak-
terisieren, liefern sie sogar eine faire Apologie selbst von Renegaten, die es
sich irgendwann anders überlegt haben: „Die Exklusivität der Kunst wird ver-
teidigt; die des Besitzes lässt sich gern mitmeinen, in der richtigen Ahnung,
dass jenseits dieser beiden Exklusivitäten nur die Barbarei oder etwas sehr ne-
belhaft Besseres kommen können, und der noch richtigeren, dass die Barbarei
einstweilen die besseren Karten hat.“ (S. 382) Der Implex hat Hintertüren:
„dass also die Konterrevolution in der Revolution steckt wie diese im nichtre-
volutionären Alltag aller Klassengesellschaften, ist der ubiquitären Zwiege-
sichtigkeit von Implexkonstellationen gemäß und macht sie, mehr noch als die
kontraintuitive Nichtzuständigkeit von Maßgaben der Mengenlehre für diese
großen Sachen, die in scheinbar kleineren stecken, so schwer zu denken.“
(404) Warum dann aber überhaupt noch sozialer Fortschritt? Dass, wer mit
dem Rücken an der Wand steht, nicht mehr weiter zurück kann, reicht nicht
aus. Hinzukommen müsse, dass man sich eine Richtung nach vorn vorzustel-
len vermag und dass man sie einschlagen will. Das ist kein Privileg derer, de-
nen es schlecht geht, vielleicht können die es gar nicht besonders gut. Ein
Schuss Voluntarismus scheint unverzichtbar, ist für Kirchner/Dath aber be-
gründbar.

Einwände
Versprochen wurde eine Ideengeschichte, und dabei bleibt es. Das Herange-
hen ist in hohem Maße kulturalistisch. Es fehlen die Induktionen aus der Re-
algeschichte und die Ökonomie. Dabei war letztere von Marx ebenfalls als
Implex gesehen worden, zugleich kam es hier zu einigen seiner vorschnellen
Fortschreibungen. Kirchner/Dath sind Ökonomie und Sozialgeschichte viel-
leicht Hexis-verdächtig. Oder sie überlassen sie Leuten vom Fach, die nun al-
lerdings gefordert sind, wenn sie sich nicht mit beleidigter Spezialistenkritik
begnügen wollen. Sind diese keine Betriebswirtschaftler, sondern Politische
Ökonomen, dann bedienen sie sich ja schon jenes Zusammenhangs, den
Kirchner und Dath „Interpenetration“ nennen – der wechselseitigen Durch-
dringung von „Maschinen“.

Rezeption
Achtzigjährige Marxisten mögen versucht sein, dem Buch „Der Implex“ vor-
zuhalten, hier werde der Nordpol zum zweiten Mal entdeckt. Im „Konkret“-
Interview hat Dietmar Dath diese Kritik vorweggenommen: „Man könnte jetzt
böse sagen, wir erfinden das Rad neu.“ Anders als in der Geografie wurde in
der Gesellschaft der Nordpol, falls er da ebenfalls schon entdeckt worden sein
sollte, nie betreten. Wenn das Kriterium der Wahrheit die Praxis ist, folgt aus
dem Ausbleiben der Verifikation, dass die Theorie selber in Frage gestellt ist.
Also muss neu angefangen werden.
Wie mit solchen Versuchen adäquat umzugehen ist, lässt sich an einer Paralle-
le zeigen. In den „Marxistischen Blättern“ hat Robert Steigerwald und in „Z.“
hat Günter Benser Ralf Hoffrogges Buch „Sozialismus und Arbeiterbewegung
in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914“ aufmerksam besprochen. Früher
hätten sie es wohl, gemessen an einem von ihnen gebilligten Kräfteverhältnis,
das durch erfolgreiche kommunistische Parteien und den realen Sozialismus
mitbestimmt wurde, eher wie eine Regression und einiges davon auch als Irr-
weg oder überflüssig behandelt. Dass sie dies jetzt nicht tun, wird gewiss und
hoffentlich nicht in erster Linie auf Altersmilde zurückzuführen sein, sondern
auf die Erkenntnis, dass nach der Niederlage des einst für richtig Gehaltenen
nun neue Versuche, die sich in einer zwar kritischen, aber doch auch positiven
Weise mit den vorigen verbinden (und deren Verfechter nicht mies antikom-
munistisch auf ihnen herumtrampeln), zu unternehmen sind.
Anders sieht es offenbar bei Altersgenossen von Kirchner und Dath aus. Für
sie ist das Buch retro, es handelt von Dingen, mit denen sie nie zu tun haben
wollten. In einigen Feuilletons wurde „Der Implex“ einem Shitstorm ausge-
setzt. „Kalaschnikowhafte Selbstermächtigungsprosa“ (DIE ZEIT), „bohe-
mienhafte Apologie von Terror“ (taz), „krude Anmaßung“ verdecke, „dass die
Autoren den altbösen Feind Kapitalismus irgendwie nicht am Schlafittchen zu
packen kriegen, so wild sie auch herumfuchteln“ (Deutschlandradio Kultur).
Einiges mag zu hastiger Lektüre geschuldet zu sein. Der Kapitalismus ist, wie
gezeigt, für Kirchner und Dath kein altböser Feind. Dass sie das Recht auf
freie Meinungsäußerung als eine Maschine zur Wahrheitsfindung und zur ar-
gumentativen Eliminierung von Unwahrheit sehen und der Aufklärung das
Recht auf Tricks und Kampf im Handgemenge zubilligen, erscheint denen,
die das ständige Gerede als Selbstzweck schätzen, offenbar schon als Sympa-
thisantentum des Terrors. In ihrer Generation Golf sind Kirchner und Dath
wohl ebenso solitär (um nicht zu sagen: einsam) wie die Form des Buchs zwi-
schen verschiedenen literarischen Gattungen und seine Argumentation zwi-
schen den Wissensgebieten.
Eine unbestreitbare Begriffs- und Bezüge-Opulenz des Textes ist keine Kraft-
meierei, sondern markiert Leerstellen, die von zwei Leuten allein nicht zu füllen
sind. Immerhin könnte, wer sich dadurch gestört fühlt, sich wenigstens einmal
kundig zu machen versuchen, wen und was Kirchner/Dath da aufrufen und von
wem und was man selbst nie zuvor etwas gehört hat. Das bildet.

Perspektive
Als Dietrich Kuhlbrodt den „Implex“ zu lesen begann, fühlte er sich (so er-
zählt er in einem Bericht über eine Vorstellung des Buchs im Literaturforum
des Brecht-Hauses in Berlin) in die Zeit seiner Lektüre der „Ästhetik des Wi-
derstands“ zurückversetzt. Vor einer Generation gab es dafür Lesezirkel. Viel-
leicht wäre das heute zu betulich. In den Amazon-Kundenrezensionen tut sich
inzwischen etwas. Vielleicht wäre das Netz das richtige Forum. Einige Leute
erhoffen sich eine „Implex“-Plattform. Hier könnte das Buch auseinander ge-
nommen, korrigiert, in Einzelheiten widerlegt und weitergeschrieben werden.
Sollte es, von da ausgehend, eines Tages sogar zu einer Implex-Partei kom-
men, hätte sich die Idee von ihrer Urheberin und ihrem Urheber emanzipiert.
Etwas Besseres kann Leuten, die Vernünftiges in die Welt setzen, nicht pas-
sieren.

1
Dietmar Dath/Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee. Berlin:
Suhrkamp Verlag 2012. 880 Seiten. 29,90 Euro.

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