Vom politischen Neutrum zum Rebellen?

Bewusstseinswandel bei Studierenden der Ingenieurwissenschaften – Erfahrungen aus dem Seminar „Soziologie des Ingenieurberufs“ (SozIng) an der TU Berlin

von Wolfgang Neef
Dezember 2011

Seit Mitte der 1970er Jahre führe ich gemeinsam mit der IG Metall ein 4-stündiges Seminar für Studierende der Ingenieurwissenschaften durch (Blockseminar Freitags/Samstags ganztägig, 4 Blöcke pro Semester), in dem wir die Berufsgeschichte, die berufliche Situation, gewerkschaftliche Interessenvertretung, die gesellschaftliche Rolle und Verantwortung der Ingenieurinnen und Ingenieure und das Ingenieurstudium zum Thema machen, auch durch Vorträge von und Diskussionen mit externen ReferentInnen aus der Praxis. Gespiegelt wird dies an den Erfahrungen der Studierenden in ihrem Studium und an ihren Erfahrungen aus fachbezogener Erwerbsarbeit während des Studiums.

Zu Beginn wurde das Seminar hauptsächlich von Studierenden besucht, die das Thema aus politischem Interesse bzw. aufgrund einer politischen Vorgeschichte z.B. als Jugendvertreter einer Gewerkschaft diskutieren wollten, großenteils mit der praktischen Absicht, an der TU und dann später im Beruf (gewerkschafts-)politisch aktiv zu werden. In dem Maße, wie es (ab Mitte der 1980er Jahre) auch als Wahl- oder Wahlpflichtfach (mit Prüfung) von der TU Berlin anerkannt wurde, besuchten mehr und mehr auch solche Studierende das Seminar, die weniger politisch vorgeprägt waren. Das gilt insbesondere für diejenigen Studiengänge in den Ingenieurwissenschaften, die als „harte“ Fächer gelten: Maschinenbau, Fahrzeug-, Werkstoff- oder Elektrotechnik. Seit dieser Zeit ist die Nachfrage nach dem Seminar sehr groß – in manchen Semestern melden sich 50 oder mehr InteressentInnen. Die Teilnehmerzahl pro Semester ist auf max. 35 Studierende begrenzt[1][1] – jedes Jahr habe ich also 60 bis 70 AbsolventInnen.

Dennoch sind die Erfahrungen mit meinen TeilnehmerInnen sicherlich nicht repräsentativ für die „Durchschnitts-Studierenden“: Viele kommen aufgrund von persönlichen Empfehlungen von Absolventen und Absolventinnen des Seminars. Begründung ist meistens: Sie möchten gerne eine andere, kritischere Sicht ihres Berufs, möchten „über den Tellerrand“ des rein fachlichen Studiums hinaus blicken. Auch die Kooperation mit der IG Metall, in deren Räumen das Seminar seit ca. 20 Jahren stattfindet, dürfte – sozialwissenschaftlich gesprochen – einen gewissen „bias“ verursachen.

Dennoch ist die Entwicklung in den letzten 20 Jahren interessant und sicherlich – mit Vorsicht – auch aussagekräftig für viele Studierende der Ingenieurwissenschaften. Erfahrungen mit berufstätigen IngenieurInnen, gestützt durch Studien z.B. in der Chemischen Industrie der Schweiz[2][2], deuten zudem darauf hin, dass sie auch für die Berufsgruppe relevant sein dürfte.

Seit 1990 ist der Neoliberalismus[3][3] scheinbar unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Die ersten deutlichen Zeichen waren Einstellungsstopps für Ingenieurinnen und Ingenieure in der ersten Hälfte der 1990er Jahre und damit Arbeitslosenzahlen der Berufsgruppe, die bis ins Jahr 2006 rapide auf fast 10 Prozent anstiegen. Die Folge war ein Absinken der Studienanfänger-Zahlen in den Ingenieurwissenschaften um etwa 1/3, denn in diesen Studienfächern ist die Orientierung am späteren Berufserfolg stärker als in vielen anderen Studiengängen, die Reaktion auf Entwicklungen in den Betrieben und auf dem Arbeitsmarkt entsprechend sensibel. Hinzu kam eine wachsende Kritik der „Beschäftiger“ an der Qualifikation der Absolventen in diesen Fächern[4][4]: Zu sehr rein „technisch-fachlich“, zu wenig Kontextwissen, zu wenig soziale Kompetenzen, veraltete Lehr- und Lernmethoden. Im Seminar spiegelte sich dies in verstärktem Interesse aus den „harten“ Studiengängen wieder, gefördert durch die Aufforderung der Fachbereiche, „nicht-technische“ Fächer zu belegen, darunter auch „Soziologie des Ingenieurberufs“. Damit änderte sich auch die Zusammensetzung im Seminar: Waren früher Elektrotechniker und Maschinenbauer eher die Ausnahme neben vielen politisch interessierten Umwelt-, Energie- und Verfahrenstechnikern, so machten sie nun über 50 Prozent der TeilnehmerInnen aus.

Diese Zusammensetzung machte die Diskussionen im Seminar lebendiger, aber auch konfrontativer. Die Studierenden hatten Referate auszuarbeiten zu von mir vorgeschlagenen Themen wie „Fortschrittsmythos und Paradigmenwechsel“, „Visionen vom Ingenieur-Arbeitsplatz der Zukunft“, „Globalisierung und ihre Folgen für Arbeitnehmer“ oder „Visionen einer anderen Universität“. Schon die Herangehensweise unterschied sich zwischen Maschinenbauern und Elektrotechnikern auf der einen, Umwelt-, Energie- und Verfahrenstechnikern auf der anderen Seite. Fragten erstere zunächst einmal: „Was wird in Zukunft gefragt sein, worauf muss ich mich einstellen“, entwickelten die anderen ihre ganz persönlichen Vorstellungen und gestalteten gedanklich und konzeptionell eine für sie wünschbare berufliche Zukunft. Elektrotechniker suchten Vorbilder beim „Raumschiff Enterprise“, Umwelttechniker in den Konzepten der Anti-Atom- und Friedensbewegung der 80er Jahre. Gewerkschaftliche Interessenvertretung im Sinn der klassischen „Schutzfunktion“ schien dabei beiden Gruppen weniger interessant: Im Seminar wurden zwar die Rationalisierungsstrategien für den Ingenieurbereich vorgestellt und diskutiert, aber kaum eine persönliche Betroffenheit in der eigenen künftigen Berufssituation in Betracht gezogen. Auch die in der IG Metall organisierten Kollegen und Betriebsräte, die im Seminar regelmäßig über die Berufssituation informierten, diskutierten mehr über die „Gestaltungsfunktion“ der Gewerkschaften, über Humanisierung der Arbeit und ökologischen Umbau als Ingenieursaufgabe.[5][5]

Die Kritik an den herrschenden Verhältnissen, gewerkschaftliches Engagement in einer Zeit nach der neoliberalen „Wende“, in der Gewerkschaften scheinbar überholte, versteinerte Institutionen waren, Kritik an der Technik und ihren sozialen und ökologischen Folgen – zentrale Inhalte des Seminars – , solche Kritik wurde damals von vielen Studierenden nur schwer akzeptiert, die sich dem „mainstream“ eher verbunden fühlten als den gesellschaftlichen Strömungen, die in den 80er Jahren bereits fundamentale Fragen zur Zukunftsfähigkeit des Industriesystems gestellt hatten. Denn immerhin war diese Debatte Ende der 1980er Jahre ziemlich weit fortgeschritten: Eines der Highlights im Seminar damals war eine Debatte zwischen Otto Ullrich, einem radikalen Kritiker der Industriegesellschaft[6][6], und dem Leiter der neu gegründeten Abteilung „Forschung Gesellschaft und Technik“ von Daimler-Benz, Eckart Minx. Der stellte ausführlich dar, wie der Konzern unter dem Vorsitz von Edzard Reuter versuchte, von der Fixierung auf das Automobil wegzukommen, auch um die neuen, ökologisch und sozial getriebenen Technik- und Automobil-kritischen Debatten in der Gesellschaft aufzunehmen und in eine zukunftsfähige Konzern-Strategie umzusetzen.[7][7]

In der ersten Hälfte der 1990er Jahre hatten die Studierenden das Interesse daran eher verloren, die Strukturen hinter den äußeren Erscheinungen zu analysieren. Viele von ihnen orteten sich in klassischer Weise als „unpolitisch“ und sahen das Seminar nur als eine Möglichkeit an, sich noch im Studium über ihre spätere Berufssituation zu informieren, „Lebenshilfe“ für den Rest ihres Studiums zu bekommen und vielleicht sogar Karriere-Tipps. Diese Haltung spiegelte sich sogar in ihrer Sprache wieder: Das Füllwort „irgendwie“ wurde stets und ständig verwendet, die „neue Unübersichtlichkeit“, die mit dem Verschwinden marxistischer Ansätze nach 1990 die Verhältnisse zu charakterisieren schien, machte tiefer gehende Analysen scheinbar überflüssig. Die meisten hielten die Technik für „neutral“ und identifizierten sich mit diesem Attribut in der Tradition der Ingenieure des 20. Jahrhunderts, die ihre Berufsgruppe mit dem Satz beschrieben: „Die Ingenieure sind die Kamele, auf denen die Kaufleute und Politiker reiten“[8][8]. Erst im Verlauf des Seminars lernten sie andere Auffassungen zur gesellschaftlichen Rolle der Ingenieure kennen. Allerdings war schon damals in der abschließenden Feed-back-Runde und in der Rücksprache, die als „Prüfung“ für die Anerkennung des Fachs erforderlich war und ist, deutlich erkennbar, dass sich diese Haltung durch die Diskussionen und Lernprozesse im Seminar erheblich geändert hatte. Eine meiner damaligen Studentinnen (Energie- und Verfahrenstechnik), die im Jahr 2002 mit meinem Tutor gemeinsam „Micro-Energy International“ gegründet hat[9][9], formulierte dies sechs Jahre später in einem Vortrag im Seminar über dieses Unternehmen so: „Als Ingenieurin gab es für mich ein Leben vor SozIng und eines danach“.

Im Laufe der 1990er Jahre wurde den Studierenden angesichts der sich rapide verschlechternden Lage auf dem Arbeitsmarkt immer mehr bewusst, dass auch die bisher von Rationalisierung und sozialem Abstieg weitgehend verschonte Berufsgruppe der Ingenieure und damit auch sie als AbsolventInnen der Ingenieurwissenschaften die Folgen der „Globalisierung“ zu spüren bekommen würden. Immerhin erlebten z.B. die Elektrotechniker, dass der Siemens-Konzern, der früher ganze Jahrgänge übernommen hatte, sie plötzlich im Regen stehen ließ und Einstellungsstopps verhängte. Das Beispiel des Siemens-Standorts Hofmannstraße, wo im Jahr 2002 2.300 Beschäftigte, fast alles Ingenieure, entlassen werden sollten[10][10], gab vielen zu denken. So begann langsam das Interesse an Fragen gewerkschaftlicher Organisierung zu wachsen, und zwar gerade bei den eher konservativ geprägten klassischen Studiengängen.

Im Seminar wurden deshalb die Themen, die mit der aktuellen Berufssituation zu tun hatten, zunehmend lebhaft diskutiert. War früher meine kritische Analyse der Berufs- und Arbeitssituation noch Gegenstand starker Kontroversen, so ging es jetzt zunehmend um die Frage, wie man mit den Problemen und Widersprüchen im Beruf umgehen sollte. Mehr und mehr Studierende brachten eigene Erfahrungen aus fachnaher Erwerbsarbeit neben dem Studium ein. Die Diskrepanz zwischen dem Abbau klassischer Hierarchien, scheinbar freier Arbeitssituation, größerem Spielraum, größerer Verantwortung für das Gelingen von Projekten – Charakteristikum des Strukturwandels in den Unternehmen der Metallindustrie seit den späten 1980er Jahren – und den sich verschärfenden Randbedingungen, die durch die Dominanz betriebswirtschaftlicher Kostendrückerei, Personalausdünnung etc. zu immer mehr Stress und Überstunden für Ingenieurinnen und Ingenieure führten[11][11], förderte dann doch das Interesse an strukturellen Fragen der Arbeitsverhältnisse. Damit waren die klassischen Themen gewerkschaftlicher Interessenvertretung für die Studierenden plötzlich interessant: Sie sahen sich selbst, gefördert durch die Vorträge, Diskussionen und eigene Referate über das Thema, mehr und mehr als Arbeitnehmer und „Betroffene“ von Rationalisierungsmaßnahmen.

Eines der Haupt-Themen von SozIng ist seit Mitte der 1980er Jahre die insbesondere von Otto Ullrich sehr pointiert eingebrachte Problematik der sozialen und ökologischen Folgen der Entwicklung der kapitalistischen Industriegesellschaft seit der industriellen Revolution, deren Haupt-Protagonist die Berufsgruppe der Ingenieure ist.[12][12] Die Rolle der Technik und der Ingenieure, die Paradigmen der Technikentwicklung und ihre Prägung durch den Kapitalismus wurde von allen Generationen der Studierenden im Seminar mit großem Interesse und Engagement diskutiert und bearbeitet. Die schonungslose Analyse, die Otto Ullrich im ersten Block präsentiert, war für die meisten Studierenden zunächst ein Schock und führte zu großen Kontroversen. Die Vorstellung, dass die eigene, so gut gemeinte Arbeit am „Fortschritt“ durch Technik in ihrer kapitalistisch geprägten Form inzwischen zur Zerstörung der Lebensgrundlagen für die Menschen auf dem Planeten beiträgt, war für sie schwer erträglich. Bis zur Jahrhundertwende 2000 machten wir mit ihnen in diesem Zusammenhang den „Chinesentest“ als Gedanken-Experiment: Was passiert, wenn alle Chinesen bzw. die übrigen 80 Prozent der Bevölkerung der Erde die industrielle Entwicklung und Lebensweise der 20 Prozent Europäer und Nordamerikaner nachvollziehen?[13][13] Seit der Studie „Grenzen des Wachstums“ (1972) und durch die technik- und gesellschaftskritischen Debatten der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ist die Problematik in die gesellschaftlichen Diskurse eingegangen, wenn auch immer wieder – und nach 1990 für etwa 15 Jahre vollständig – verdrängt worden. Durch die verfügbaren Studien konnten wir dies an – wenigstens für Naturwissenschaftler und Ingenieure – unbezweifelbaren Daten und Fakten festmachen.[14][14] So lernten die Studierenden, dass das keine ideologischen Konstruktionen von Öko-Spinnern sind, sondern das Ergebnis der Anwendung ihrer eigenen professionellen Grundsätze und Arbeitsweise auf die ganzheitliche Betrachtung der materiellen Basis der Menschheitsentwicklung.

Fast ausnahmslos haben mir die Studierenden seitdem immer wieder berichtet, dass sie diese Überlegungen in ihrem gesamten Studium zum ersten Mal gehört und diskutiert haben – und dass sie dadurch zu einer neuen Form des Nachdenkens über ihren Beruf gefunden hätten.

Seit etwa fünf Jahren hat sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt zwar verbessert – seit 2006 sind nur noch rd. 3 Prozent der Ingenieure in Deutschland arbeitslos, Ingenieurinnen zwar immer noch doppelt so viel wie Ingenieure. Die Arbeitssituation und ihre Randbedingungen jedoch sind unverändert schwierig. Insbesondere bei den großen Unternehmen dominieren die „low-road-Strategien“ und die Betriebswirtschaft: Sie betreiben „Kostensenkung und Flexibilisierung durch Personalausdünnung (‚Downsizing’), durch Auslagerung (‚Outsourcing’) oder durch Restrukturierung von Prozessen (‚Re-Engineering’), ohne die Operationsbedingungen wesentlich zu verbessern“[15][15]. Die Zunahme von Stress und „burn-out“-Syndromen, die schon vor 10 Jahren in den „gehobenen“ Angestellten-Berufen und bei Ingenieuren spürbar war[16][16], ist derzeit sogar eines der Haupt-Themen in den Medien.

Die Studierenden kennen diese Probleme bestens, oft aus eigener Erfahrung in den Jobs, die die Industrie Werkstudenten anbietet. Damit hat sich die Diskussion im Seminar nochmals verlagert: War vor 10 Jahren noch Aufklärung angesagt, um auch aus gewerkschaftlicher Sicht deutlich zu machen, dass der „Marschallstab im Tornister“ schon lange ausgedient hat und Ingenieurinnen und Ingenieure dem kalten Wind der Globalisierung ebenso ausgesetzt sind wie alle anderen Lohn- und Gehaltsempfänger, so geht es nun mehr darum, Strategien zur Veränderung dieser Berufssituation zu entwickeln. Ohne den Begriff allzu sehr zu strapazieren: Dass in den Betrieben bis hinunter zu den oft „globalisierten“ Mittelständlern, die von den Großkonzernen ebenso abhängig sind wie vom Finanzkapital mit seinen Rendite-Diktaten, Klassenkampf herrscht, wissen die Studierenden bereits (meist ohne das so zu formulieren). In Referaten und Rollenspielen wird deshalb dieses Thema fast schon selbstverständlich aus einer gewerkschaftlichen Sicht behandelt; Überzeugungsarbeit ist allerdings nötig, weil die Gewerkschaften für Ingenieure immer noch zu wenig attraktiv erscheinen, obgleich die IG Metall seit drei Jahren durchaus erfolgreiche „Engineering“-Arbeit und Interessenvertretung anbietet. Wie sehr die Studierenden dieses Thema bewegt, zeigt auch die erfreuliche Tatsache, dass von den rd. 30 Studierenden jedes Semester zwischen drei und fünf Personen als Konsequenz aus dem Seminar in die IG Metall eintreten.

Aber auch die Thematik ökologischer und sozialer Technikentwicklung, Nachhaltigkeit und – in den letzten beiden Jahren – Alternativen zur kapitalistischen Verschleißwirtschaft „boomt“ im Seminar. Studierende bringen über Referate, die in den zwei Wochen zwischen zwei Blöcken in Gruppen von vier bis fünf Mitgliedern erarbeitet werden, eigene Themen ein wie z.B. die verheerenden Auswirkungen der Erschließung von Bauxit-Vorkommen in Vietnam, das bedingungslose Grundeinkommen, Formen des Widerstands gegen politische und ökonomische Diktate oder einen neuen Arbeitsbegriff. In den letzten beiden Jahren arbeiteten mehrere Gruppen zu sozial-ökologischen Unternehmen und Ökonomien: Sie referierten über historische Beispiele nicht-kapitalistischer und nicht-planwirtschaftlicher Unternehmensverfassung wie die von den Beschäftigten demokratisierten Betriebe in den mehrheitlich anarchistischen Regionen der spanischen Republik und aktuelle sozial-ökologische Unternehmensbeispiele wie Mondragon in Spanien oder Sekem in Ägypten[17][17]. Hier wird auch relativ gründlich recherchiert, nachgedacht, diskutiert und dann zum Teil einfallsreich präsentiert. In den letzten Jahren ist übrigens das Füllwort beim Referieren und Diskutieren nicht mehr „ungefähr“, sondern „genau“.

Interessant ist auch, dass die kritische Analyse „unserer“ Lebensweise und ihrer Folgen in den Industrienationen bei den Studierenden zunehmend selbstkritische Reflexionen erzeugt: Diskussionen über die ständige Erreichbarkeit durch Email und Handy, über das schlechte Gewissen, wenn man länger als 1½ Stunden seine Emails nicht gecheckt hat, über den Auto- und Mobilitätswahn etc. nehmen stark zu, und die Zahl der Studierenden, die z.B. bewusst auf ein Auto verzichten und mit „CO2-Rechnern“ ihren persönlichen Energieverbrauch prüfen[18][18], steigt spürbar an.

Doch nicht nur im persönlichen Leben beginnt das Nachdenken und Umsteuern: Neue Formen politischer Aktivität, die sich weder an klassischen Mustern der Studentenbewegung orientieren noch an den herrschenden Politik-Formen, werden nicht nur in Referaten entwickelt, sondern in die Praxis umgesetzt. Vor drei Jahren wurde aus dem Seminar heraus die studentische Gruppe „Blue Engineering“ gegründet und zu einer erfolgreichen, von der TU Berlin finanzierten „Projektwerkstatt“ ausgebaut[19][19], die ein Modul für soziale und ökologische Ingenieursarbeit für die Bachelor- und Masterstudiengänge entwickelt hat. Die Gruppe hat sich sehr erfolgreich beim VDI, auf dem „ITA-Forum“ des BMBF, auf einer internationalen Konferenz zur Ingenieurausbildung in Delft vorgestellt und bei zwei Engineering-Konferenzen der IG Metall so erfolgreich Veranstaltungen gestaltet, dass diese auf der Internet-Seite eine der am meisten angeklickten Aktivitäten der Engineering-Konferenz 2010 wurden[20][20] und die Gruppe in der „Schnittstelle“, einer regelmäßigen Veröffentlichung des Hochschul-Informationsbüros der IG Metall, vorgestellt wurde[21][21]. Inzwischen gibt es sie auch an der TU Hamburg-Harburg, wo SozIng seit 2010 inzwischen regelmäßig jedes Jahr als stark nachgefragte zweistündige Lehrveranstaltung im Studienprogramm (Ergänzungsmodule Block II) stattfindet. Seitdem ist „Blue Engineering“ regelmäßiger Bestandteil im Seminar in Berlin wie in Harburg, ebenso wie „Ingenieure ohne Grenzen“[22][22], in der Studierende von SozIng aktiv sind.

Mein Fazit: So wie unter berufstätigen Ingenieurinnen und Ingenieuren der Gegensatz zum Management, zum „shareholder-value“ als Grundprinzip des Unternehmenserfolges, der Gegensatz zur Dominanz der betriebswirtschaftlichen Kostendrücker immer schärfer wird, so sehen auch Studierende der Ingenieurwissenschaften, bei denen noch vor 15 Jahren sehr angepasste, „unpolitische“ Haltungen dominierten und Kritiker der Industrie- und Technikentwicklung eher als Nestbeschmutzer wahrgenommen wurden, zunehmend die Widersprüche im Kapitalismus. Sie begreifen den Wachstums- und Renditewahn auch als Ursache für ihre persönlichen Probleme und ihre wachsende Zukunftsangst. Als künftige Ingenieure sehen sie vielleicht klarer als andere die ökologischen Folgen dieses Wahns: Klimawandel und Naturzerstörung in globalen Ausmaßen. „Anyone who believes exponential growth can go on forever in a finite world is either a madman or an economist”, sagt Kenneth Boulding – diesen Satz begreifen Ingenieure und Naturwissenschaftler wohl besser als Politiker und Ökonomen. Sie könnten so, obgleich oder vielleicht gerade weil aus ihrer Berufsgruppe die Protagonisten der Industriegesellschaft kommen, heute zu denen gehören, die den Wachstumswahn des Kapitalismus schneller durchschauen und dann auch praktisch – wie Ingenieure und Ingenieurinnen nun mal ticken – bekämpfen. Dann sind sie vielleicht nicht mehr die „Kamele, auf denen Kaufleute und Politiker reiten“, sondern schließen sich den Rebellen an, die jeder Epochenbruch braucht und die heute in den weltweiten Demonstrationen und Aktionen die grundlegende Veränderung des Wirtschafts-Systems fordern.

[1][23] Grund: Bei einer größeren Zahl wären keine intensiven Diskussionen mehr möglich.

[2][24] Kiefer, Tina u.a.: Befindlichkeit in der chemischen Industrie. Wirtschaftswissenschaftliches Zentrum (WWZ) der Universität Basel, WWZ-Studie Nr. 59, Basel 2001.

Heisig, U., Ludwig, Th. (2004): Regulierte Selbstorganisation. Arbeitssituationen und Arbeitsorientierungen von Wissensarbeitern in einem High-Tech Unternehmen. IAW-Forschungsbericht Nr. 6, Universität Bremen 2004.

[3][25] Im Grunde handelt es sich um einen entfesselten Kapitalismus, dessen Bewegungsgesetze sich nach dem Wegfall der „realsozialistischen“ Konkurrenz ungehemmt austoben.

[4][26] So veranstaltete das BMBF, damals geführt von Edelgard Bulmahn, mehrere einschlägige Tagungen mit prominenter Besetzung aus den Unternehmen. Vgl. z.B. die Dokumentation: Neue Ansätze für Ausbildung und Qualifikation von Ingenieuren, Bonn 1999.

[5][27] Diese Tendenz war eines der Ergebnisse der gemeinsam mit der IG Metall durchgeführten, von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierten Studie: Organisierung von Ingenieuren – Berufliche Situation, Selbstverständnis und Interessenorientierung von Ingenieuren, Technikern und Naturwissenschaftlern (W. Neef, J. Rubelt: Abschlussbericht 1986).

[6][28] Otto Ullrichs Thesen sind seit 30 Jahren fester Bestandteil des Seminars durch persönlichen Vortrag und seine Schriften, z.B.: Weltniveau. In der Sackgasse des Industriesystems, Berlin 1980.

[7][29] Bekanntlich wurde diese Strategie nicht lange durchgehalten: Durch die neoliberale „Wende“ nach 1990 schienen solche Ansätze erledigt. Dennoch konnte Minx die Abteilung retten und war seitdem, ebenso wie inzwischen sein Nachfolger Thomas Waschke, regelmäßiger Referent im Seminar.

[8][30] Diese Satz wurde in einer großen, über den VDI organisierte Befragung im Jahr 1972 von rd. 20.000 Ingenieuren durch 2/3 der Befragten bestätigt: Eugen Kogon, „Die Stunde der Ingenieure“, Düsseldorf 1976.

[9][31] Noara Kebir und Daniel Phillipp. In ihrem Unternehmen geht es um Erneuerbare Energieversorgung für Menschen, die in „Entwicklungsländern“ keinen Zugang zu elektrischen Netzen haben: www.microenergy-international.de/

[10][32] Vgl. den Vortrag von Conrad Schuhler, ISW München: http://www.isw-muenchen.de/download/siemens-200504-cs.html

[11][33] Vgl. Horst Schmitthenner, Hans-Jügen Urban, Klaus Pickshaus (Hrsg.): Arbeiten ohne Ende, Hamburg 2001.

[12][34] Dazu – als Basis für SozIng – Wolfgang Neef: Ingenieure – Entwicklung und Funktion einer Berufsgruppe, Köln 1982, und die o.a. Schriften von Otto Ullrich.

[13][35] Man braucht dann 5 Planeten.

[14][36] Der jährlich erscheinende „Living Planet Report“ des WWF weist aus, dass der „ökologische Fußabdruck“ unserer Produktions- und Lebensweise die Bio- und Ressourcenkapazität der Erde (erstmals seit 1985, inzwischen um fast 50 Prozent) übersteigt.

[15][37] Peter Brödner und Erich Latniak: Will They Ever Take the „High Road”? Recent Findings on Organisational Changes in German Industry. In: Smeds, R. (Ed.): Continuous Innovation in Business Processes and Networks, Proceedings of the 4th Int. CINet Conference, Espoo: Helsinki University of Technology 2002, 119-130.

[16][38] Vgl. Schmitthenner, Urban, Pickshaus (Hrsg.): Arbeiten ohne Ende, a.a.O..

[17][39] Die heute weltweit größte Genossenschaft Mondragon wurde im spanischen Bürgerkrieg im Baskenland gegründet, hat knapp 100.000 MitarbeiterInnen und ist global, branchenübergreifend von Maschinenbau bis zum Bankwesen, tätig. Das SEKEM-Projekt, 1977 gegründet, arbeitet mit etwa 3000 Beschäftigten im Bereich biologischer Landwirtschaft/fairer Handel, betreibt eigene Schulen und eine Universität. Beide Unternehmen praktizieren konsequente Wirtschaftsdemokratie. Mondragon ist eine direkte Nachfolge der durch Anarchisten damals demokratisierten Betriebe besonders in Katalonien (s. dazu Pierre Broué und Émile Témime: Revolution und Krieg in Spanien, Frankfurt/M 1968, S. 182 ff).

[18][40] Beispiel „Energieverbrauch“: Durch unsere heutige technisierte Lebensweise benötigt jeder durchschnittliche Europäer etwa das Vierfache an Energie wie in den 1960er Jahren – und da haben wir gut gelebt.

[19][41] www.blue-engineering.org/

[20][42] http://www.engineering-igmetall.de

[21][43] http://www.hochschulinformationsbuero.de/News-Archiv-Detail.334+M55f1ce9edd8.0.html

[22][44] www.ingenieure-ohne-grenzen.org/

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