Warum es an der Zeit ist, den Begriff der Alternativmedien neu zu definieren

von Sandoval, Marisol
September 2011

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„Sie [die Presse] ist ihrem Berufe nach der öffentliche Wächter, der unermüdliche Denunziant der Machthaber, das allgegenwärtige Auge, der allgegenwärtige Mund des eifersüchtig seine Freiheit bewachenden Volksgeistes.“ (Marx 1849/1968: 231)

Im beginnenden 21. Jahrhundert wird das Internet nicht selten als eine Technologie gefeiert, die UserInnen von ihrem passiven RezipientInnendasein befreit und es ihnen ermöglicht, aktiv Medieninhalte zu gestalten. Dank des Webs, so die VertreterInnen der Partizipationsthese, seien KonsumentInnen vom Rand ins Zentrum der Medienlandschaft gerückt (vgl. Jenkins 2006: 246), sie würden die Kontrolle über die mediale Berichterstattung zurückgewinnen (vgl. Gillmor 2006: xviii; Bowman/Willis 2003). Partizipative Medienproduktion werde zum Normalzustand: „Participation is understood as part of the normal ways that media operate.“ (Jenkins 2006: 24).

Angesichts der immer stärker werdenden Einbindung von RezipientInnen in die Medienproduktion und dem Entstehen von ProsumentInnen (vgl. Toffler 1980; Fuchs 2010) stellt sich die Frage, ob der für viele Alternativmedientheorien so grundlegende Ruf nach mehr Partizipation tatsächlich noch die geeignete Forderung ist, um der Macht kommerzieller Medien und der Einseitigkeit der Medienberichterstattung zu begegnen. Was bedeutet es für die Theorie alternativer Medien, wenn Partizipation im Internet und anderen Medien immer mehr zum Normalzustand wird?

Dieser Beitrag behandelt die Frage, was Alternativmedien unter den heutigen Bedingungen leisten können und sollten. Es wird versucht zu zeigen, dass die Aufhebung der Trennung von ProduzentInnen und RezipientInnen nicht ausreicht, um das Mediensystem emanzipatorisch zu gestalten und gesellschaftliche Alternativen zu fördern. Es ist daher an der Zeit, den durch das Partizipationsparadigma geprägten Alternativmedienbegriff zu überdenken.

Das dominante Paradigma der Alternativmedientheorie:
Alternative Medien als partizipative Medien

Bei der näheren Betrachtung des Feldes der Alternativmedientheorie ist die Dominanz der Forderung nach mehr Partizipation im Mediensystem offensichtlich. Da die Mehrzahl der aktuellen Auseinandersetzungen mit alternativen Medien partizipative Produktionsprozesse als deren entscheidendes Definitionskriterium begreift, kann eine solche Beschreibung alternativer Medien als das derzeit dominante Paradigma der Alternativmedientheorie bezeichnet werden. Einem Verständnis von alternativen Medien als partizipativen Medien zufolge besteht ihr emanzipatorisches Potenzial darin, als Sprachrohr gesellschaftlich benachteiligter Gruppen zu fungieren. Entscheidend seien vor allem die Demokratisierung der Medienproduktion und die Verbesserung der Lebenssituation jener, die an ihrer Produktion beteiligt sind.

Schon im Jahr 1932 kritisierte Bertolt Brecht (1932/2004) die Nutzung des Radios als einseitigen Informations- anstelle eines zweiseitigen Kommunikationsapparats. Ähnlich betonte Walter Benjamin das Potenzial der Presse, als demokratisches Kommunikationsinstrument zu fungieren, sodass die „literarische Befugnis“ zum Gemeingut werde (Benjamin, 1934/2002: 236). In diesem Sinne argumentierte später auch Hans Magnus Enzensberger (1970/2004), dass die Trennung zwischen Senderinnen und Empfängern bei elektronischen Medien nicht durch technische Ursachen erklärt werden könne, sondern Ausdruck bestehender Klassenverhältnisse sei.

Viele aktuelle Ansätze innerhalb der Alternativmedientheorie greifen diese Vision der Aufhebung der Trennung von ProduzentInnen und RezipientInnen auf, und verweisen auf das emanzipatorische Potenzial der dadurch möglich werdenden Demokratisierung des Mediensystems. So erachtet zum Beispiel Nick Couldry (2003) die Aufhebung der Trennung zwischen Produzenten und Rezipientinnen, wie sie nur durch partizipative Medien geleistet werde, als Voraussetzung für das Aufbrechen konzentrierter Medienmacht (vgl. ebd.: 45). Auch für Chris Atton ist die Ermächtigung durch direkte Einbindung in die Medienproduktion, Kennzeichen des emanzipatorischen Potentials alternativer Medien (vgl. Atton 2002: 25).

Ebenso orientiert sich der Diskurs über BürgerInnenmedien weitgehend am Prinzip der Partizipation. BürgerInnenmedien stehen für die Einbindung von Betroffenen in die Produktion, die Organisation und das Management von Medien (vgl. z.B. Lewis 1976: 61; Jankowski 2003: 8; KEA 2007: 1; Peissl/Tremetzberger 2008: 3; AMARC 2007: 63).

Während für Brecht, Benjamin und Enzensberger die Relevanz partizipativer Medien vornehmlich darin bestand, gesellschaftliche Demokratisierungsprozesse zu fördern, wird in der BürgerInnenmedientheorie die individuelle Ermächtigung der an der Medienproduktion beteiligten Menschen als zentral erachtet. Für Gumucio Dagron zum Beispiel können alternative Medien nur dann progressiven sozialen Wandel fördern, wenn sie partizipativ organisiert sind und benachteiligten Individuen und Gruppen eine Stimme geben. Rodriguez (2003) verwendet den Begriff „Citizens’ media“, um zu verdeutlichen, dass die wichtigste Aufgabe alternativer Medien darin besteht, die Selbstbestimmungs- und Teilhabemöglichkeiten von Individuen zu erweitern. Häufig wird der partizipative Produktionsprozess, unabhängig vom produzierten Inhalt als Indikator für die Alternativität eines Mediums erachtet.

Dass ein solches Verständnis alternativer Medien problematisch sein kann, erkennt auch Atton und warnt daher davor, Partizipation als Wert an sich zu verstehen (vgl. Atton/Hamilton 2008: 217). Worin genau die Schwächen des Partizipationsparadimas bestehen, soll im Folgenden geklärt werden.

Drei Einwände gegen das Partizipationsparadigma

Eine „herrschaftskritische, an Emanzipation orientierte Zielsetzung“ (Oy 2001: 98) kann als wesentliches Element einer alternativen Medientheorie begriffen werden. Ein solcher Fokus auf kritischen Inhalt bei der Auseinandersetzung mit alternativen Medien erfordert eine Präzisierung des zugrundeliegenden Kritikbegriffs. Ein Herrschaft hinterfragender Kritikbegriff ist am Marxschen Kritikverständnis orientiert. Demzufolge können jene Inhalte als kritisch gelten, welche orientiert sind am Marxschen kategorischen Imperativ „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx 1844/1975: 385). Gegenstand der Kritik sind somit alle Formen von Herrschaft und Unterdrückung. Diese gilt es nicht nur theoretisch zu kritisieren, sondern auch praktisch zu verändern. Das hier beschriebene Kritikverständnis wurde von Vertretern der Frankfurter Schule weiterentwickelt (vgl. Horkheimer 1937/1992; Marcuse 1937/1968; Adorno 1969/1974; 1971). Es ist gekennzeichnet durch dialektisches Denken, welches sich ein-dimensionaler Logik widersetzt. Demzufolge versucht kritischer Inhalt soziale Phänomene als komplex und Gesellschaft als dynamisch und veränderbar zu begreifen. Kritischer Inhalt betrachtet hinter den Erscheinungen liegende gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, hinterfragt Herrschaftsverhältnisse und zeigt, dass diese veränderbar sind. Damit unterstützen kritische Medien jene Bewegungen, deren Ziel es ist, Herrschaft aufzubrechen und zur Realisierung einer vernünftigen, selbstbestimmten Gesellschaft beizutragen.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern der partizipative Produktionsprozess als alleiniges Kriterium zur Erfassung des emanzipatorischen Potenzials alternativer Medien ausreicht. Kann ein Verständnis alternativer Medien als partizipative Medien dem herrschaftskritischen, emanzipatorischen und damit gesellschaftsverändernden Anspruch alternativer Medientheorie gerecht werden? Folgende drei Einwände sollen zeigen, warum ein Verständnis alternativer Medien als nicht-kommerzielle, partizipative Medien in diesem Zusammenhang unzureichend ist.

Erstens abstrahiert ein exklusiver Fokus auf partizipative Produktionsprozesse vom Resultat des Produktionsprozesses und vernachlässigt damit die Frage, inwiefern die Inhalte alternativer Medien herrschaftskritischen Ansprüchen entsprechen. So ist es durchaus möglich, dass partizipative Produktionsweisen dazu genutzt werden, repressive politische Inhalte und Interessen zu propagieren. Ein Beispiel für ein rechtsextremes, partizipatives Medium ist die Website Altermedia. Ein Medium, das eigenen Angaben zufolge das Ziel verfolgt „jenen eine Stimme zu geben, die sonst keine Möglichkeit haben, ihre Versionen oder Ansichten über verschiedene Vorgänge äußern können [sic]“ (Altermedia 2005: online), und dadurch zum Sprachrohr der neonazistischen Szene wird. Auch die Auseinandersetzung von Viguerie und Franke (2004) mit der Nutzung alternativer Medien durch konservative Kräfte in den USA, sowie die Studien von Hillard und Keith (1999) über rechtsextreme alternative Medienprojekte zeigen, dass eine Definition alternativer Medien als partizipative Medien zu kurz greift um deren emanzipatorischen Charakter erfassen zu können.

Dies zeigt sich auch bei der Betrachtung des Internets als alternatives Medium. Im Internet ist partizipative Medienproduktion längst alltäglich und fester Bestandteil kommerzieller Mainstream-Onlinemedien geworden. Von LeserInnenkommentaren bei diversen Onlinezeitungen bis hin zu Web 2.0 Multimediaplattformen und Social Networking Seiten ist die Beteiligung aktiver NutzerInnen gefragt. Christian Fuchs hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass die Profitakkumulation auf Web 2.0 Plattformen wie Facebook, YouTube oder Myspace auf der von ProsumentInnen unbezahlt geleisteten Arbeit basiert, wodurch ein neues Ausbeutungsverhältnis im Internet entsteht (vgl. Fuchs 2009; 2010; vgl. dazu auch Sandoval 2011). Partizipation ist also auch im Internet nicht immer emanzipatorisch. Im Gegenteil, werden die demokratischen Potentiale der Partizipation im Internet von Profitinteressen untergraben, so trägt Partizipation dazu bei, Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse zu stärken. Wie Gottfried Oy (2006: 47) betont, ist „der ‚Rückkanal’ als technische Möglichkeit [...] längst eingeführt, eine tatsächliche Umwälzung der Verhältnisse in der Medienwelt lässt aber weiter auf sich warten.“

Ein zweiter wesentlicher Grund, der gegen ein Verständnis alternativer Medien als partizipative Medien spricht ist, dass alternative Projekte nicht außerhalb des Kapitalismus stehen und sich daher nicht vollständig von ökonomischen Zwängen befreien können. So sind kleine, nicht-kommerzielle, partizipative Medien von der permanenten Gefahr der Marginalisierung bedroht. Diesbezügliche Kritik an alternativen Medien, welche eine partizipative, kollektive und anti-kommerzielle Organisationspolitik pflegen, kam bereits in den 1980er Jahren von einer Forschungsgruppe namens Comedia (1984): Um Marginalität zu vermeiden, müssten alternative Medien sich der schwierigen und vielleicht unangenehmen Aufgabe stellen, eine Balance zwischen ökonomischer Notwendigkeit und politischem Ziel herzustellen (vgl. ebd.: 96). Andernfalls würde ökonomische Instabilität und geringe Marktanteile dazu führen, dass sich alternative Medien in einem „alternative ghetto“ (ebd.: 100) bewegen.

Mangelnde finanzielle Ressourcen führen häufig zu Selbstausbeutung der MedienproduzentInnen sowie eingeschränkten Produktions- und Vertriebsmöglichkeiten, wodurch die Gefahr der Marginalisierung erhöht wird (vgl. Knoche 2003). Wie Manfred Knoche betont, führt das Streben nach völliger Unabhängigkeit von Kapital, Staat und Markt letztlich häufig zu einer „existenzbedrohenden Zerreissprobe“ (ebd.: 15) in Form des Widerspruchs zwischen Marktmechanismen und Emanzipationsansprüchen.

Diese Gefahr der Marginalisierung alternativer Medienprojekte wird von den VertreterInnen eines Verständnisses alternativer Medien als partizipative Medien nicht immer als problematisch erachtet. Gumucio Dagron (2004) und Rodriguez (2003) argumentieren zum Beispiel, dass Fragen nach Auflagenzahlen und Reichweiten kein Bewertungskriterium des Erfolgs alternativer Medien darstellen sollten (vgl. Dagron 2004: 49f.). Wenn Partizipation aber nur die Fähigkeit zu sprechen, nicht aber gehört zu werden einschließt, so bedeutet dies vielmehr Schein von Partizipation als echte gesellschaftliche Teilhabe.

Einen entscheidenden Einwand gegen obige Einschätzung, wonach Partizipation und Nicht-Kommerzialität unter kapitalistischen Bedingungen kaum zu realisierende Ideale wären, liefert das Internet. Dieses ermöglicht kostengünstige partizipative Medienproduktion, das Umgehen von GatekeeperInnen und dabei das Erreichen eines potentiell globalen Publikums. Die Ressourcenfrage ist aber auch im Internet nicht obsolet geworden. Auch hier bedarf es finanzieller Ressourcen, um das Angebot aktuell zu halten und kontinuierlich Beiträge erstellen zu können, sowie für die grafische Gestaltung, Webspace und technische Wartung des Onlineangebots. Damit ein alternatives Onlinemedium in der Flut von Informationen und Webseiten sichtbar bleibt, sind gerade im Internet finanzielle Mittel nötig, um das Onlineangebot zu bewerben und sichtbar zu machen. Auch die scheinbar freie und demokratische Kommunikation im Internet unterliegt unter kapitalistischen Bedingungen strukturellen Einschränkungen, die Aufmerksamkeit ökonomisch regulieren und steuern.

Eine dritte Einschränkung des dominanten Paradigmas der Alternativmedientheorie besteht darin, dass eine Definition alternativer Medien als zwangsläufig nicht-kommerziell und partizipativ organisiert sehr exklusiv ist und damit jene Publikationen ausschließt, die emanzipatorische Ansprüche verfolgen und in ihren Inhalten herrschaftskritisch, zugleich aber professionell organisiert sind. Beispiele hierfür finden sich vor allem im englischen Sprachraum. Dazu zählen The New Internationalist, Z Magazine, Rethinking Marxism, Historical Materialism, New Left Review, Monthly Review, Le Monde Diplomatique oder Mother Jones. Das dominante Paradigma der Alternativmedientheorie lenkt den Fokus auf kleine alternative Projekte mit geringer Reichweite und vernachlässigt dabei eine Auseinandersetzung mit einem Modell alternativer Medien, das nicht primär auf Ermächtigung von MedienproduzentInnen abzielt, sondern darauf, abweichende herrschaftskritische Sichtweisen einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Dieser Problematik soll im nachfolgenden Abschnitt mit Hilfe einer dialektischen Betrachtung alternativer Medien begegnet werden.

Eine dialektische Betrachtung alternativer Medien:
Alternative Medien als kritische Medien

Auf analytischer Ebene können verschiedene Dimensionen der Auseinandersetzung mit Medien unterschieden werden. Innerhalb kritischer Medientheorie finden sich zum einen subjektorientierte Ansätze, die sich vorwiegend mit den AkteurInnen des Mediensystems, also mit dem Handeln von ProduzentInnen und RezipientInnen befassen. Zum anderen gibt es eine an objektiven Aspekten ausgerichtete Betrachtung des Mediensystems, die sich verstärkt mit Strukturen wie Medieninhalten oder den ökonomischen Formen und Mechanismen des Mediensektors beschäftigen (vgl. Sandoval 2008).

Basierend auf diesen Dimensionen – Rezeption, Produktion, Inhalt und Ökonomie – kann ein umfassendes Verständnis alternativer Medien erarbeitet werden. Diesem zufolge sollten alternative Medien einerseits kritisch rezipiert und partizipativ produziert werden und andererseits ökonomisch unabhängig und inhaltlich kritisch sein. Diese Kriterien zusammengenommen ergeben also ein Idealmodell alternativer Medien. Auf der Akteursebene schließt dieses Idealmodell partizipative Produktion kritischer Medieninhalte sowie kritische Rezeption mit ein. Auf struktureller Ebene bedeutet das Idealmodell, dass alternative Medienprodukte keine Warenform annehmen und herrschaftskritisch sind.

In Anbetracht der Bedingungen, unter denen alternative Medienprojekte existieren müssen und die häufig Ursache für einen massiven Mangel an finanziellen, personellen und zeitlichen Ressourcen sind, ist ein solches Idealmodell kaum oder nur auf Kosten von regelmäßigem Erscheinen, Qualität der Berichterstattung und öffentlicher Sichtbarkeit zu realisieren. Daher erscheint es wenig sinnvoll, alternative Medien in diametralem Gegensatz zu kommerziellen Massenmedien zu konzipieren. Um die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit alternativer Medien zu erhöhen, sollte diese strikte Dichotomie zugunsten eines dialektischen Modells alternativer Medien aufgegeben werden. Eine dialektische Perspektive ermöglicht es, politische Alternativen nicht als Rückzugsorte außerhalb des Systems, sondern diese gleichzeitig als Teil des Systems und als dessen Negation zu konzipieren, im Sinne eines Arbeitens „gegen die etablierten Institutionen“ „während man in ihnen arbeitet“ (Marcuse 1972/2004: 60).

Für alternative Medien bedeutet dies, dass sie sich sogar bestimmte Mechanismen des kommerziellen Mainstreams zunutze machen können, um ihre eigenen Anliegen zu fördern. Dies schließt auch Werbefinanzierung und professionelle Organisationsstrukturen nicht aus. Anstelle des Idealmodells erscheint es daher sinnvoll, Mindestanforderungen alternativer Medien zu definieren. Der herrschaftskritische Inhalt eignet sich als ein solches Mindestkriterium. Zum einen ermöglicht er als normatives Kriterium eine klare Unterscheidung zwischen emanzipatorischen und repressiven Medien. Zum andern ist es eine essentielle Leistung von Medien, Öffentlichkeit für bestimmte Inhalte und Themen herzustellen. In einer Situation, in der der Großteil der rezipierten Informationen vom kommerziellen Massenmedien bereitgestellt wird, deren Inhalte Filtermechanismen (vgl. Herman/Chomsky 1988/2002) durchlaufen und repressiven medienkulturellen Mustern unterliegen (vgl. Prokop 2004), ist es für systemkritische Bewegungen und deren Verbreiterung zentral, herrschaftskritische Inhalte für eine möglichst breite Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In diesem Sinne verwieß Herbert Marcuse (1972/2004: 60) in seiner Auseinandersetzung mit der Studierendenbewegung der 1960er Jahre auf die Relevanz des Aufbaus radikaler, „freier“ Medien.

Tabelle: Charakteristika alternativer Medien

Tabelle siehe unter Download-Dokumente

Die Tabelle zeigt, dass einem dialektischen Verständnis alternativer Medien zufolge der herrschaftskritische Inhalt notwendige Voraussetzung für die Alternativität eines Mediums ist. Die Alternativität besteht also voranging darin, den herrschenden Meinungen und Ideen kritische Sichtweisen entgegenzusetzen, deren Ziel nicht nur die Demokratisierung des Mediensystems, sondern vielmehr die Demokratisierung und Emanzipation der Gesellschaft ist. Die radikale Kritik des Bestehenden ist auch die Aufgabe, welche Karl Marx der Presse zuschrieb: „Die erste Pflicht der Presse ist nun, alle Grundlagen des bestehenden politischen Zustandes zu unterwühlen“ (Marx 1849/1968: 234). Einem Verständnis alternativer Medien als kritische Medien zufolge besteht deren emanzipatorisches Potenzial darin, den herrschenden, durch die Massenmedien verbreiteten Ideen kritische Ideen entgegenzustellen und dadurch die Veränderung der bestehenden materiellen Verhältnisse zu fördern. Dazu sind alternative Medien aber nur in der Lage, wenn es ihnen gelingt, ein möglichst großes Publikum für die von ihnen produzierten Inhalte herzustellen. Da nicht-kommerzielle Organisation und partizipative Produktionsprozesse diesem Vorhaben hinderlich sein können, sollten diese Aspekte nicht als unumgehbare Kriterien zur Definition alternativer Medien herangezogen werden. Dies würde das Spektrum der alternativen Medien erheblich einschränken. Im Idealfall gelingt es alternativen Medien, nicht-kommerziell organisiert zu sein, ihren Produktionsprozess demokratisch zu gestalten und gleichzeitig eine breite Öffentlichkeit für kritische Inhalte herzustellen. Alternative Medien können aber auch kommerziell organisiert sein, wenn es ihnen gelingt, dennoch kritisch, d.h. inhaltlich unabhängig von den ökonomischen Interessen ihrer Geldgeber, zu bleiben. Für alternative Medien ergibt sich also die Herausforderung, mögliche Versuche der Einflussnahme abzuwehren; zum Beispiel in dem die Auswahl von Anzeigenkunden selektiv erfolgt, das Alternativprojekt selbstverwaltet bleibt und Einnahmen nur genutzt werden, um entstandene Kosten zu decken. Gelingt dies nicht, so bedeutet dies das Scheitern des alternativen Projekts.

Das hier beschriebene Modell alternativer Medien ist kein illusorisches. Es ist für alternative Medien durchaus möglich, herrschaftskritisch im Inhalt zu sein und dennoch ein großes Publikum, das über AktvistInnenkreise hinausgeht, zu erreichen. Das zeigen vor allem Beispiele aus dem englischen Sprachraum. Rodney Benson etwa hat anhand einer inhaltsanalytischen Untersuchung von vier amerikanischen alternativen Wochenzeitungen gezeigt, dass kritischer Inhalt und kommerzielle Finanzierung einander nicht zwangsläufig ausschließen: „Critique and commercialization need not be mutually exclusive“ (Benson, 2003: 111). Weitere Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum die, zumindest in Ansätzen, das beschriebene Modell verfolgen sind die Wochenzeitungen Jungle World, der Freitag sowie die Schweizer WOZ.

Ausblick

Angesichts der derzeitigen Dominanz des Paradigmas der Partizipation innerhalb der Alternativmedientheorie erscheint es notwendig, auf dessen Begrenztheit zu verweisen und zu betonen, dass Alternativität nicht zwangsläufig auch Marginalität bedeuten muss. Vielmehr gilt es Strategien zu entwickeln, um die politische Macht alternativer Projekte zu erweitern und ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen, um so die öffentliche Sichtbarkeit abweichender, herrschaftskritischer Meinungen zu erweitern. Der Verweis auf partizipative Produktionsprozesse als Definitionskriterium alternativer Medien greift zu kurz: Einerseits weil ein solches Verständnis sehr exklusiv ist und das Spektrum alternativer Medien erheblich einschränkt sowie den Fokus beinahe ausschließlich auf kleine, in der öffentlichen Debatte marginale Alternativmedien lenkt. Andererseits weil es nicht in der Lage ist, eindeutig zwischen repressiven und kritischen Inhalten zu unterscheiden.

Darüber hinaus bleibt ein Partizipationsbegriff, der sich nur auf die Fähigkeit bezieht, zu sprechen ohne gehört zu werden, zu diskutieren, ohne zu entscheiden, letztlich sehr beschränkt. Seine Erweiterung erfordert die Kritik jener Strukturen, welche die Realisierung eines viel umfassenderen Partizipationsbegriffs verhindern, der demokratische Entscheidungsfindung und demokratisches Eigentum einschließt. Um eine solche Kritik zu leisten, bedarf es alternativer Medien in Form von kritischen Medien.

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*[6] Dieser Artikel ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags der Autorin in: Bernd Hüttner/Christiane Leidinger/Gottfried Oy (Hrsg.): Handbuch ALTERNATIVmedien 2011/2012. Printmedien, Freie Radios & Verlage in der BRD, Österreich und der Schweiz, 2011.

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  2. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftnref1