Kapitalismus und Migration

„Ordnungszerfall" und Migration

von Jörg Kronauer
März 2016

Einen Rekord der besonderen Art vermerkte kurz vor der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2015 deren offizielle Begleitbroschüre, der „Munich Security Report 2015“. Die Anzahl der Länder, die in einen oder sogar mehrere bewaffnete Konflikte involviert waren, sei im Jahr 2013 auf einen neuen Höchstwert gestiegen, hieß es in der Broschüre. Nicht weniger als 46 Prozent aller Staaten weltweit hatten sich demnach an Kriegen oder Bürgerkriegen beteiligt oder waren sogar selbst von ihnen überzogen worden.[1] Nimmt ihre Zahl weiterhin so rasch zu, dann wird in Kürze mehr als die Hälfte aller Länder der Erde in bewaffnete Machtkämpfe verwickelt sein. Noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es so viele kriegführende Staaten gegeben.

Der neue Kriegsrekord ist kein Zufall, aber er wird im außenpolitischen Establishment der Bundesrepublik weitgehend schulterzuckend zur Kenntnis genommen. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass dauerhafte und parallel verlaufende Krisen nicht mehr die Ausnahme, sondern eher die Regel der Außenpolitik in einer zunehmend zerbrechlichen globalisierten Welt sind“, schrieb etwa Thomas Bagger, der Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt, in der renommierten US-Zeitschrift „The Washington Quarterly“.[2] „Die Krise ist die ‚neue Normalität’“, fuhr Bagger fort. Man sei „mit einer Situation konfrontiert, in der die alte Ordnung in einigen Teilen umstritten ist, in anderen ausfranst, durch Parallelstrukturen ersetzt wird oder in Teilen Afrikas und des Mittleren Ostens sogar zerfällt“. Die alte Ordnung? Das ist das vom Westen dominierte Weltsystem, in dem die transatlantischen Mächte seit 1990 zuverlässig das Sagen hatten und aus dem sie beispiellosen Reichtum sogen. Es ist nicht mehr stabil.

„Der Zerfall der internationalen Ordnung im Fokus“: So lautete denn auch der Titel einer Pressemitteilung, die Mitte Januar 2015 auf die damals kurz bevorstehende Münchner Sicherheitskonferenz hinwies. „Die Ukraine-Krise, die anhaltenden Konflikte und Zerfallsprozesse im Nahen Osten und neue Terrorphänomene wie der so genannte Islamische Staat haben uns vor Augen geführt, dass grundlegende Regeln der internationalen Ordnung gegenwärtig auf die Probe gestellt werden“, ließ sich der Vorsitzende der Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, darin zitieren.[3] In den folgenden Tagen bekräftigte er diese Ansicht immer wieder. „Wir erleben ein Versagen der ‚global governance’ auf breiter Front“, äußerte er am 18. Januar in der Tageszeitung „Die Welt“.[4] Den „Tagesspiegel“ ließ er am 30. Januar wissen: „Die internationale Ordnung zerfällt gerade.“[5] Und damit es auch wirklich niemand überlas, fügte er hinzu: „Wir leben im Zeitalter des Ordnungszerfalls.“

Der nahe und mittlere Osten

Was hat es auf sich mit dem „Ordnungszerfall“, den Ischinger und das Auswärtige Amt diagnostizieren? Der Mittlere Osten bietet für diese Frage die dramatischsten Einblicke. Gerade einmal dreizehn Jahre ist es her, da entfesselten die Vereinigten Staaten den Krieg gegen den Irak. Vom „Greater Middle East“ war weithin die Rede, von einem Mittleren Osten, der auf prowestliche Orientierung getrimmt werden sollte. Washington stand auf dem Höhepunkt seiner globalen Macht; es war allerdings nicht anzunehmen, dass dieser Zustand ohne weiteres Zutun auf Dauer bestehen bleiben würde: Der ökonomische und infolgedessen früher oder später auch politische Aufstieg der Volksrepublik China war unübersehbar; darüber hinaus war die EU dabei, sich immer enger zusammenzuschließen und, ebenfalls aufbauend auf ihrer beeindruckenden Wirtschaftsmacht, eine vereinheitlichte Außen- und Militärpolitik zu entwickeln, um sich ihrerseits als Weltmacht zu profilieren. Mit Blick auf die sich abzeichnenden globalen Rivalitäten der Zukunft den Mittleren Osten, die energieressourcenreichste Region der Welt mit höchster geostrategischer Bedeutung, fest an sich zu binden – das war der Gedanke, der die Regierung von Präsident George W. Bush dazu trieb, den Irak zu überfallen und seinen Staatspräsidenten Saddam Hussein zu stürzen. Vom Zentrum des Mittleren Ostens aus dann auch die angrenzenden Staaten Syrien und Iran per regime change auf einen prowestlichen Kurs festzulegen – das war der weitere Plan. Das gesamte Vorhaben scheiterte bekanntlich auf ganzer Linie. Allerdings zerstörte die US-geführte Militärintervention die staatliche Ordnung im Irak und begann, Menschen in großer Zahl in die Flucht zu treiben.

Die Versuche des Westens, den Mittleren Osten und weitere Staaten der arabisch-islamischen Welt fest an sich zu binden, um die eigene Position in der globalen Konkurrenz gegen China zu stärken, waren damit noch lange nicht zu Ende. Die Konstellationen begannen sich allerdings etwas zu verschieben. Während die Vereinigten Staaten sich stärker auf den beginnenden Machtkampf gegen China zu konzentrieren begannen – im November 2011 rief Außenministerin Hillary Clinton in der US-Zeitschrift „Foreign Policy“ offiziell „America’s Pacific Century“ aus[6] –, drängten im Krieg gegen Libyen ab März 2011 einige EU-Staaten, insbesondere Frankreich und Großbritannien, nach vorn. Gaddafis Sturz sollte in Libyen verlässliche prowestliche Kräfte an die Macht bringen, und als im Sommer 2011 die Proteste gegen Bashar al Assad anhielten und damit eine ähnliche Option auch in Syrien möglich schien, setzten die westlichen Mächte dort ebenfalls auf regime change. Die Entwicklung verlief nicht anders als im Irak: Beide Länder rutschten immer weiter in Krieg und Zerstörung. Dem Westen gelang es nicht, die Dinge in seinem Sinne zu ordnen; seine direkten (Libyen) und indirekten (Syrien) Interventionen zerstörten vielmehr jegliche staatliche Ordnung in den betroffenen Ländern. Der von Ischinger und dem Auswärtigen Amt beklagte „Ordnungszerfall“ ist in den beiden Ländern – ganz wie im Irak – eine Ordnungszerstörung mit aktiver Beteiligung des Westens, und das bei gleichzeitiger Unfähigkeit, eine neue staatliche Ordnung zu schaffen.

Ironischerweise haben die westlichen Interventionen inzwischen zu Versuchen geführt, eine neue antiwestliche Ordnung zu schaffen – auf der denkbar reaktionärsten, nämlich auf salafistisch-jihadistischer Basis. Hintergrund ist die Bündnispolitik der westlichen Staaten im Nahen und Mittleren Osten gewesen. Um Iran, das vielleicht größte Hindernis für eine westliche Hegemonie über die Region, zu schwächen, begannen die Vereinigten Staaten und die führenden Mächte der EU vor allem seit der machtpolitischen Ausschaltung des Irak im Jahr 2003, Irans nun härtesten Gegner in Mittelost systematisch zu stärken: Saudi-Arabien wurde wirtschaftlich unterstützt und militärisch hochgerüstet. Nun hat Riad für seine Einflusspolitik traditionell immer wieder auf salafistisch-jihadistische Organisationen zurückgegriffen, die schärfsten und blutigsten Feinde der Schiiten, also Irans und seiner Verbündeten etwa im Irak, in Syrien und im Libanon. Welche Folgen eine außenpolitisch motivierte Nutzung von Jihadisten hatte, das konnte man bereits aus dem Afghanistan-Krieg der 1980er Jahre wissen, als vor allem die USA, punktuell aber auch die Bundesrepublik gemeinsam mit Saudi-Arabien am Hindukusch die Mujahedin für den Kampf gegen die sowjetischen Streitkräfte trainierten und aufrüsteten. Zu den Mujahedin zählte damals nicht zuletzt ein gewisser Osama bin Laden. Ab 2011/12 gingen die westlichen Mächte und Saudi-Arabien trotz alledem im Syrien-Krieg im Kern dasselbe Bündnis ein wie damals – und die Folgen waren die gleichen. Im August 2012 berichtete der US-Militärgeheimdienst DIA nach Washington, im Nordosten Syriens würden Aufständische in absehbarer Zeit möglicherweise eine Art „salafistisches Fürstentum“ gründen; das sei „genau, was die Mächte wollen, die die Opposition unterstützen“, weil es damit gelingen könne, Iran und seine Verbündeten zu schwächen.[7] Was die DIA als „salafistisches Fürstentum“ beschrieb, das war schlicht eine Keimzelle des sich in Nordost-Syrien wenig später herausbildenden „Islamischen Staats“ (IS/Daesh).

Die von den westlichen Kriegen verursachte Ordnungszerstörung, der anschließende Versuch des IS/Daesh, eine salafistisch-jihadistische Gewaltordnung aufzubauen, und die darauf wiederum folgenden Angriffe des Westens auf den IS/Daesh, die eine antiwestliche Ordnung schon im Keim ersticken sollen, haben jeweils neue Verheerungen angerichtet und stets weitere Menschenmengen in die Flucht getrieben. Die größte Zahl an Flüchtlingen stammt dabei aus Syrien, aus dem laut Angaben des UNHCR bis Ende 2015 beinahe 4,6 Millionen Menschen geflohen waren. Bereits im Juni 2015 hatte der UNHCR zusätzlich 7,6 Millionen Binnenvertriebene in Syrien gezählt. Auf Platz zwei der Flüchtlings-Weltrangliste steht mit Afghanistan (2,59 Millionen Flüchtlinge und offiziell 800.000 Binnenvertriebene Ende 2014) ein Land, an dessen Zerstörung der Westen bereits in den 1980er Jahren maßgeblichen Anteil hatte. Dem UNHCR zufolge befanden sich Ende 2014 rund 370.000 Iraker auf der Flucht, während in Libyen beinahe 310.000 Binnenvertriebene gezählt wurden. Und auch das sind nur die offiziellen Zahlen; Beobachter schließen nicht aus, dass sie deutlich zu niedrig sind.

In der Massenflucht über das Mittelmeer nach Italien oder auf die griechischen Inseln, die spätestens seit 2015 im großen Stil auch die west- und die nordeuropäischen Wohlstandszentren erreicht, mischen sich Kriegsflüchtlinge mit Menschen, die aus anderen Gründen aus den Ländern Afrikas und Asiens fliehen.[8] Hintergrund ist für sie oft nicht die vom Westen ausgelöste Ordnungszerstörung, sondern gerade das Fortbestehen der westlich dominierten Weltordnung in ihren Herkunftsländern. Viele Länder etwa Afrikas dienen den reichen Staaten Westeuropas und Nordamerikas bis heute vor allem als Rohstoffquellen und als Absatzmärkte für überschüssige Waren. Eine eigenständige industrielle Entwicklung in nennenswertem Ausmaß findet selten statt; in den städtischen Armutsvierteln und auf dem Land sind die Lebensperspektiven, gelinde gesagt, beschränkt. Viele Menschen können ihre Familien nicht mehr mit Erwerbsarbeit in ihrem Herkunftsland ernähren, sondern nur, indem sie auf Baustellen oder in Dienstleistungsbetrieben in besser gestellten Ländern, vorzugsweise in den wohlhabenden Staaten der EU, für miserable Löhne schuften und einen Teil ihrer Einkünfte in ihre Herkunftsländer überweisen. Ein Beispiel: Laut aktuellen Schätzungen der International Organization for Migration (IOM) leben derzeit knapp 1,6 Millionen Malierinnen und Malier im Ausland; das sind rund zehn Prozent der Bevölkerung. Ihre Rücküberweisungen nach Mali wurden auf 431 Milliarden Francs CFA geschätzt.[9] Bemerkenswert ist dabei: Die überwiegende Mehrzahl der Arbeitsemigranten aus Mali hielt sich in afrikanischen Nachbarstaaten auf, rund ein Drittel von ihnen etwa in Côte d’Ivoire. Nur ein vergleichsweise kleiner, nicht präzise bezifferbarer Anteil hatte den Weg in die EU, meist nach Frankreich, geschafft – und bildet dort ein vor allem für ungelernte Tätigkeiten zu niedrigsten Löhnen bereitstehendes Prekariat.

Vor dem Hintergrund der Verheerungen in Nah- und Mittelost hat die Bundesrepublik 2014 begonnen, systematisch mit einer dritten Form der Migration neben der einfachen Flucht und der Auswanderung zur Erwerbsarbeit zu experimentieren. Im Herbst 2014 startete das Auswärtige Amt unter dem Titel „Leadership for Syria“ ein aufwendiges Stipendienprogramm, mit dem über 200 Syrerinnen und Syrer zum Studium nach Deutschland geholt wurden. Die Bewerberinnen und Bewerber mussten unterschreiben, dass sie „mit ihrem akademischen Wissen und ihren akademischen Fähigkeiten dazu beitragen“ wollten, „nach dem Ende des Konflikts [in Syrien, J.K.] ihr Land wiederaufzubauen“.[10] Zu diesem Zweck wurden die Stipendiatinnen und Stipendiaten neben ihrem Studium systematisch in bestimmten Governance-Fähigkeiten geschult. Das Programm zielt darauf ab, die künftigen syrischen Eliten möglichst eng an Deutschland zu binden und der Bundesrepublik auf diese Weise ökonomischen wie politischen Einfluss zu sichern. Idealerweise handelt es sich dabei um zeitlich begrenzte Migration, die aus politischen Motiven gefördert wird. Allerdings sprechen Berichte dafür, dass das Programm dazu beigetragen hat, Deutschland in Syrien auch über die eigentliche Zielgruppe des Programms hinaus als Fluchtland populär zu machen.[11]

Nato-Osterweiterung und Ukraine-Krise

Die alte Ordnung sei in manchen Weltgegenden umstritten, franse aus, hatte Thomas Bagger im „Washington Quarterly“ geschrieben. Das trifft nicht zuletzt auf Teile Osteuropas zu. Seit 1990 hatten die EU und die Vereinigten Staaten in Osteuropa lange Zeit freie Hand. Die EU nach Osten erweitern? Kein Problem. Die NATO bis an die russische Grenze expandieren lassen? Wieso nicht? „Wenn die NATO diese rote Linie überschreitet“, hatte Russlands Vize-Außenminister Jewgeni Gussarow Anfang 1999 auf der Münchner Sicherheitskonferenz zum geplanten NATO-Beitritt der baltischen Staaten erklärt, „dann verändert sich unser Verhältnis zur NATO grundsätzlich, dann ist das Potential für eine Zusammenarbeit nicht mehr vorhanden.“[12] Gussarow sprach sich damals auch ausdrücklich gegen einen Militäreinsatz im Kosovo aus. Wenige Wochen später bombardierte die NATO Jugoslawien, ein paar Jahre danach nahm sie die baltischen Staaten in ihr Bündnis auf – beides, ohne ernste Konsequenzen von russischer Seite fürchten zu müssen, denn Russland lag machtpolitisch am Boden. Und so ging’s weiter. Nach dem Überfall auf den Irak planten US-Strategen, als Basis für ihre militärischen, politischen und wirtschaftlichen Operationen im Mittleren Osten die Schwarzmeer-Region als „strategische[s] Hinterland[...] des Westens“ zu nutzen. „Die Nahtstelle zwischen der transatlantischen Gemeinschaft und dem ‚Weiteren Nahen Osten’“ verlaufe „entlang dem Schwarzen Meer, dem neuen ‚Fulda Gap’“, schrieb Ronald D. Asmus, stellvertretender Abteilungsleiter für Europa im Außenministerium der zweiten Clinton-Administration und auch danach im Washingtoner Establishment recht einflussreich, im Juni 2004: „Die Generationenaufgabe, Stabilität in den ‘Weiteren Nahen Osten’ zu bringen, würde durch eine stabile und erfolgreich verankerte Schwarzmeer-Region wesentlich erleichtert“.[13] Es war die Zeit der georgischen „Rosen“- und der ukrainischen „Orangenen Revolution“.

Mit ihrem nächsten Schritt in Richtung Osten begannen die Mächte des Westens, in diesem Fall vor allem diejenigen der EU, in ähnlicher Weise ihre Kräfte zu überdehnen, wie sie es ab 2003 in Mittelost getan hatten: Es gelang ihnen nicht mehr, ihr Expansionsziel so erfolgreich zu realisieren wie etwa die Eingliederung zahlreicher Länder Ost- und Südosteuropas in die NATO und in die EU. Bei ihrem nächsten Schritt ging es vorrangig um die Ukraine, dann aber auch um die zwei übrigen zwischen Russland und den westlichen Bündnissen verbliebenen Länder (Belarus, Moldawien) sowie die drei Staaten des südlichen Kaukasus (Georgien, Armenien, Aserbaidschan). Treibende Kraft war die Bundesrepublik bzw. die deutsche Industrie. Von 1990 an war sie zunächst daran gegangen, Ost- und Südosteuropa ökonomisch zu durchdringen – mit Erfolg: Der deutsche Außenhandel mit der Region überstieg den EU-Durchschnitt schon 1996 erheblich; im Jahr 2000 war Deutschland mit einem Anteil von 18 Prozent auch größter Direktinvestor in Osteuropa. Die EU-Osterweiterung zementierte optimale Rahmenbedingungen für ihre weitere Tätigkeit in den neuen Mitgliedstaaten. Als sie abgeschlossen war, da gerieten unmittelbar die noch weiter östlich liegenden Staaten in den Blick. Exemplarisch sind Äußerungen von Klaus Probst, dem Vorstandschef des Automobilzulieferers Leoni, aus dem Frühjahr 2005. Für eine Arbeitsstunde in Deutschland müsse er 28 Euro zahlen, im neuen EU-Mitgliedstaat Ungarn dagegen nur fünf Euro, stellte er fest; konkurrenzlos sei jedoch die Ukraine: Dort schufteten die Menschen für einen Bruttostundenlohn von 70 Cent.[14]

Die Expansion vor allem deutscher Unternehmen in Richtung Osten über die osterweiterte EU hinaus hat zur EU-Assoziierung gedrängt – Assoziierung deshalb, weil die vollständige Integration der bitter verarmten Ukraine in die EU aus Sicht der Bundesregierung viel zu teuer gekommen wäre. Der deutsche Wunsch, die Ukraine zu assoziieren und dort nach Möglichkeit den eigenen, nicht etwa den US-amerikanischen Einfluss auszubauen, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel veranlasst, beim Bukarester NATO-Gipfel im April 2008 ihr Veto gegen Vorbereitungen für Kiews NATO-Beitritt einzulegen. Dann aber kam der Punkt, an dem die Bundesregierung sich wohl überschätzte und die gewohnte Ordnung, die in Osteuropa darin bestand, dass der Westen nach Belieben schalten und walten und Moskau sich nicht wehren konnte, erste Risse bekam. Berlin und Brüssel trieben die EU-Assoziierung der Ukraine ohne jede Rücksicht auf Russland mit aller Macht voran. Die deutschen Eliten waren sogar bereit, für ihr Ziel einen Umsturz in Kiew zu fördern – unter Zuhilfenahme des faschistischen Spektrums, das die notwendige Handarbeit auf der Straße leistete. Nur: Die Kräfte reichten nicht mehr aus, die Ukraine nach dem Umsturz in Kiew zu stabilisieren; das Land zerbrach. Und: Russland, seit einigen Jahren wieder im Erstarken begriffen, nahm das westliche Vordringen nicht mehr einfach hin und setzte sich erstmals zur Wehr – unter anderem mit der Übernahme der Krim.

Die Ordnung ist also in Osteuropa umstritten, sie franst aus – und der westliche Vorstoß, der trotz beginnender Überdehnung der eigenen Kräfte mit aller Macht vorangetrieben wurde, endete – ganz wie in Nah- und Mittelost – blutig. Der Bürgerkrieg in der Ostukraine flackert trotz des Waffenstillstands immer wieder auf; auch die Restukraine ist, ökonomisch vor dem Kollaps stehend und vom Nationalismus zerfurcht, instabiler denn je. Kein Wunder, dass auch hier die Menschen in Scharen fliehen. Die Kriegsflüchtlinge, die die Ostukraine verlassen haben, werden in der westlichen Öffentlichkeit gern übersehen. Offizielle Angaben beliefen sich im Spätsommer 2015 auf annähernd 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge innerhalb der Ukraine. Aus Russland wurden zum damaligen Zeitpunkt mehr als eine Million ukrainische Flüchtlinge gemeldet. Über die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge in Polen und anderen EU-Staaten gibt es keine verlässlichen Angaben.

Südosteuropa und Europäische Union

Manches spricht dafür, dass die EU unter Berliner Führung ihre Kräfte nicht nur bei der Expansion in Richtung Osten überdehnt hat, sondern dass sie dies langsam, aber sicher auch in Südosteuropa und sogar in ihrem Innern tut. In Südosteuropa: Dort misslingt die Anbindung bzw. die Stabilisierung mehrerer Länder. Beispiel Serbien: Das Land, das offiziell weiterhin in die EU strebt, hat am 24. Mai 2013 eine „Strategische Partnerschaft“ und am 13. November 2013 ein zunächst auf 15 Jahre angelegtes Militärabkommen mit Russland unterzeichnet. Belgrad schafft sich Alternativen zur Integration in die EU. Beispiel Kosovo: Die völkerrechtswidrig abgespaltene südserbische Provinz liegt fast 17 Jahre nach ihrer Besetzung durch die NATO und nach der Übernahme der politischen Kontrolle durch EU-Personal ökonomisch am Boden. Es gelingt – oder lohnt sich – nicht, das Gebiet ökonomisch zu durchdringen und der Bevölkerung doch wenigstens eine Niedrigstlohnperspektive zu schaffen. Die Lage ist so aussichtslos, dass die Menschen 2015 in Scharen in die EU flohen. Dort freilich sind sie unerwünscht und werden abgeschoben. Wie soziale Eruptionen im Kosovo auf Dauer anders als mit Gewalt verhindert werden sollen, ist nicht klar.

Und dann wäre da noch die Eurokrise, die die EU im Innern an den Rand des Zerreißens bringt. In den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft herrscht große Skepsis, dass sie beigelegt ist. Im November 2015 veröffentlichte Deloitte, eine der vier weltweit bedeutendsten Prüfungs- und Beratungsgesellschaften, einen „CEO Survey“, in dem sie die CEOs von 151 deutschen Großunternehmen befragte. Bei dem gegenwärtig „zweiten großen weltwirtschaftlichen Krisenherd“ neben China, „nämlich Griechenland, sind die CEOs sehr skeptisch, dass die im Sommer erzielte Einigung nachhaltig zur Stabilität der Eurozone beitragen kann“, heißt es in der Studie: „Keiner der befragten CEOs ist der Meinung, dass sich die Aussichten auf eine stabile Währungsunion deutlich verbessert haben“.[15]

Die Migration, zu der die Eurokrise geführt hat, wird vor dem Hintergrund der Massenflucht über das Mittelmeer in die EU gerne übersehen – und doch ist sie stark, charakteristisch und folgenreich. Griechenland etwa, das in den 1960er und den frühen 1970er Jahren annähernd 400.000 Menschen zur Knochenarbeit am Fließband in die Bundesrepublik entließ, wo sie den deutschen Aufschwung mitschufen, verzeichnet nach langen Jahren eines positiven Migrationssaldos wieder eine Netto-Abwanderung. Allein von 2010 bis 2014 verließen im Endergebnis fast 230.000 Menschen das Land, weil sie dort keine Perspektive mehr für sich sahen. Die Besonderheit: Es emigrieren nicht mehr gering ausgebildete Armutsmilieus in die Werkshallen deutscher Industriekonzerne, es verlassen allem Anschein nach – repräsentative Untersuchungen liegen noch nicht vor – vor allem junge, gut ausgebildete Griechinnen und Griechen, häufig mit Hochschulabschluss, das Land. Dem Arbeitskräftebedarf in wohlhabenderen Ländern entsprächen ihre Qualifikationen besser als diejenigen von Menschen mit niedrigerem Bildungsstand, heißt es in einer Untersuchung des Washingtoner Think-Tanks „Migration Policy Institute“.[16] Aus der Studie geht auch hervor, welches Land den größten Nutzen aus der Abwanderung hochqualifizierter Griechinnen und Griechen zieht: Es ist Deutschland. Allein im Jahr 2012 seien fast 33.000 Menschen aus Griechenland in die Bundesrepublik ausgewandert, heißt es; auf der Rangliste der Emigrations-Zielländer fänden sich Großbritannien (6.000 Personen) und die Niederlande (3.000 Personen) weit abgeschlagen auf den Plätzen zwei und drei. Einmal mehr profitiert die Bundesrepublik nicht nur vom Euro, sondern auch von der Eurokrise, die ihr die Fachkräfte, deren Mangel die deutsche Wirtschaft seit Jahren so bitter beklagt, in großen Zahlen zutreibt – kostenlos, da ihre Ausbildung etwa von Griechenland gezahlt wurde, und – sieht man von einigen Förderprogrammen des DAAD und anderer Organisationen ab – ganz von selbst.

Griechenland ist mit dieser misslichen Lage nicht allein. Den Anfang bei der Krisenemigration hatte Irland gemacht: Es verzeichnete schon von 2009 bis 2013 eine Netto-Auswanderung von mehr als 138.000 Menschen; das waren in dem kleinen Land etwa drei Prozent der Bevölkerung. Oder Spanien: Ihm kehrten von 2010 bis 2013 netto knapp 473.000 Menschen den Rücken. Die Auswanderung aus Portugal überstieg die Einwanderung in das Land von 2011 bis 2013 um fast 103.000 Menschen. Portugal ist zudem die erste ehemalige Kolonialmacht Europas, die eine nennenswerte Arbeitsmigration in eine ihrer einstigen afrikanischen Kolonien entwickelt. Offizielle Angaben liegen nicht vor; Schätzungen sprechen aber von rund 100.000 Portugiesen, die in Angola ihren Lebensunterhalt verdienen.

Fazit

„2014 war ein Epochenjahr“, hat Wolfgang Ischinger Ende Januar 2015 erklärt: „Es war das erste Jahr nach der Post-Cold-War-Ära“[17], in der der Westen – wenn auch im Mittleren Osten weitgehend erfolglos – hatte schalten und walten können, wie er wollte. Die alte „Ordnung“ sei brüchig geworden, fuhr Ischinger fort; es sei eine Art Machtvakuum entstanden, in dem „gerade jeder aus(testet), wie weit er gehen kann: Putin in der Ukraine, China Richtung Japan“ – die immer deutlicher zutage tretenden Konflikte in Ostasien wären ein eigenes Thema –, „der Iran im Atomstreit, die Dschihadisten mit den grauenhaften Dingen, die sie tun“. Freilich nimmt der Westen den Kontrollverlust nicht hin; er führt Krieg gegen den „Islamischen Staat“ und unterstützt Kiew im ukrainischen Bürgerkrieg, um die Risse in seinem Weltsystem, den „Ordnungszerfall“, zu kitten. Berlin kämpft zudem darum, die Eurozone und auf ihrer Basis die gesamte EU trotz aller Probleme zu einem schlagkräftigen Block zu formieren. Er hoffe fest, erklärte Ischinger im vergangenen Jahr, auf Impulse „zur Stärkung und Weiterentwicklung der globalen Ordnung“. Der Kampf des Westens um seine „Weltordnung“ spitzt sich also zu. Er könnte die Anzahl der kriegführenden Staaten und der Flüchtlinge und Migranten weltweit leicht noch weiter in die Höhe treiben.

[1] The Munich Security Report 2015. www.securityconference.de .

[2] Thomas Bagger: The German Moment in a Fragile World. The Washington Quarterly, Winter 2015.

[3] Der Zerfall der internationalen Ordnung im Fokus. www.securityconference.de 12.01.2015.

[4] „Die Welt ist gefährdet. Und niemand kümmert sich“. www.welt.de 18.01.2015.

[5] „Die internationale Ordnung zerfällt gerade“. www.tagesspiegel.de 30.01.2015.

[6] Hillary Clinton: America’s Pacific Century. foreignpolicy.com 11.10.2011.

[7] Department of Defense: Information report, not finally evaluated intelligence. 14-L-0552/DIA/287-293. Einsehbar auf www.judicialwatch.org.

[8] Wer aus Lateinamerika flieht, strebt meist in die Vereinigten Staaten oder muss das Flugzeug – aus sprachlichen Gründen häufig nach Spanien – nehmen.

[9] Migrations: Près de 1,6 million de Maliens à l’extérieur, selon l’OIM. www.maliweb.net 12.11.2015.

[10] DAAD Programmausschreibungen, Oktober 2014. Zitiert nach: Leadership for Syria. www.german-foreign-policy.com 18.12.2015.

[11] Vgl. etwa den Bericht der Journalistin Karin Leukefeld aus Syrien, zitiert in: Syrien – ein verbranntes Land. www.donaukurier.de 29.07.2015.

[12] Lorenz Hemicker: Russland warnt die NATO. www.securityconference.de .

[13] Ronald D. Asmus, Bruce P. Jackson: Eine Strategie für den Schwarzmeer-Raum. In: Internationale Politik, Juni 2004.

[14] Josef Stelzer: 70 Cent - wer bietet weniger? www.zeit.de 28.04.2005.

[15] Deloitte CFO Survey Herbst 2015. Frankfurt am Main, November 2015.

[16] Jennifer Cavounidis: The Changing Face of Emigration. Harnessing the Potential of the New Greek Diaspora. Migration Policy Institute. Washington. December 2015.

[17] „Die internationale Ordnung zerfällt gerade“. www.tagesspiegel.de 30.01.2015.

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