Marx 200 - Marx-Engels-Forschung

Marx in Hessen – unter besonderer Berücksichtigung der „Marburger Schule"

von Frank Deppe
September 2018

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Am 21. / 22. April 2018 fand in Frankfurt auf dem Universitätscampus unter dem Titel „Marx in Hessen“ eine Konferenz statt, veranstaltet von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen und weiteren Mitträgern.[1] Der regionale Bezug ergab sich aus der Überlegung, im Rahmen der Erinnerung an den 200. Geburtstag von Marx unterschiedliche wissenschaftliche und politische Strömungen, die sich auf Marx bezogen haben bzw. beziehen, in einen Dialog zu bringen. Die kritische Theorie der „Frankfurter Schule“, die mit den Namen Horkheimer und Adorno verbunden war, die eigenständige Schule der marxistischen Staatstheorie um Joachim Hirsch sowie die „Marburger Schule“, die von Wolfgang Abendroth begründet wurde, waren seit den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts als bedeutende Strömungen einer am Marxismus orientierten Sozialphilosophie bzw. Politikwissenschaft anerkannt. Trotz personeller Querverbindungen – über Heinz Maus, der am Frankfurter Institut bei Horkheimer gearbeitet hatte, die Habilitation von Jürgen Habermas in Marburg und schließlich die Lehrtätigkeit von Kurt Lenk im Marburger Institut – wurden diese Schulen nicht nur als unterschiedliche Varianten des Marxismus, sondern gelegentlich auch als Kontrahenten wahrgenommen. Die „Frankfurter“ galten als prominente Vertreter des sog. „westlichen Marxismus“[2], der sich seit der „Zwischenkriegsperiode“ (1919 – 1945) besonders deutlich von der real existierenden sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung abgesondert hatte. Der Kapitalismus war als „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber) begriffen; Kritik lebte als Kulturkritik fort. Die „Marburger Schule“ um Abendroth verteidigte hingegen den Anspruch der 11. Feuerbachthese von Marx über den Zusammenhang von Theorie und Praxis und bezog sich dabei auf den linken Flügel der Arbeiterbewegung sowie auf die sozialrevolutionären und antiimperialistischen Bewegungen außerhalb Europas. Im Verlauf der 70er Jahre verfestigten sich dabei auch unterschiedliche poltisch-strategische Orientierungen in den politischen und gesellschaftlichen Kämpfen der Zeit. Bei der Frankfurter Tagung wurden die Positionen der „kritischen Theorie“ u.a. von Joachim Hirsch[3] sowie von Alex Demirovic[4] vertreten.

Bevor ich auf das Marxismus-Verständnis von Wolfgang Abendroth (Teil 2) und das Wirken seiner Schüler in Marburg in den 70er Jahren (Teil 3) eingehe, werden im ersten Teil einige „Streiflichter“ zur Geschichte des Marxismus in Hessen knapp beleuchtet. Sie sind chronologisch, aber nicht systematisch aufgebaut. Sie sollen verdeutlichen, dass in den vergangenen zwei Jahrhunderten – unter äußerst wechselhaften Bedingungen – dieser Zusammenhang von radikaler intellektueller Kritik der bestehenden Verhältnisse und dem Kampf um ihre Veränderung immer wieder als jenes Erbe begriffen war, das Friedrich Engels in seiner Grabrede auf Karl Marx in den Mittelpunkt gestellt hatte. Marx habe „das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft entdeckt … Die Wissenschaft war für ihn eine geschichtlich bewegende, eine revolutionäre Kraft … Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats … das war sein wirklicher Lebensberuf…. Und deswegen war Marx der bestgehasste und bestverleumdete Mann seiner Zeit ... Und er ist gestorben, verehrt, geliebt, betrauert von Millionen revolutionärer Mitarbeiter“ in der ganzen Welt. (MEW 19: 336f.).

1.

Als wichtiges Dokument der rebellisch-revolutionären Tradition des Vormärz in Hessen gilt der 1834 – als Marx gerade 16 Jahre alt war – von Georg Büchner verfasste „Hessische Landbote“, der das Elend und die politische Unterdrückung des Volkes anprangerte und mit der Losung endete: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“.

Wilhelm Liebknecht (1826 – 1900) wurde in Gießen geboren und nahm dort auch sein Studium auf. Im Londoner Exil nach 1848 arbeitete er mit Karl Marx und Friedrich Engels zusammen. Später war er – neben August Bebel – einer der führenden Köpfe der deutschen Sozialdemokratie. In seiner letzten Schrift wandte er sich entschieden gegen den „Revisionismus“ von Eduard Bernstein.

Johannes von Miquel (1828 – 1901) war als Oberbürgermeister von Frankfurt (nach 1880) und als preußischer Finanzminister (nach 1890) Vertreter des rechten Flügels der Nationalliberalen Partei. Von 1848 bis 1852 war er Mitglied des Bundes der Kommunisten und hatte Kontakte zu Marx.

Ein Revolutionär aus Nordhessen war August Spies (1855 – 1887), der in die USA ausgewandert und 1880 in Chicago Herausgeber der örtlichen Arbeiter-Zeitung war. 1887 wurde er mit anderen hingerichtet, weil sie für die Explosion einer Bombe auf dem Haymarket, bei einer Arbeiterdemonstration für den 8-Stunden-Tag, verantwortlich gemacht wurden. 1889 beschloss der Internationale Arbeiterkongress in Paris unter Hinweis auf die Ereignisse in Chicago, den 1. Mai zum Kampf-und Feiertag für den 8-Stunden-Tag zu erklären.

In Marburg trat 1903 Robert Michels (1876 – 1936) – später Verfasser der „Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“ (1911) – der SPD bei. Die philosophische Fakultät verweigerte ihm die Habilitation – u.a. wegen seiner „sozialistischen Agitation“ und der Tatsache, dass seine Kinder nicht getauft wurden. Michels siedelte später nach Italien über und wurde Anhänger des Faschismus.

In der Nacht vom 8. auf den 9. November 1918 verabschiedete eine USPD-Versammlung in Frankfurt den folgenden Aufruf: „Der große Wellenschlag der Völkerbefreiung hat auch Frankfurt erfasst. Das Kapital, verbündet mit dem Militarismus, hat uns an den Abgrund geführt. Die deutsche Arbeiterschaft, vereint mit den Soldaten, Matrosen und Bauern, hat die Aufgabe übernommen, das Volk aus der Katastrophe zu retten. In der Nacht vom 8. zum 9. November haben die Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokraten Frankfurts mit den Vertrauensleuten der Betriebe und den Soldaten die Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates beschlossen. Arbeiter- und Soldatenrat haben die Macht ergriffen.“[5]

Die Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung im Jahre 1923 wurde durch das Vermögen des jungen Felix Weil (1898 – 1975) ermöglicht, der sich den marxistischen Theoriedebatten der Zeit (u.a. Luxemburg, Lenin, Lukacs, Korsch) sowie der Politik der KPD und der Kommunistischen Internationale verbunden wusste und die Zusammenarbeit des Instituts mit dem Moskauer MEGA-Projekt förderte.[6] Mitarbeiter wie Richard Sorge, Franz Borkenau, Henryk Grossmann und Karl A. Wittfogel waren KP-Mitglieder.[7] An der Frankfurter Uni wirkte u.a. von 1925 bis 1928 – als Mitarbeiter von Hugo Sinzheimer – der Sozialdemokrat Franz Neumann (1900 – 1954), einer der bedeutendsten marxistischen Gewerkschafts- und Rechtstheoretiker der Zeit. Wolfgang Abendroth wollte bei Sinzheimer über das Betriebsrätegesetz von 1920 promovieren; 1933 wurde er – vor dem Assessorenexamen – wie sein Doktorvater kurzzeitig verhaftet.

An der Erarbeitung und Verabschiedung der Hessischen Landesverfassung von 1946 wirkten – als Landtagsabgeordnete und Minister – Mitglieder der KPD mit – u.a. Oskar Müller als Minister, Leo Bauer und Emil Carlebach als Abgeordnete. Zusammen mit Sozialdemokraten, die sich ebenfalls als Marxisten verstanden, verankerten sie (vor allem im Abschnitt III. der Verfassung) den Sozialisierungsartikel 41 sowie soziale Grundrechte (Recht auf Arbeit, Anerkennung des Streikrechts, Aussperrungsverbot, Achtstundentag, wirtschaftliche Mitbestimmung der Betriebsräte u.a.m.). Auch die CDU, in der es nach dem Kriege eine Strömung des christlichen Sozialismus gab, unterstützte die Verfassung.

Die von der SPD und ihrem Ministerpräsidenten Georg August Zinn geführte Landesregierung setzte in einer auch nach 1945 extrem konservativen Universitätslandschaft die Berufung von einigen marxistisch orientierten Professoren durch: Max Horkheimer (1949), Wolfgang Abendroth (1951/52), T. W. Adorno (1953) – sowie einige Antifaschisten und Emigranten. Wie Horkheimer hatten auch andere ihre einst marxistischen Positionen – z. B. in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ der 30er Jahre – aufgegeben.

Natürlich leisteten nicht wenige Gewerkschafter ihren Beitrag zum Thema „Marx in Hessen“. In Frankfurt befindet sich der Vorstand der IG Metall. Deren 1. Vorsitzender – von 1956 bis zu seinem Tod im Jahre 1972 – war Otto Brenner, Antifaschist, vor 1933 Mitglied der SAP, nach 1945 Mitglied der SPD. Er galt den Konservativen als radikaler Sozialist und Klassenkämpfer. In einem langen Fernsehgespräch im Jahre 1963 fragte ihn der prominente Journalist Günther Gaus plötzlich: „Herr Brenner, sind sie Marxist?“ Otto Brenner (zögert): „So kann man die Frage weder bejahen noch verneinen!“ Gaus baute eine Brücke: Marxismus kann als Heilslehre, als Religionsersatz oder als Methode verstanden werden, um Gesellschaft und Politik zu begreifen. Jetzt antwortete Brenner schnell: „Der historische Materialismus (hinzuzufügen wäre: die Kritik der politischen Ökonomie, F.D.) ist unverzichtbar als Methode zur Einschätzung der Lage und zu einer richtigen Politik.“ Auf die spätere Frage von Gaus „Sind Sie Pazifist, Herr Brenner?“, antwortete dieser: „Ich war nie Pazifist … (dann etwas zögerlich) … Als Revolutionär kann ich ja gar nicht Pazifist sein.“

Im Eigentum der IG Metall befand sich in Frankfurt übrigens die Europäische Verlagsanstalt (EVA). Lothar Pinkall, Verlagsleiter in den 70er Jahren, war Leiter einer Bildungsstätte der IG Metall gewesen und dazu noch der Schwiegersohn von Otto Brenner. Seit den 60er Jahren wurde in der EVA von Wolfgang Abendroth, Iring Fetscher und Ossip K. Flechtheim die Reihe „Politische Texte“ – mit vielen sozialistischen Klassikern – herausgegeben. In den 70er Jahren erschienen dort Texte u.a. von Oskar Negt, Ernest Mandel, André Gorz bis zu Rudolf Bahro („Die Alternative“). Seit 1963 erschienen in Frankfurt die „Marxistischen Blätter“ (redigiert von Heinz Jung); der gleichnamige Verlag der DKP präsentierte ab 1968 ein breites Programm von „Klassiker“-Texten und neueren marxistischen Arbeiten. Das äußerst produktive „Institut für marxistische Studien und Forschungen“ (IMSF) – unter der Leitung der Kommunisten Jupp Schleifstein und Heinz Jung – bestand in Frankfurt von 1968 bis 1989.

Die Kampagne für meine Berufung auf eine Professur für Politikwissenschaft an der Marburger Universität in den Jahren 1971/72 wurde von den Studentenverbänden MSB und SHB unter der Losung „Marx an die Uni – Deppe auf H4“ getragen. Einige Gewerkschafter unterstützten diese Kampagne durch Schreiben an den Hessischen Kultusminister – darunter der Hessische DGB-Vorsitzende Philipp Pless (ein „alter KPOler“), Walter Fabian („Gewerkschaftliche Monatshefte“, einst SAP), Werner Vitt (IG Chemie, Papier, Keramik), Loni Mahlein[8] (IG Druck und Papier) sowie Willi Bleicher, der ehemalige Buchenwald-Häftling und Bezirksleiter der IG Metall in Baden-Württemberg.

Zum Abschluss dieser „Streiflichter“ sei an eine Publikation aus dem Jahre 1961 erinnert. Das theoretische Einleitungskapitel („Reflexionen über den Begriff der politischen Beteiligung“) zu der empirischen Untersuchung „Student und Politik“ wurde von Jürgen Habermas verfasst, der im Jahr 1961 mit seinem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ bei Abendroth in Marburg habilitierte. Der letzte Abschnitt diskutiert die Alternative „autoritäre oder soziale Demokratie“. Habermas knüpft hier nicht nur an Abendroths Verfassungsinterpretation („Sozialstaatsgebot“), sondern auch an die Linie einer marxistischen Staats- und Transformationsdebatte an, die den Übergang von der politischen (formalen) zur sozialen (materialen) Demokratie in den Mittelpunkt stellt. Die Frage nach dem „demokratischen Potenzial“ wird wie folgt konkretisiert: „demokratisch wird das Potenzial dieser Beteiligung in dem Maße sein, in dem es für eine Entwicklung der formellen zur materialen, der liberalen zur sozialen Demokratie politisch wirksam werden, also die politische Entscheidung im Sinne der Verwirklichung einer freien Gesellschaft beeinflussen kann. Soziologisch bestimmt sich das Maß der Freiheit danach, inwieweit eine Gesellschaft die erarbeiteten Mittel der Bedürfnisbefriedigung, die materiellen und geistigen Produktivkräfte im Interesse der Bedürfnisbefriedigung aller Individuen verwendet, und nicht nur in partikularem Interesse. Politisch bestimmt sich das Maß dieser Freiheit danach, inwieweit eine Gesellschaft politische Gesellschaft derart wird, dass Herrschaft auf rationaler Autorität, nämlich auf Teilung von Arbeit und Erfahrung, sowohl im Interesse als auch unter der Kontrolle aller Individuen zurückgeführt wird; inwieweit es gelingt, die Trennung von politischer Herrschaft und scheinbar privater Reproduktion des Lebens zu überwinden.“[9] Die führenden Köpfe – vor allem des (Frankfurter) SDS, der 1961 aus der SPD ausgeschlossen worden war[10] – erkannten darin ihr Programm eines demokratischen Sozialismus.

Für Max Horkheimer war Habermas – noch Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung – ein offener bzw. „verkappter“ Marxist. In einem Brief an Adorno forderte er dessen Entlassung aus dem Institut. Habermas sei „ein begabter, unablässig auf geistige Überlegenheit sich verweisender Mensch“. Er „trägt bei aller Gescheitheit Scheuklappen, es gebricht ihm an bon sens und an geistigem Takt“. Unverständlich sei es, dass Habermas, „der so viel von Empirie redet, heute zu Schriften sich bekennt[11], die auf der Ansicht beruhen, die Bourgeoisie sei unfähig, noch lange die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben“ und die die proletarische Revolution in den Industrieländern noch für möglich hielten. Nach Horkheimer hat diese Revolutionstheorie den Sozialismus in einem Land nur in die Verwandtschaft zum Nationalsozialismus geführt. „Nicht die Revolution ist zu verteidigen sondern vielmehr die Reste der bürgerlichen Zivilisation und die europäische Zivilgesellschaft.“ Wenn Habermas’ Denken den Geist des Frankfurter Instituts bestimmen sollte, dann „erziehen wir keine freien Geister, keine Menschen, die zu eigenem Urteil fähig sind, sondern Anhänger, die auf Schriften schwören, heute auf die, morgen vielleicht auf jene“. Abschließend schlug Horkheimer vor, sich von Habermas zu trennen, weil er zwar eine glänzende Karriere vor sich habe, dem Institut aber großen Schaden bringen würde. „Lassen Sie uns zur Aufhebung der bestehenden Lage schreiten und ihn in Güte dazu bewegen, seine Philosophie irgendwo anders aufzuheben und zu verwirklichen.“[12] Über das Einleitungskapitel zu „Student und Politik“ schrieb Horkheimer in einem Postskriptum zum gleichen Brief: „Das Wort Revolution ist, vermutlich unter Ihrem Einfluss, durch ‚Entwicklung der formellen zur materialen, der liberalen zur sozialen Demokratie‘ ersetzt; aber das ‚Potential’, das dabei politisch wirksam werden soll, dürfte für die Phantasie des durchschnittlichen Lesers, wohl kaum durch demokratische Methoden sich aktualisieren lassen.“[13] Mit dem Marxismus-Vorwurf im Geiste der Totalitarismustheorie und des Kalten Krieges endete die Mitarbeit von Habermas im Frankfurter Institut.

2.

Der Marxismus in Hessen wird natürlich über diesen langen Zeitraum von jeweils epochenspezifischen Determinanten, die mit der Entwicklung und den Krisen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, mit der Entwicklung des Klassenkampfes und der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen verbunden sind, geprägt. Die marxistischen Lehrer meiner Generation waren durch das „Zeitalter der Katastrophen“ hindurchgegangen. Im Kalten Krieg – im Zeichen des Antikommunismus als Staatsdoktrin und des KPD-Verbotes sowie der Verfolgung der Kommunisten – waren sie in eine Position der Defensive und Zurückhaltung gezwungen. Marx positiv zu zitieren oder sich gar auf Georg Lukacs’ „Geschichte und Klassenbewusstsein“ zu beziehen, war noch um die Mitte der 60er Jahre tabuisiert. Diejenigen, die nicht aus Arbeiterfamilien stammten bzw. mit der Arbeiterbewegung politisch und gewerkschaftlich verbunden waren, wuchsen im „Wirtschaftswunder“ der 50er und frühen 60er Jahre auf. Sie waren zunächst durch den Kalten Krieg sowie durch die autoritären Strukturen und die Verdrängungsmechanismen des postfaschistischen „CDU-Staates“[14] geprägt. Die 60er Jahre wurden so zum Terrain eines – auch individuell – konfliktreichen Lernprozesses.

Wolfgang Abendroth (1906 – 1985) lehrte von 1951 bis 1972 in Marburg. Zusammen mit Heinz Maus und Werner Hofmann bildete er das „Dreigestirn“ der sog. „Marburger Schule“[15]. Dem autobiographischen Gespräch aus dem Jahre 1976 gab er den Titel „Ein Leben in der Arbeiterbewegung“. Darin wird schon deutlich, dass für Abendroth zwischen seiner Arbeit als marxistischer Wissenschaftler und dem politischen Engagement im linken – sich am Marxismus orientierenden – Flügel der Arbeiterbewegung ein geradezu selbstverständlicher Zusammenhang bestand. Sein Politikbegriff war jedoch nicht nur durch diese Lebenserfahrungen bestimmt. Für den marxistischen Politikwissenschaftler stand die Beziehung von „Antagonistischer (kapitalistischer) Gesellschaft und politischer Demokratie“ im Zentrum seines Wirkens, das biographisch durch die Erfahrung von Krieg und Faschismus (Berufsverbot, Emigration, illegale Arbeit im Reich / Zuchthaus, Strafbataillon 999) zwischen 1933 und 1945 bestimmt war.[16]

Im Vorwort zur „Antagonistische Gesellschaft“ hatte Abendroth seinen Begriff einer materialistischen politischen Soziologie erläutert. „Als politisch soll … nicht nur Staat und öffentliche Gewalt und das auf sie unmittelbar bezogene Verhalten, sondern jede gesellschaftliche Aktivität gelten, die die Struktur der Gesellschaft (und also die Machtverteilung der sozialen Gruppen in der Gesellschaft) sei es verändern, sei es durch Machtgebrauch stabilisieren will … Poltische Wissenschaft ist daher … eine besondere Disziplin der Wissenschaft von der Gesellschaft, politische Soziologie…“[17] Dieser Begriff leitet sich von der Marx’schen „Anatomie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, ihrer Klassenstruktur, dem Klassenkampf als dem Ringen um die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen und die politische Machtverteilung zwischen den Klassen ab. Die Resultate des Klassenkampfes erscheinen auf der politischen Ebene in den Rechtsverhältnissen, in Verfassungen, die jeweils das politische Feld epochenspezifisch strukturieren und regulieren, aber immer auch umkämpft sind. Gegen die konservative Staatrechtslehre (z. B. von Carl Schmitt), die die gesellschaftlichen und politischen Antagonismen durch den autoritären Staat im Zaume halten will, vertrat Abendroth die Perspektive einer gesellschaftlichen Demokratisierung (unter Einschluss der Wirtschaftsdemokratie) und Selbstverwaltung, in der – wie es Friedrich Engels formuliert hatte – der Staat als repressives „Organ der herrschenden Klasse“ abstirbt bzw. „in die Gesellschaft … zurückgenommen“ wird.

Für Abendroth lösen sich die zentralen Begriffe der Klassenanalyse und des Klassenkampfes in der konkret-historischen Analyse der Kämpfe, der Kräfteverhältnisse, der Akteure, ihrer Motive, Programme, Strategien etc. auf. Die politischen Begriffe des Marxismus lassen sich nicht nach dem Vorbild der formalen Logik definieren. Ihr Kerngehalt erschließt sich über ihre Geschichte, die des Klassenkampfes als auch der theoretischen Reflexion im Kontext der Ideengeschichte. Zentralbegriff der politischen Theorie und Analyse des Marxismus ist der der Macht bzw. der Kräfteverhältnisse der Klassen.[18] Im Kampf schafft sich die Klasse Instrumente, um – kollektiv handelnd – Macht, Gegenmacht auszuüben. Abendroth folgt darin einer „Philosophie der Praxis“, wie sie Antonio Gramsci in den „Gefängnisheften“ gegen Ökonomismus und Geschichtsdeterminismus vertreten hatte. Er fragt, wie aus den (objektiven) Strukturen „historische Bewegung“ hervorgeht, denn die menschlichen Handlungskonstellationen (darunter auch die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen) manifestieren und verändern sich im geschichtlichen Prozess.[19] Der Gegensatz von Struktur- und Handlungsgeschichte löst sich auf. „Alles ist Politik, auch die Philosophie oder die Philosophien … und die einzige ‚Philosophie‘ ist die Geschichte in Aktion, d.h. das Leben selbst…“[20]

Für junge linke Intellektuelle im Umfeld von Wolfgang Abendroth waren daher die Schriften marxistischer Historiker – u.a. Isaac Deutscher, Eric Hobsbawm, E. P. Thompson, Maurice Dobb, Albert Soboul, Walter Markov („Leipziger Schule“), Jürgen Kuczynski – (später auch Fernand Braudel) besonders wichtig. Aus der Theoriegeschichte des Marxismus rangierten die Imperialismus- und Faschismusanalysen vor den philosophischen Texten, obwohl unter den „Klassikern“ Georg Lukacs‘ Geschichte und Klassenbewusstsein“ in höherem Ansehen stand als die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno. Marxistische Analysen des zeitgenössischen Kapitalismus – auf dem Boden der Kritik der politischen Ökonomie und der Imperialismustheorien – u.a. von Paul Sweezy / Paul Baran („Monopoly Capitalism“), Ernest Mandel („Traité d’Economie Marxiste“), Joan Robinson, auch die Beiträge zur Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus aus der DDR und aus Frankreich – wurden früh zur Kenntnis genommen und z.B. im legendären Abendroth’schen Oberseminar diskutiert. Dazu kamen die Marburger Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung – vor allem über die sog. „Zwischengruppen“ zwischen SPD und KPD vor 1933 (KPO, SAP, Neu Beginnen, ISK), in denen in letzter Instanz die Frage nach dem Scheitern der reformistischen und der revolutionären Arbeiterbewegung in der Auseinandersetzung mit dem Faschismus im Zentrum stand. Gleichzeitig war hier der normative Imperativ des politischen Wirkens von Abendroth – in der Auseinandersetzung mit den reaktionärsten Tendenzen des Kapitalismus –, die politische Einheit der Arbeiterbewegung herzustellen und zu sichern, historisch-konkret abgeleitet.

Dieser Imperativ wird auch durch die folgende Passage begründet, die wiederum sowohl die biographischen Erfahrungen von Abendroth als auch seine staats- und verfassungstheoretischen Positionen beleuchtet. „Die Geschichte der Weimarer Republik hat deutlich gezeigt, wie unkontrollierte wirtschaftliche Machtzusammenballung in der Hand großer kapitalistischer Machtgruppen im Zusammenhang mit unkontrollierter administrativer und militärischer Gewalt in der Hand von Schichten, die sich den Trägern der wirtschaftlichen Macht verbunden fühlen, zunächst durch fast monopolistische Verfügung über die Meinungsbildungsapparate der modernen Gesellschaft die Demokratie aushöhlt und sie dann gewaltsam sprengt, wenn in Zeiten wirtschaftlicher oder politischer Krisen den Massen die Sinnwidrigkeit des traditionellen Systems der Machtverteilung allzu deutlich vor Augen geführt wird. Die formale Demokratie wird nur dann politisch gesichert, wenn sie durch aktive Beteiligung eines jeden am ständigen politische Meinungsbildungsprozess, durch lebendige Selbstverwaltung der Gesellschaft und des Staates Inhalt gewinnt.“

Hier knüpft Abendroth an Elemente der Marx’schen Staatstheorie – vor allem der Bonapartismus-Analyse – an, auf die sich August Thalheimer u.a. in den 20er Jahren bei der Analyse der Krise der bürgerlichen Welt und des aufsteigenden Faschismus bezogen hatten.[21] Die Weimarer Verfassung nach der Novemberrevolution war als ein „Klassenkompromiss“ begriffen, in dem sich ein relatives „Kräftegleichgewicht der Klassen“ reflektiert. Eigentumsrechte stehen neben sozialen Grundrechten. Der Austromarxist Otto Bauer hatte so das Terrain des Klassenkampfes in der Demokratie charakterisiert. Solange die private Eigentumsordnung und die darauf beruhenden Klassenverhältnisse nicht aufgehoben sind, besteht der Klassenkampf ebenso fort wie die Tendenz der kapitalistischen Wirtschaft, soziale Ungleichheit, Anarchie und Wirtschaftskrisen zu reproduzieren. Die Bourgeoise strebt dabei danach, die sozialen Errungenschaften der Revolutionen am Ende des Krieges zurückzudrängen und – im Zeichen der „bolschewistischen Gefahr“ – die Demokratie durch ein autoritäres Regime zu ersetzen. Die Arbeiterbewegung verteidigt dagegen die Demokratie, indem sie für die Erweiterung der sozialen und Wirtschaftsdemokratie kämpft. Gegen die Machtergreifung durch den Faschismus muss sie allerdings bereit sein, auf das Instrument der „Diktatur des Proletariats“ zurückzugreifen – so hatte es Otto Bauer 1926 in Linz formuliert. Die Interpretation des Grundgesetzes der BRD durch Wolfgang Abendroth betonte sowohl den Kompromisscharakter der Verfassung, der durch die Machtkonstellationen nach 1945 bestimmt war, als auch das normative Sozialstaatspostulat als Programm einer Arbeiterbewegung, die für Vergesellschaftung und Wirtschaftsdemokratie, für die gesellschaftliche Kontrolle des Privateigentums sowie für den Ausbau der sozialen Grund- und Beteiligungsrechte der Lohnabhängigen und ihrer Organisationen kämpft und dabei zugleich einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der Demokratie gegen die Gefahr „von rechts“ leistet. Abendroth bezog sich dabei auf Positionen einer marxistischen Rechts- und Staatstheorie, wie sie u.a. von Eugen Paschukanis („Allgemeine Rechtslehre und Marxismus“, 1929), vom späten Herman Heller („Staatslehre“, 1934), Otto Kirchheimer („Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus“, 1930), Franz Neumann („Herrschaft des Gesetzes“, 1936; „Behemoth“, 1942) sowie später Ralph Miliband („The State in Capitalist Society“, 1969) vertreten wurden.[22]

Aus dem Studium der Arbeiterbewegung und der Theoriegeschichte des Sozialismus und Marxismus ergab sich zwangsläufig die Frage nach Begriff und Rolle der Intellektuellen in der bürgerlichen Gesellschaft wie im Klassenkampf. Die „Klassiker“ waren ebenso wie zahlreiche Führungspersönlichkeiten der Linken Intellektuelle bürgerlicher Herkunft, die – wie es Georg Lukacs 1920 formuliert hatte – „Klassenverrat“ begingen, als sie sich dem revolutionären Flügel der Arbeiterbewegung – nach 1917 dem Leninismus – anschlossen. Dennoch, die Beziehung zwischen Intellektuellen und Arbeiterbewegung, zwischen schöpferischer Individualität und kollektiver Handlungsfähigkeit, zwischen Renegaten, die zu Antikommunisten mutieren, und „organischen Intellektuellen“, die die Parteilinie propagieren und exekutieren, ist niemals ohne Widersprüche gewesen. Dass Abendroth aus der KPD, später aus der SPD ausgeschlossen wurde, belegt einmal mehr dieses Spannungsverhältnis. Im Blick auf die Bewegungen um das Jahr 1968 hatte Abendroth – im Unterschied zu seinem Kollegen Werner Hofmann[23] – einerseits die neue Qualität der Intellektuellen- und Jugendbewegung anerkannt; er solidarisierte sich mit den neuen Aktionsformen und verteidigte die Akteure gegen Angriffe von rechts und von Seiten des Staates. Da er aber – aus eigener Erfahrung – um das Schwanken vieler Intellektueller zwischen ultralinker Begeisterung und Resignation bzw. Renegatentum, zwischen übersteigertem Individualismus und dem Absturz in Depressionen nach den ersten Niederlagen wusste, lehrte er seinen Schüler*innen immer wieder, dass sich linke Intellektuelle – wollten sie langfristig im Kampf für die Transformation der bestehenden Produktions- und Herrschaftsverhältnisse wirken – sich mit dem linken Flügel der real existierenden Arbeiterbewegung verbinden und verbünden müssen. Zu seiner Zeit reichte dieser Flügel von den linken Sozialdemokraten über „Zwischengruppen“ (z.B. die Trotzkisten) bis zu den Kommunisten, die vor 1968 in der Illegalität wirkten und deren Anhänger kurz nach der Gründung der DKP durch die Politik der „Berufsverbote“ erneut verfolgt wurden. In dieser Position setzte sich einerseits der – durch die Erfahrungen des Jahres 1933 gestärkte – Gedanke der „Einheitsfront“ fort. Auf deren anderen Seite war sich Abendroth, der seine Kritik des Stalinismus und von politischen Entscheidungen der sowjetischen Führungen nie aufgegeben hatte, der Tatsache bewusst, dass auch innerhalb eines solchen Blocks der „Einheitsfront“ immer wieder Widersprüche und Konflikte auszuhalten und auszutragen sind.

Bis in die 70er Jahre schlossen ca. 80 Prozent der Studierenden am Marburger Institut für die „Wissenschaft von der Politik“ ihr Studium mit dem 1. Staatsexamen für das Lehramt Sozialkunde an der gymnasialen Oberstufe in Hessen ab. Viele von ihnen kombinierten die Fächer Politik, Geschichte, Germanistik und/oder Fremdsprachen. Die politische Wirkung von Abendroth und seiner Mitarbeiter bestand also u.a. darin, dass diese Lehrer*innen sich im Studium sowohl mit der Problematik des Faschismus als auch mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus beschäftigt hatten. In den bildungspolitischen Auseinandersetzungen der 70er Jahre (z.B. um die Rahmenrichtlinien Sozialkunde und Geschichte) spielte diese nicht gerade kleine Gruppe von Lehrer*innen (die meist noch in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft organisiert waren) eine wichtige Rolle.[24] Die Angriffe der CDU auf den Fachbereich 03 der Philipps-Universität bezogen sich gerade auf diese Wirkung von Abendroth und seinen Schülern.

Für Abendroth war es selbstverständlich, dass er auch als Hochschullehrer in die Auseinandersetzungen seiner Zeit eingriff. Als SPD-Mitglied bis 1961 engagierte er sich – als Redner und mit seinen Schriften – u.a. gegen die Remilitarisierung, für die Friedensbewegung, gegen den „Godesberger Weg“ der SPD.[25] Die DGB-Gewerkschaften – und insbesondere die IG Metall – unterstützte er politisch – und als Rechtsberater – im Kampf für Mitbestimmung und bei Streiks. Er kritisierte das KPD-Verbotsurteil und unterstützte Viktor Agartz vor dem Bundesgerichtshof gegen den Vorwurf des Landesverrats. Er warb für Schritte der Entspannungspolitik im Verhältnis zur Sowjetunion und zur DDR. Nach dem Ausschluss aus der SPD – nach 1961 – war er wichtiger Berater des SDS, einer der führenden Köpfe der Anti-Notstandsbewegung, Mitglied des „Arbeitsausschusses der sozialistischen Opposition“, der 1966-68 die Gründung einer linkssozialistischen Partei in Angriff nehmen wollte. Ostern 1968 sprach er – nach dem Attentat auf Rudi Dutschke – auf dem Frankfurter Römerberg, bevor eine große Demonstration von dort aufbrach, um die Auslieferung der „Bild-Zeitung“ von Springer zu blockieren. Danach galt sein Engagement dem Kampf gegen die Berufsverbote. Nach der Emeritierung (1972) war er an der Frankfurter „Akademie der Arbeit“ Lehrer vieler junger Gewerkschafter*innen, die sich nach links politisierten und sowohl in der Friedensbewegung des „Krefelder Appells“ als auch in den Streiks um die 35-Stunden-Woche (1984) eine zentrale Rolle spielen sollten. Die letzte Veranstaltung vor seinem Tod (1985), die der Solidarität mit den streikenden britischen Bergarbeitern gewidmet war, fand im Frankfurter Gewerkschaftshaus statt. Kurzum, seit Anfang der 50er Jahre war Abendroth im Feld des Linkssozialismus an prominenter Stelle aktiv.[26] In den 60er Jahren leistete er einen wesentlichen Beitrag zur Rekonstruktion der Linken in der Bundesrepublik.[27]

3.

Einige der besten Schüler Abendroths, die über die „Zwischengruppen“ promoviert hatten, machten in der SPD Karriere – u.a. Hanno Drechsler als Oberbürgermeister von Marburg (1970 – 1992) und Kurt Kliem als Landrat des Kreises Marburg-Biedenkopf (1985 – 1996). Auch der Hessische Ministerpräsident Hans Eichel (1990 – 1999) gehörte in den 60er Jahren zu den Schülern von Abendroth. Die Rolle der Assistenten und Schüler von Abendroth, die (noch nach dem Ausschluss aus der SPD) dem SDS angehört hatten, wurde durch die Bewegungen vor und nach 1968, durch die Öffnungen zur Reformpolitik im Bildungs- und Wissenschaftsbereich sowie durch den Aufschwung der Klassenkämpfe, von antiimperialistischen Bewegungen im Trikont sowie von sozialistischen und kommunistischen Parteien in Westeuropa bestimmt. Im Zuge der Hochschulreform ergaben sich Chancen für progressive Mehrheiten in den Gremien: Instituts- und Fachbereichsräte, Konvent etc. Das erforderte eine kluge Bündnispolitik. MSB-Spartakus und SHB vertraten mit ihrer Politik der Gewerkschaftlichen Orientierung (zumal im Fachbereich 03) in den 70er Jahren die Mehrheit der Studierenden. Im „Mittelbau“ (Assistenten; wissenschaftliche Mitarbeiter) hatten die Vertreter der GEW Einfluss. Zusammen mit einer Minderheit von linken und liberalen Professoren konnte so punktuell Einfluss auf Berufungs- und Personalpolitik sowie auf die inhaltliche Gestaltung der Curricula genommen werden. So hatten Bewegungen für die Berufung von marxistischen Professoren (Karl-Hermann Tjaden in der Soziologie; Hans Heinz Holz in der Philosophie; Frank Deppe in der Politikwissenschaft) Erfolg. Im Zuge der Überleitung von ehemaligen Assistenten auf Professorenstellen wurden ebenfalls Marxisten berufen (Georg Fülberth, Reinhard Kühnl, Peter Römer, Dieter Boris). Auch in diesem Verfahren mussten harte politische Kämpfe ausgetragen werden.

In solchen Bündniskonstellationen entstanden für eine kurze Zeit Mehrheiten, die nicht immer klug genutzt, aber gleichzeitig mit massiven Angriffen von Seiten konservativer Kräfte, Medien, durch Blockaden von Seiten der Landesregierung und der Universitätsleitungen konfrontiert wurden.[28] Darunter litten vor allem die liberalen und sozialdemokratisch orientierten Kolleg*innen. Die CDU-Angriffe auf den Fachbereich als „kommunistische Parteihochschule“ wurden massiv von der konservativen Presse, an der Spitze die FAZ, flankiert. Dem lag durchaus die realistische Erkenntnis zugrunde, dass die Marxisten der Marburger Schule aufgrund ihrer Bindung an den linken Flügel der Arbeiterbewegung eine größere Gefahr für die bestehenden (politischen und ideologischen) Herrschaftsverhältnisse bilden würden als jene ultralinken „68er“, die sich bald wieder von ihren Revolutionsphantasien und K-Gruppen-Projekten verabschieden sollten.[29] Die Angriffe konnten nur abgewehrt werden, weil sich die Linken im Fachbereich nicht nur auf die Unterstützung durch die Mehrheit der Studierenden, sondern vor allem durch die DGB-Gewerkschaften vor Ort und im Land Hessen verlassen konnten.[30] Immerhin wirken einige dieser Marxisten bis heute durch ihre Schriften, in verschiedenen politischen Projekten der Linken (darunter auch die Zeitschrift „Z“) sowie durch ihre Schüler und Anhänger innerhalb und außerhalb der Universitäten.

In ihren wissenschaftlichen Arbeiten setzten die Schüler von Abendroth – bis in die Gegenwart – eigene Schwerpunkte im Bereich der Soziologie und Gesellschaftstheorie, der Lateinamerikaforschung, der Geschichte der Arbeiterbewegung (Gewerkschaften, Sozialdemokratie), der Faschismusforschung und der Auseinandersetzung mit der neuen Rechten, der politischen Soziologie der Gewerkschaften, der materialistische Rechtstheorie, Kapitalismuskritik auf dem Boden der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie („Kapitalistik“), der Internationalen Politischen Ökonomie und Europaforschung, der Geschichte des politischen Denkens, Verarbeitung des Epochenbruchs der „Großen Transformation“ usw.[31] An den großen Projekten des Frankfurter „Instituts für marxistische Studien und Forschungen“ (IMSF) – Klassen- und Staatsanalyse, Gewerkschaftsforschung und Streikanalysen, Studien zur Produktivkraftentwicklung und Zusammensetzung der Arbeiterklasse – waren Marburger Marxisten beteiligt. Für die Publikationen war die Zusammenarbeit mit dem „Pahl-Rugenstein-Verlag“ – später PapyRossa-Verlag – in Köln, mit den „Blättern für deutsche und internationale Politik“, mit dem „Argument“, mit dem Distel-Verlag in Heilbronn und (später) mit dem VSA-Verlag in Hamburg wichtig. In Marburg befand sich die Redaktion des „Antiimperialistischen Informationsbulletins“. Mit Wolfgang Abendroth wurde Mitte der 70er Jahre der Marburger Verlag „Arbeiterbewegung und Gesellschaftswissenschaften“ (VAG) gegründet, in dem fast 20 Jahre lang Dissertationen[32], Tagungsbände[33], aber auch politische Schriften – z. B. zu den Streiks um die 35-Stunden-Woche im Jahre 1984 – sowie Schriften aus der Schule der „kritischen Psychologie“ (Holzkamp, Karl-Heinz Braun) erschienen. Die Marburger „Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung“ (Erstauflage 1977, 4. Erweiterte Auflage 1989) löste eine heftige bundesweite Debatte aus, die sich von der Geschichtsdebatte auf die Auseinandersetzung um eine angebliche kommunistische Unterwanderung der DGB-Gewerkschaften – also auf das Gebiet des Staatsschutzes – verlagerte. Der DGB veranstaltete 1979 in München eine große Geschichtskonferenz, die auf die Geschichts- und Unterwanderungsdebatte der vorangehenden Jahre reagieren sollte, um die eher sozialdemokratischen Deutungsmuster der eigenen Geschichte zu rehabilitieren.[34]

Die 70er Jahre waren – weltweit – durch eine Blüte des „akademischen Marxismus“ gekennzeichnet.[35] Auch in Marburg gab es viele „Kapital“-Lesekreise, die bei den Soziologen und Politikwissenschaftlern im Grundstudium mit Veranstaltungen zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft kombiniert wurden. Es gab Beiträge zur sog. „Staatsableitungsdebatte“ (nicht nur durch die Zusammenarbeit mit dem IMSF) sowie zu Imperialismus- und Dritte-Welt-Analysen. Schließlich verstanden sich die Beiträge zur Geschichte der Gewerkschaften sowie der Arbeiterbewegung als Beiträge zu einer marxistisch orientierten Historiographie, die die Organisationsgeschichte in den Zusammenhang der Gesellschaftsgeschichte stellt. Diese „Blüte“ der 70er Jahre wird freilich nur verständlich, wenn sie im Zusammenhang der Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in dieser Periode begriffen werden: die Erfolge der antiimperialistischen Befreiungsbewegungen (Kuba, Vietnam); rechte Diktaturen in Südeuropa wurden gestürzt (Griechenland, Portugal, Spanien); Wellen von Streiks erschütterten die entwickelten kapitalistischen Staaten Westeuropas, die kommunistische Herrschaft in Mittel- und Osteuropa erodierte seit „Prag 1968“ (was in Marburg nicht hinreichend erkannt wurde), sozialdemokratische Parteien bewegten sich nach links, große kommunistischer Parteien (u.a. in Italien) erfuhren einen Aufschwung und lösten sich von der Orientierung auf das „Modell“ und die Politik der Sowjetunion („Eurokommunismus“); neue soziale Bewegungen und die „grüne Partei“ forderten die traditionelle Linke heraus; in Chile siegte nach einem Militärputsch 1973 unter General Pinochet die neoliberale Gegen-Revolution; in China tobten die Auseinandersetzungen um das Ende der Kulturrevolution und die Nachfolge von Mao, die 1978 durch die erste Etappe der sog. Deng-Xiao-Ping-Reformen beendet wurden. Von diesem Klima waren selbstverständlich auch die praktisch-politischen Optionen Marburger Marxisten in den 70er Jahren beeinflusst.[36]

Vor Ort gab es einen starken Einfluss von MSB-SHB und der DKP, die im Stadtparlament mit Eberhard Dähne (dem ehemaligen SDS-Bundesvorsitzenden, Assistent von Heinz Maus und dann IMSF) geführt wurde. Später übernahm Georg Fülberth diese Rolle im Stadtparlament und der lokalen Politik. Marburg war ein Zentrum der Bewegung gegen die Berufsverbote; denn hier war mit Herbert Bastian ein Postbeamter und Mitglied des Stadtparlamentes betroffen. Kurt Steinhaus, der als Mitglied des SDS wichtige Beiträge zur Imperialismus-Analyse geleistet hatte, wurde Mitarbeiter des IMSF, Funktionär der DKP, später Mitarbeiter des Vorsitzenden Herbert Mies. Dass die DKP in Marburg an der Uni nach 68 unter den Abendroth-Schülern Mitglieder und Sympathisanten gewann, hatte verschiedene Ursachen.[37] Das Abendroth’sche Programm der „Einheitsfront“ hatte die SDSler schon vor 68 nicht nur mit der Geschichte des linken Flügels der Arbeiterbewegung, sondern auch mit äußerst respektvollen Biographien kommunistischer Antifaschisten persönlich bekannt gemacht.[38] Außerdem vertraten die „Marburger“ – unter dem Einfluss von Abendroth – schon im SDS und beim Versuch der Gründung einer linkssozialistischen Partei (1966-68) gegen die „Revolutionsromantik“ der Antiautoritären eine Programmatik des „Linksreformismus“, der strategisch und taktisch auf die Heranführung der Intellektuellen wie des linken Flügels der Arbeiterklasse an Kämpfe um Reformen und die Veränderung der Kräfte- und Machtverhältnisse in der Perspektive des Sozialismus ausgerichtet war. Hier gab es Übereinstimmungen mit der Programmatik der DKP („antimonopolitische Demokratie“[39]). Auf der Ebene der Kapitalismusanalyse wurden u.a. Schriften aus der DDR zur Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus rezipiert.[40]

Im Zuge der Entspannungspolitik – aber immer noch gegen die antikommunistische Staatsdoktrin – wurde nicht nur der Beitrag des „realen Sozialismus“ zur Sicherung des Friedens sowie der Unterstützung der antiimperialistischen Befreiungsbewegungen registriert. Darüber hinaus bestärkten Studien über Geschichte und Strukturen sozialistischer Gesellschaften bei einigen (wie bei Abendroth selbst) die Hoffnung, dass Reformprozesse schließlich auch den „Schatten das Stalinismus“ beseitigen würden. Die Geschichte hat bis 1991 solche Hoffnungen schnell falsifiziert und dabei ihren Trägern die Aufgabe einer gründlichen Selbstkritik hinterlassen. Schließlich gab es durch die Arbeit in und mit den Gewerkschaften – vor allem in der Auseinandersetzung um die vermeintliche, „kommunistische Unterwanderung“ der Gewerkschaften – vielfältige Kontakte mit Kommunisten, die als anerkannte Betriebsräte und Vertrauensleute die Interessen ihrer Belegschaften vertraten und in den Streikbewegungen sowie in den innergewerkschaftlichen Debatten dieser Jahre präsent waren. Bei den großen Konferenzen des IMSF in den 70er und frühen 80er Jahren kamen marxistische Wissenschaftler und diese Gewerkschaftsaktivisten zusammen. Solche Bindungen führten jedoch auch dazu, dass Widersprüche und Schwächen der kommunistischen Bewegung und Politik, vor allem in ihrer Bindung an die sozialistischen Staaten verdrängt, übersehen, geleugnet oder gar gerechtfertigt wurden. Seit den 80er Jahren wurden solche Widersprüche zunehmend bewusst. Im Niedergang der DKP verließen auch in Marburg (zuerst nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976) nicht wenige Mitglieder die Partei. Vor dem „Absturz“ der Jahre 1989/90 hatte sich auch hier eine Fraktion der „Erneuerer“ gebildet, von denen sich einige bis heute – wissenschaftlich und politisch – als Marxisten begreifen.

An der Hochschule gab es in den frühen 70er Jahren zudem eine starke Gruppe der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die – zusammen mit Delegierten der Gewerkschaft ÖTV – im Personalrat der Universität die Interessen der Beschäftigten vertraten. In Marburg wurde 1968 – auf Initiative von Werner Hofmann – der Bund demokratischer Wissenschaftler*innen (BdWi) gegründet, der gerade sein 50-jähriges Jubiläum feiern konnte. Die Soziologen Herbert Claas und Rainer Rilling waren in den frühen Jahren Geschäftsführer des Bundes. In Marburg entwickelten sich auch erste Initiativen im Bereich einer „kritischen Medizin“ sowie der Organisierung der „Demokratischen Ärzte“. Der Arzt und Soziologe Hans-Ulrich Deppe spielte dabei eine führende Rolle. Über Marburg hinaus unterstützen viele Marburger die Friedensbewegung – bis hin zum sog. „Krefelder Appell“ gegen die Stationierung der Mittelstrecken-Raketen. Viele Studierende, die in der Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen (AgF) organisiert waren, engagierten sich praktisch, aber auch konzeptionell in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Lehrer an Gewerkschaftsschulen kamen zum Studium nach Marburg. Nicht wenige Absolventen – auch späterer Jahrgänge – arbeiten bis heute hauptberuflich bei den Gewerkschaften. Auch in der SPD – vor allem bei den Jungsozialisten und im SHB – wurde der Einfluss des sog. „Stamokap-Flügels“ mit dem Wirken der „Marburger Schule“ in Verbindung gebracht.

***

Die Kraft, die Marxisten an der Universität Marburg in den 70er Jahren entwickeln konnten, ergab sich aus dem Zusammenwirken verschiedener Umstände: einer starken Studentenbewegung, einem Klima der Reformpolitik unter der Kanzlerschaft von Willy Brandt, einem Aufschwung gewerkschaftlicher Kämpfe, einer Linksverschiebung in Europa und der Welt, auf die schließlich die neo-liberale Gegen-Revolution reagierte. Vor Ort wurde dieses Zusammenwirken durch eine (partiell) kluge Bündnispolitik der Linken, vor allem aber durch ein Reservoir von qualifizierten Nachwuchskräften aus der Schule von Wolfgang Abendroth ermöglicht. Diese Konstellation veränderte sich seit dem Ende der 70er Jahre grundlegend. In den verschiedenen Bereichen – nicht nur in der Universität – wurde die Linke in die Defensive getrieben. Die Repräsentanten der „Marburger Schule“ reagierten auf diese Veränderung nicht als ein Kollektiv von politisch aktiven Wissenschaftlern, die daran arbeiten, die sich immer deutlicher abzeichnende „Großen Transformation“ bzw. „Große Regression“ zu erforschen, zu deuten und in die politisch-strategischen Überlegungen der linken Kräfte einzubringen. Stattdessen setzte sich schon in den 80er Jahren eine Tendenz zur Individualisierung (mit verschiedenen wissenschaftlichen und politischen Optionen) durch; es gab keine größeren gemeinsamen Projekte – im eigenen Institut, in der wissenschaftlichen Arbeit und in den politischen Auseinandersetzungen der Zeit – mehr.[41]

Die Repräsentanten der Marburger Schule verfolgten seit den 80er Jahren – auch in Zusammenarbeit mit hoch qualifizierten Nachwuchskräften – das Projekt einer marxistischen Erneuerung, die in der Analyse der Krisen des Marxismus und Sozialismus einerseits auf den Ausgangspunkt der „Klassiker“ zurückgeht, andererseits die – äußerst lebendige – internationale Kapitalismuskritik sowie die Analyse der sozialen und politischen Kämpfe im globalen Kapitalismus rezipiert und vertieft.[42] Dabei vertreten sie in den aktuellen Debatten nach wie vor die Abendroth’sche Position, nach der die intellektuelle Kritik der bestehenden Herrschaftsverhältnisse nur dann wirksam werden kann, wenn sie sich mit den Interessen und den Kämpfen der subalternen Klassen verbindet.

* Überarbeiteter Vortrag vor der Konferenz „Marx in Hessen“ am 21. 4. 2018 in Frankfurt/M. Ich danke Georg Fülberth für die kritische Lektüre des Textes und Ergänzungsvorschläge.

[1] Vgl. den Bericht von Yannik Pein in Z 114 (Juni 2018), S. 205-208. Veranstalter waren die Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen, die GEW Hessen, die Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen sowie die in Frankfurt/M. ansässigen Redaktionen „express“ und „Z“.

[2] Vgl. Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus, Frankfurt / Main 1978.

[3] Vgl. Ulrich Band / Christoph Görg (Hrsg.), Zur Aktualität der Staatsform. Die materialistische Staatstheorie von Joachim Hirsch, Baden-Baden 2018.

[4] Vgl. Alex Demirovic, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt/M. 1999.

[5] Nach: Verein für Frankfurter Arbeitergeschichte (Hrsg.), Frankfurter Arbeiterbewegung in Dokumenten 1832 – 1933, Band 2: 1914 – 1933, Frankfurt am Main1997, S. 822/3.

[6] Vgl. dazu Jeanette Erazo Heufelder, Der argentinische Krösus. Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule, Berlin 2017.

[7] Aus einem Brief von T. W. Adorno an Leo Löwenthal im Juli 1924: „…ich setzte mich für 10 Tage nach Kronberg ab, wo Max Horkheimer und sein Freund Pollock, beides sehr ungewöhnliche Menschen, mich aufs liebevollste aufnahmen … Beide sind übrigens Kommunisten und wir hatten langwierige und leidenschaftliche Gespräche über materialistische Geschichtsauffassung, in denen wir uns gegenseitig viel zugestanden.“ (Nach: Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel, Frankfurt/M. 1980, S. 248.)

[8] Als ich 1985 Loni Mahlein kurz vor seinem Tod im Krankenhaus besuchte, sprach er von diesem Unterstützerschreiben. Er habe daraufhin mehrere Schreiben von CDU-Leuten erhalten, die sich darüber erregten, dass ein Gewerkschafter es wage, sich in Berufungsangelegenheiten einer deutschen Universität einzumischen. Diese Reaktionen hatten ihn offensichtlich erfreut!

[9] Jürgen Habermas / Ludwig von Friedeburg / Christoph Oehler / Friedrich Wentz, Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewusstsein Frankfurter Studenten, Neuwied 1961, S. 55.

[10] Darunter Michael Schumann, Thomas von der Vring, Monika und Jürgen Seifert, Klaus Offe; für die Fördergesellschaft des SDS Wolfgang Abendroth, Heinz Brakemeier, Heiner Halberstadt.

[11] Horkheimer bezog sich auf den Aufsatz „Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus“(1957), in: Jürgen Habermas: Theorie und Praxis, Neuwied 1963, S. 261 ff.

[12] Max Horkheimer an T. W. Adorno vom 27. September 1958, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band 18, Briefwechsel 1949 – 1973, Frankfurt/M. 1996, S. 437 - 447.

[13] Ebd. S. 447.

[14] Vgl. u.a. Gert Schäfer / Carl Nedelmann (Hrsg.), Der CDU-Staat. Analysen zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, 2 Bände, Frankfurt/M.1969.

[15] Vgl. dazu Gerhard Schäfer, Das Marburger Dreigestirn…, in: Stephan Moebius / Gerhard Schäfer (Hrsg.), Soziologie als Gesellschaftskritik, Hamburg 2006, S. 44 – 71; Lothar Peter: Marx an die Uni. Die „Marburger Schule“. Geschichte, Probleme, Akteure, Köln 2014.

[16] Zum Werk von Abendroth vgl. die ersten vier Bände der „Gesammelten Schriften“, herausgegeben von Michael Buckmiller u.a. im Offizin-Verlag, Hannover, 2006 ff.; außerdem u.a. Friedrich-Martin Balzer u.a. (Hrsg), Wolfgang Abendroth als Wissenschaftlicher Politiker, Opladen 2001; Hans-Jürgen Urban u.a. (Hrsg.), „Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie“. Zur Aktualität von Wolfgang Abendroth, Hamburg 2006; Andreas Fischer-Lescano u.a. (Hrsg.), Der Staat der Klassengesellschaft. Rechts- und Sozialstaatlichkeit bei Wolfgang Abendroth, Baden-Baden 2012.

[17] Wolfgang Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied und Berlin 1967, S. 9/10.

[18] Aneurin Bevan (1897 – 1960) war bis in die 50er Jahre einer der bedeutendsten Sprecher des linken Flügels der britischen Labour. Er hatte schon als 13-jähriger im Bergwerk gearbeitet. Er war unter Clement Attlee nach 1945 als Minister für die Einführung des nationalen Gesundheitssystems (NHS) zuständig. 1952 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „In Place of Fear“: „The second paragraph of this book … is a succinct expression of the central importance of power to his political life. ‚A young miner in a South Wales colliery, my concern was with the one practical question: where does power lie in this particular state of Great Britain, and how can it be attained by the workers?’’ His life has been described as a long search for power.” (Nach: Nicklaus Thomas-Symonds, Nye: The Political Life of Aneurin Bevan, London – New York 2016, S. 4).

[19] Frank Deppe, Politisches Denken im 20. Jahrhundert, Band 2: Zwischen den Weltkriegen, Hamburg 2016, S. 225 – 236.

[20] Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 4, Hamburg 1992, S. 892.

[21] Vgl. dazu Wolfgang Abendroth u.a. (Hrsg.), Faschismus und Kapitalismus, Frankfurt / Wien 1967; neuerdings: Martin Beck / Ingo Stützle (Hrsg.), Die neuen Bonapartisten. Mit Marx den Aufstieg von Trump und Co. verstehen, Berlin 2018.

[22] In den 50er Jahren – also vor dem Ausschluss aus der SPD – war Abendroth noch respektiertes Mitglieder angesehener akademischer Vereinigungen – so der der Staatsrechtslehrer sowie der „Bonner Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ (mit Ludwig Bergsträsser, Karl Dietrich Erdmann, Theodor Eschenburg und Theodor Schieder); vgl. Philipp Kufferath: Peter von Oertzen 1924 – 2008, Göttingen 2018, S. 243. Diese Arbeit beleuchtet auch die enge politische und wissenschaftliche Beziehung zwischen Abendroth und Peter von Oertzen, die sich erst in den 60er Jahren lockerte.

[23] Vgl. Dieter Boris, Die „68er Revolte“ aus der Sicht ihrer Mentoren, in: in: Forum Wissenschaft 2/2018, S. 43-48.

[24] Die Schriften des Abendroth-Schülers Reinhard Kühnl – vor allem der Quellenband „Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten“ – wurden von mehreren Generationen von Lehrern und Schülern im Unterricht verwendet.

[25] Vgl. dazu die Bände 2 und 3 der von Michael Buckmiller u.a. herausgegebenen „Gesammelte Schriften“ von Wolfgang Abendroth (vgl. FN 16).

[26] Dazu Richard Heigl, Oppositionspolitik: Wolfgang Abendroth und die Entstehung der neuen Linken (1950 – 1968), Berlin 2008; Gregor Kritidis, Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer, Hannover 2008.

[27] 1962 schrieb er in einem Aufsatz („Bilanz der sozialistischen Idee in der Bundesrepublik Deutschland“) „…sozialistisches Denken ist … in kleine Zirkel zurückgeworfen, die keinerlei größere gesellschaftliche Einflußmöglichkeiten besitzen und aus der Diskussion der offiziösen Presse und aus den öffentlichen Auseinandersetzungen der Machtträger in der Gesellschaft ausgeschlossen sind.“ Er verweist dann auf „relativ bedeutungslose“ kleine eigene Publikationen: „Sozialistische Politik“, „Funken“, „Die Andere Zeitung“, „Pläne“… am Rande: die „Blätter für deutsche und internationale Politik“, „Junge Kirche“ (ev.), „Werkhefte“ (katholisch). Am Schluss des Artikels schreibt er: „Gelingt es den versprengten Intellektuellen, den überlebenden Köpfen der alten Arbeiterbewegung und der kritischen Jugend, die (sozialistisches) Denken wieder lebendig machen will, ein geistiges Zentrum zu gemeinsamem Denken, zu gemeinsamer Analyse der gesellschaftlichen und politischen Situation der Bundesrepublik zu schaffen, besteht wenig Grund, daran zu zweifeln, daß die gegenwärtige Ausschaltung sozialistischen Denkens genauso überwindbar sein wird wie seine Ausschaltung zwischen 1933 und 1945.“ Das Jahr 1968 sollte Abendroth Recht geben! Sh. Wolfgang Abendroth, Bilanz .., in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Hannover 2013, S.392-413, hier: S. 409f.und 413.

[28] Vgl. dazu Heiko Asseln u.a., Sozialwissenschaft und Arbeitnehmerinteressen. Die Auseinandersetzungen um den Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Marburg, Köln 1977.

[29] Vgl. Frank Deppe, 1968 – Zeiten des Übergangs, Hamburg 2018, S. 87 ff.; vgl. auch Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt 1967 – 1977, Köln 2001.

[30] Die DGB-Kreisvorsitzende Käthe Dinnebier sowie der Landesvorsitzende Jochen Richert setzten sich immer wieder für den Fachbereich ein. Als Beitrag des Fachbereich 03 zur 450-Jahr-Feier der Philipps-Universität im Jahre 1977 sprach der Vorsitzende des DGB, Heinz-Oskar Vetter, im überfüllten Audimax zu dem Thema: „Was erwarten die Gewerkschaften von den Hochschulen?“ (In: Hans-Dieter Bamberg u.a. [Hrsg.], Hochschulen und Gewerkschaften, Köln 1979, S. 446 – 457). An diesem Text hatte u.a. der ehemalige Marburger ASTA-Vorsitzende Norbert Trautwein aus der Grundsatzabteilung des DGB mitgewirkt, die zu dieser Zeit von Detlef Hensche geleitet wurde.

[31] Vgl. Lothar Peter, Marx an die Uni, a.a.O., S. 108 ff.

[32] Darunter sechs Marburger Dissertationen aus dem Forschungsprojekt: „Neugründung der Gewerkschaften im Westen nach 1945“.

[33] Besonders wichtig war dabei der Band: Frank Deppe u.a. (Hrsg.), Abendroth-Forum. Marburger Gespräche aus Anlass des 70. Geburtstages von Wolfgang Abendroth. Band 6 der Schriftenreihe Sozialgeschichte und Arbeiterbewegung, Marburg 1977.

[34] Heinz-Oskar Vetter (Hrsg.), Aus der Geschichte lernen – die Zukunft gestalten. Protokoll der wissenschaftlichen Konferenz zur Geschichte der deutschen Gewerkschaften vom 12. und 13. Oktober 1979 in München, Köln 1980.

[35] Vgl. Frank Deppe: Ein kurzer Sommer des akademischen Marxismus, in: A. Demirovic u.a. (Hrsg.), Was ist der Stand des Marxismus? Münster 2015, S. 63 – 77.

[36] Als die Bewegungen von 68 ihren Höhepunkt überschritten hatten und die Grenzen ihrer Wirksamkeit deutlich geworden waren, stellte sich für die Führungsgruppen der lokalen und regionalen Strömungen mit aller Macht die „Organisationsfrage“ und die Klärung der Beziehungen der Intelligenz zur Arbeiterklasse. Die verschiedenen K-Gruppen und Parteigründungen dieser Jahre waren praktische Versuche einer solchen Antwort, die freilich bald scheiterten. Kein Geringerer als Hans-Jürgen Krahl stellte kurz vor seinem Tod (1970) fest: „Das Elend der kritischen Theorie ist ihr Unvermögen, die Organisationsfrage zu stellen.” In: Ders., Konstitution und Klassenkampf, Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution, Vlg. Neue Kritik, 3. Auflage, Frankfurt/M. 1977, S. 254.

[37] Vgl. dazu Lothar Peter, Marx an die Uni, a.a.O., S. 136 ff.

[38] Der Vorsitzende der der neu gegründete DKP, Kurt Bachmann, aber auch der Direktor des IMSF, Jupp Schleifstein, personifizierten diese Biographien eines „aufrechten Ganges“. In Marburg war es der Betriebsrat und Altkommunist Joseph Dörrich, den die Jungen von der Universität zunächst in der „Arbeitsgemeinschaft Sozialistische Opposition“ (ASO) verehrten, die 1968 – u.a. mit Wolfgang Abendroth – bei den Kommunalwahlen kandidierte und ca. 3,5 Prozent der Stimmen erreichte.

[39] Vgl. Willi Gerns / Robert Steigerwald, Probleme der Strategie des antimonopolistischen Kampfes, Frankfurt/M. 1973.

[40] Vgl. dazu u.a. Margaret Wirth, Kapitalismustheorie in der DDR, Frankfurt/M. 1973; Heinz Jung / Josef Schleifstein, Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus und ihre Kritiker, Frankfurt/M. 1979.

[41] 1992 kündigten Dieter Boris, Reinhard Kühnl, Frank Deppe und Georg Fülberth ein gemeinsames Seminar an mit dem Titel „Die Marburger Schule und der reale Sozialismus“. Dazu erstellte jeder eine komplette Liste seiner Publikationen, um den Studierenden die Möglichkeit zu geben, unsere Texte zum „realen Sozialismus“ (sofern es welche gab) zu überprüfen. Das Seminar war die Antwort auf einen Kollegen aus der Soziologie, der zuvor als „Abwickler“ im Osten tätig war und in einem Interview mit einer Marburger Alternativzeitung behauptet hatte, dass er nach seiner Berufung nach Marburg ein Einreiseverbot in die DDR hatte – und: dass es inzwischen ja bekannt sei, dass die Marburger GO-Professoren (das waren wir!) mit der Stasi zusammengearbeitet hätten. Zu diesem Seminar luden wir auch Manfred Wilke aus Berlin als Referenten ein. Der Ex-Trotzkist war einer der führenden Agitatoren bei der Kampagne gegen die „kommunistische Unterwanderung“ der Gewerkschaften durch die Marburger. Er war fieberhaft auf der Suche nach für uns belastenden Dokumenten in DDR-Archiven. Inzwischen ist er Mitglied des Vorstandes der Berliner CDU. Das Seminar war am Anfang überfüllt; die Studierenden erwarteten wohl Sensationen und Enthüllungen. Als wir zur fachlichen Vertiefung übergingen (z. B. Wolfgang Abendroth und Werner Hofmann über „Stalinismus“), ließ das Interesse schnell nach.

[42] Hierzu im einzelnen Lothar Peter, Marx an die Uni, a.a.O., Kap. V und VI (S. 162-205). Vgl. als aktuelles Beispiel für die nachhaltige Wirksamkeit der Marburger Schule das gerade erschienene Buch, das Schüler*innen und Freunde von Dieter Boris – in Zusammenarbeit mit seinen alten Genossen – diesem zu seinem 75. Geburtstag gewidmet haben: Patrick Eser / Alke Jenss / Johannes Schulten / Anne Tittor (Hrsg.), Globale Ungleichgewichte und soziale Transformation. Beiträge von Dieter Boris aus 50 Jahren zu Lateinamerika, Klassenanalyse und Bewegungspolitik, Wien, Mandelbaum Verlag 2018.