Umwälzungen im arabischen Raum

Der Aufstand in Ägypten

Nicht nur eine Frage des Übergangs

von Adam Hanieh
Juni 2011

[1][1]

Die Ereignisse der letzten Wochen sind einer jener historischen Wendepunkte, in denen die Lektionen vieler Jahrzehnte auf ein paar kurze Momente reduziert werden können und wo dem ersten Anschein nach unwichtigen Ereignissen eine immense Bedeutung zukommen kann. Der Einzug von Millionen von Ägyptern auf die politische Bühne hat jene Prozesse sichtbar gemacht, die der Politik des Nahen Ostens zugrunde liegen. Er hat die langjährige Komplizenschaft der USA und anderer Weltmächte mit den denkbar schlechtesten Regimen bloßgelegt, offenbarte die leere und heuchlerische Rhetorik des US-Präsidenten Barack Obama und anderer politischer Führer, deckte die feige Kapitulation der arabischen Despotien auf und legte die Allianzen zwischen diesen Regimen, Israel und den USA offen. Dies sind politische Lektionen, die noch lange in Erinnerung bleiben werden.

Die Aufstände haben zudem die bemerkenswerte Fragilität der nepotistischen Regime in der arabischen Welt offen gelegt. Sie basierten auf den Netzwerken von Geheimpolizei (mukhabarat) und bezahlten Schergen (baltajiya), die jede Veränderung unmöglich zu machen schienen. Der politische Pessimismus der Menschen äußerte sich u.a. in jenem beißenden Sarkasmus, der den arabischen politischen Witz kennzeichnet. Diese Form der politischen Kontrolle löste sich in dem Moment in Luft auf, in dem sich die Menschen ihrer Angst entledigten. Der arabische Begriff Intifada vermittelt dieses Gefühl des Abschüttelns von Angst. Der Anblick von Millionen von Menschen, die ihre Angst verlieren und ihre Möglichkeiten entdecken, wird noch lange eine der dauerhaftesten Erinnerungen dieses revolutionären Moments bleiben. Die historische Bedeutung dieses Prozesses sollte nicht verloren gehen – niemals zuvor hat es einen Moment mit solchem Potenzial in der arabischen Welt gegeben.

Es ist nicht Zweck dieses Artikels, die Geschichte dieser Aufstände zu erzählen oder zu versuchen, mögliche zukünftige Szenarien des revolutionären Prozesses in Ägypten zu skizzieren. Er versucht vielmehr, einige seiner weitreichenden Auswirkungen für den Nahen Osten als Ganzes nachzuzeichnen und zu zeigen, dass die aktuellen Auseinandersetzungen am besten durch die Brille des Klassenkampfes verstanden werden können. Die jüngsten Erhebungen zeigen, dass Klassenverhältnisse der Schlüssel für das Verständnis von sozialem Wandel bleiben. Es wird aber gleichzeitig deutlich, dass die Formen, in denen sich „Klassenkampf“ ausdrückt, so vielfältig sind, dass reduktionistische ökonomistische Interpretationen immer wieder fragwürdig erscheinen müssen.

Kapitalismus im Nahen Osten

Das bedeutet, dass wir „Politik“ und „Ökonomie“ – die wir gewohnt sind, als separate Sphären zu begreifen – als zusammengehörig denken müssen, als Teile des gleichen Kampfes. Zu behaupten, dass die ägyptischen Demonstranten in erster Linie mit Hosni Mubarak und so genannten „politischen Freiheiten” beschäftigt seien – wie es die vorherrschende Darstellung der USA und anderer politischer Weltführer sowie eines Großteils der kommerziellen Medienberichterstattung glauben machen will – bedeutet, das Wesen dieser Proteste zu verzerren und falsch zu interpretieren. Offenkundig haben die Proteste eine Vielzahl von sozialen Schichten mit unterschiedlichen Forderungen erfasst. Ihre übergreifende Logik ist jedoch untrennbar mit weiterreichenden Fragen in Bezug auf den Kapitalismus im Nahen Osten verknüpft. Diese Fragen beinhalten: (1) die globale ökonomische Krise und das Wesen des Neoliberalismus in Ägypten, und (2) Ägyptens Rolle bei der Aufrechterhaltung der US-Vorherrschaft in Nahost. Diese Fragen sind weder ausschließlich „politisch“ noch einzig „ökonomisch“, sie drehen sich aber in erster Linie darum, welche Klasse Ägypten beherrscht und in wessen Interessen der ägyptische Staat funktioniert. Die Herrschaft Mubaraks kann nicht von diesen Fragen getrennt werden, weshalb der Kampf gegen politische Willkür zwangsläufig mit der Dynamik von Klassenkämpfen verflochten ist. Durch ein vielschichtiges Verständnis von Klassenverhältnissen können diese Aufstände am besten verstanden werden.

Ein Ausdruck der Globalen Krise

Der Klassencharakter der Volksaufstände zeigt sich zuvörderst an ihrer Verbindung mit einer ganzen Reihe von Protesten, die in den letzten drei Jahren im Kontext der globalen Wirtschaftskrise ausbrachen. Dies stellt die Reaktion der arabischen Welt auf diese Krise dar und widerspricht der vorherrschenden Darstellung – die leider durch einige radikale Ökonomen wiederholt wird –, der zufolge die Wirtschaftskrise weitgehend auf den fortgeschrittenen kapitalistischen Kern der Welt beschränkt geblieben und die so genannten Schwellenländer den schlimmsten Auswirkungen irgendwie entgangen seien. Jahrzehnte des Neoliberalismus haben die ägyptische Wirtschaft in einer sehr ungleichen Art und Weise in den kapitalistischen Weltmarkt eingebunden; als Konsequenz sollte die Krise verheerende Auswirkungen auf die Mehrheit der Bevölkerung des Landes haben.

Die Krise ist durch eine Vielzahl an Mechanismen übertragen worden. Zunächst ist der Nahe Osten (insbesondere die nordafrikanische Region) stark abhängig von Exporten nach Europa, die im Zuge des krisenbedingten Nachfragerückgangs stark gesunken sind. Zahlen der Weltbank zeigen, dass die Warenexporte aus Ägypten in die EU, die 2008 noch um 33% gestiegen waren, im Juli 2009 schon um 15% unter dem Vorjahresstand lagen.[2][2] Ähnliches erlebten Tunesien und Marokko, wo der Gesamtwert der Exporte 2009 um 22% bzw. 31% fiel – was die Weltbank zu der Feststellung veranlasste, dass diese Länder mit der schlimmsten Rezession der letzten sechs Jahrzehnte konfrontiert seien.[3][3]

Ein zweiter Übertragungsmechanismus war der Rückgang der Überweisungen von Wanderarbeitern, von denen viele Länder des Nahen Ostens stark abhängig sind. Im Falle Ägyptens migrieren die Beschäftigten meist in die Golfstaaten und nach Libyen und Jordanien. Im Rest Nordafrikas tendiert die Arbeitsmigration in Richtung Europa. Ägypten ist der größte Empfänger von Geldüberweisungen im Nahen Osten; diese machten rund 5% des nationalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Im Zuge der Massenentlassungen, die nach wie vor die globale Krise charakterisieren – insbesondere in Sektoren wie dem Baugewerbe –, sind die Überweisungen schnell gesunken. Ägypten erlebte zwischen 2008 und 2009 eine massive Schrumpfung der Überweisungen um 18%. Für eine Region, in der ‚Rimessen’ eine Überlebensbedingung für Millionen von Menschen sind, hatte dieser Rückgang verheerende Folgen.

Diese Auswirkungen müssen neben anderen, jüngeren Krisenfolgen verortet werden – den in die Höhe schießenden Kosten für Grundnahrungsmittel und Energie. Leider reicht der Platz hier nicht aus, um die komplexen Gründe für die steigende Inflation der Rohstoffpreise zu diskutieren. Es sei jedoch angemerkt, dass dies ein weiterer Aspekt der Krise selbst ist – teilweise Folge der Geldvermehrung durch die Notenbanken, um die Krise in den Kernländern aufzufangen, insbesondere durch das US-Programm der quantitativen Lockerung (quantitative easing).[4][4] Weite Teile des Nahen Ostens haben die Folgen zu tragen. Die jährliche Inflation der Lebensmittelpreise beschleunigte sich von 17,2% im Dezember auf 18,9% im Januar 2011. Der rasche Anstieg der Nahrungsmittelpreise bedeutet schwere Lohnkürzungen für jene Teile der Bevölkerung, die gezwungen sind, den größten Teil ihrer Einnahmen für Grundbedürfnisse auszugeben.

Neoliberalismus

Jede Einordnung der Krise muss jedoch über die unmittelbaren Folgen der globalen Konjunkturabschwächung hinausgehen und innerhalb der drei Jahrzehnte neoliberaler „Reformen” verortet werden, die Ägypten erfahren hat. Die Auswirkungen des Neoliberalismus waren es, die das Land um einiges verwundbarer gegenüber Krisen gemacht haben – insbesondere durch die Vergrößerung sozialer Ungleichheiten und die Schwächung von Mechanismen sozialer Sicherung. Deshalb trafen die Auswirkungen der Krise die ungeschütztesten Schichten der ägyptischen Gesellschaft. Gleichzeitig, und dies drückt den eigentlichen Klassencharakter des neoliberalen Projekts aus, profitierte eine kleine Elite von den ökonomischen Maßnahmen.

Dieses Verständnis der Erfahrung Ägyptens mit dem Neoliberalismus läuft der Darstellung von internationalen Finanzinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank direkt entgegen. Der IWF behauptete noch im Februar 2010, dass Ägypten deshalb „widerstandsfähig gegenüber der Krise” sei, weil „nachhaltige und weitreichende Reformen seit 2004 die Finanz-, Geld- und externen Schwachstellen reduziert und das Investitionsklima verbessert haben“. Dem IWF zufolge hat die erfolgreiche Durchsetzung des Neoliberalismus durch die ägyptische Regierung „die Strapazierfähigkeit der Wirtschaft gestärkt und eine Atempause für geeignete politische Antworten geschaffen“.[5][5]

Der IWF sieht diese Widerstandsfähigkeit Ägyptens in den relativ hohen Wachstumsraten des BIP, die das Land aufrechterhalten konnte. Von 2006 bis 2008 betrug das Wachstum um die 7% jährlich und 2009, als weite Teile der Welt rückläufige Produktionsziffern verzeichneten, verbuchte Ägypten ein Plus von 4,6%. Der Blick auf das BIP und andere makroökonomische Kennziffern reicht aber nicht aus, um die „Gesundheit“ eines Landes beurteilen zu können. Dabei wird unterstellt, dass wirtschaftliches Wachstum automatisch allen Teilen der Bevölkerung zugute kommt, d.h. dass ein Trickle-Down-Effekt existiert. Der Kapitalismus ist aber ein Ausbeutungssystem; in einer ungeregelten Marktökonomie ist globales Wachstum in der Regel mit wachsender Ungleichheit verbunden. Das Beispiel Ägypten zeigt, in welchem Maße die Trickle-Down-Annahme ein Mythos ist: Der Neoliberalismus hat zwar hohe Wachstumsraten geschaffen, gleichzeitig hat er jedoch zur Verschlechterung des Lebensstandards für die Mehrheit der Bevölkerung und einer zunehmenden Konzentration des Reichtums in den Händen einer winzigen Minderheit (buchstäblich nur einer Handvoll von Familien) geführt. Regierungsstatistiken zufolge stieg die Armutsquote zwischen 2008 und 2009 von 20 auf 23,4% der Bevölkerung an. Dies ist an sich schon ein bemerkenswerter Anstieg, offiziellen Statistiken muss jedoch mit einem hohen Grad an Skepsis begegnet werden. Die offizielle Armutsgrenze arbeitet mit einem absurd niedrigen Schwellenwert – tatsächlich leben ca. 40% der Ägypter mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag. Die offizielle Arbeitslosenquote wurde bei um die 9% angesetzt, aber auch hier stellt sich die Realität völlig anders dar – mehr als die Hälfte der Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaft befinden sich im „informellen Sektor“ und werden durch die Arbeitslosenstatistiken nicht angemessen erfasst. Die informell Beschäftigten sind von jeder Form offizieller sozialer Fürsorge in Form von Bildung, Gesundheit oder sozialer Sicherheit ausgeschlossen. Es wird beispielsweise geschätzt, dass ein Drittel der ägyptischen Bevölkerung Analphabeten sind. Hinzu kommt das demografische Problem: Während das Land von Männern geführt wird, die sich in ihren 80ern befinden, machen Jugendliche mehr als 90% der Arbeitslosen aus.

Der Beginn der neoliberalen Wirtschaftspolitik in Ägypten war verbunden mit einer Reihe von Maßnahmen, die als infitah (Eröffnung) bekannt sind und die schon in den 1970er Jahren unter Präsident Anwar Sadat eingeleitet wurden. Mubarak, der nach der Ermordung Sadats an die Macht kam, setzte mit seinen Regierungen die von der infitah eingeschlagene politische Stoßrichtung fort. Es sind zwei Hauptmerkmale, die diese Politik und das 1990/91 angenommene Strukturanpassungsprogramm (SAP) des IWF kennzeichnen. Erstens veränderte eine Serie von Maßnahmen die sozialen Verhältnisse in den ländlichen Gebieten grundlegend. Im Jahr 1992 liberalisierte das Gesetz 96 der ägyptischen Volksversammlung die Agrarpachten und ermöglichte so die Vertreibung von Pächtern durch Landbesitzer nach einer 5-Jahres-Übergangsperiode. Die Pachten stiegen um das Dreifache an und Ägyptens Landwirtschaft – gefördert durch internationale Finanzinstitutionen wie den IWF und die Weltbank sowie US-Regierungsbehörden wie den USAID – bewegte sich in Richtung jenes exportorientierten Produktionsmodells, welches die afrikanische Agrarwirtschaft heute kennzeichnet.[6][6] Hunderttausende Ägypter verloren ihre ländliche Überlebensgrundlage und strömten in den informellen Sektor der urbanen Zentren – insbesondere, aber nicht ausschließlich, nach Kairo.

Zweitens wurde 2005 im Zuge der (ganzen oder teilweisen) Privatisierung von 209 Unternehmen des öffentlichen Sektors (von insgesamt 314) damit begonnen, die staatliche Beschäftigung dramatisch zu kürzen.[7][7] Die Anzahl der Mitarbeiter in diesen Unternehmen halbierte sich zwischen 1994 und 2001. Im Bankensektor wurde fast ein Fünftel des Geschäftsvolumens an den privaten Sektor übertragen. Die Folge dieser Privatisierungswelle – die 2006 vom IWF als „die Erwartungen übertreffend“ gefeiert wurde[8][8] – war eine drastische Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und die weitere Verarmung weiter Schichten der ägyptischen Bevölkerung. Dies war ein weiterer Faktor, der zur Ausbreitung der informellen Beschäftigung beitrug, die heute die ägyptischen Städte charakterisiert und die eine so kritische Rolle bei den jüngsten Aufständen gespielt hat.

Als Reaktion auf die neoliberalen Maßnahmen – und die Komplizenschaft der offiziell an den Staat gekoppelten Gewerkschaftsbewegung – entstanden im Zuge einer wichtigen Streikwelle zwischen 2006 und 2008 zahlreiche unabhängige Arbeiterorganisationen. Im Laufe des Jahres 2006 gab es 220 große Streiks, an denen sich Zehntausende Beschäftigte in der längsten Streikwelle, die Ägypten seit Jahrzehnten gesehen hatte, beteiligten.[9][9] Diese Streiks waren mit bäuerlichen Bewegungen verknüpft, die Widerstand gegen den Verlust ihres Landes aufgrund der oben beschriebenen neoliberalen Maßnahmen leisteten. Diese Erfahrungen mit unabhängigen Formen der Organisation und des Kampfes stellen ein Schlüsselelement zum Verständnis der gegenwärtigen Protestwelle dar.

Die neoliberalen Maßnahmen zeitigten die ‚natürlichen’ Begleiterscheinungen: die Konzentration und Zentralisierung von Reichtum in den Händen einer winzigen Elite. Wie von Tim Mitchell detailliert beschrieben war die Umverteilung von Reichtum in den privaten Sektor ein Hauptmerkmal des SAPs von 1990/91. Im Ergebnis wurde eine Handvoll mächtiger Konzerne gestärkt – wie die Osman, Bahgat und Orascom Gruppen –, deren Betätigungsfelder sich über das Bauwesen, Import/Export, Tourismus, Immobilien und das Finanzwesen erstrecken.[10][10] Es war vor allem diese kapitalistische Spitzengruppe, die von der Privatisierung, dem Zugang zu billigen Arbeitskräften, zu Regierungsverträgen und anderen Formen von Freigiebigkeit, die über Staatskanäle verteilt wurden, profitierte.

So ist die Empörung über den Reichtum der Familie Mubarak und anderer Spitzenpolitiker, die mit seinem Regime in Verbindung stehen, zwar berechtigt; es darf aber nicht übersehen werden, dass Mubarak und der ägyptische Staat als Ganzes die Interessen der kapitalistischen Klasse vertreten. Das Ergebnis des Neoliberalismus war die Bereicherung einer kleinen – staatlichen und privaten – Elite bei gleichzeitiger Verelendung einer großen Mehrheit der Bevölkerung. Dies ist keine Verirrung des Systems – eine Art „Gefälligkeits- oder Klientelkapitalismus“, wie einige Finanzkommentatoren es beschrieben haben –, sondern ein normales Merkmal der kapitalistischen Akkumulation, wie es sich in der ganzen Welt wiederholt. Der Repressionsapparat des ägyptischen Staates hatte die Aufgaben, jegliche soziale Unzufriedenheit, die aus den sich verschlechternden Verhältnissen entspringen könnte, zu unterdrücken. In diesem Sinne musste sich der Kampf gegen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise unvermeidlich gegen den diktatorischen Charakter des Regimes wenden.

Die regionale Dimension

Der Aufstand in Ägypten kann nicht ohne seine Verortung im regionalen Kontext verstanden werden. Auch hier können wir die Verflechtung zwischen dem Politischen und dem Ökonomischen erkennen. Die US-Politik im Nahen Osten richtet sich in erster Linie darauf, die an Öl und Petrodollars reichen Golfstaaten unter ihrem Einfluss zu halten. Dies sollte jedoch nicht dahingehend verstanden werden, dass die USA diese Ölreserven direkt besitzen wollen (obwohl dies ein Bestandteil dieses Prozesses sein könnte), sondern dass die USA sicherstellen wollen, dass die Ölreserven außerhalb der demokratischen Kontrolle durch die Menschen der Region verbleiben. Das Wesen des globalen Kapitalismus und die vorherrschende Position der USA innerhalb des Weltmarktes beruhen maßgeblich auf der Kontrolle der Golfregion. Jeder Schritt in Richtung auf eine breitere demokratische Transformation der Region könnte die Macht der USA auf der globalen Ebene bedrohen. Aus diesem Grund unterstützen die USA die Diktaturen, die in den Golfstaaten herrschen. Dort wird der Großteil der Arbeit von temporär beschäftigten Wanderarbeitern ausgeführt, die dort keinerlei Bürgerrechte besitzen und die beim geringsten Anzeichen von Unzufriedenheit abgeschoben werden können.

Die Beziehungen zwischen den USA und anderen (weniger ölreichen) Ländern des Nahen Ostens sind dem Ziel der Erhaltung der US-Hegemonie über die Golfregion untergeordnet. Dazu gehört auch die Beziehung zwischen den USA und Israel – deshalb ist die Behauptung, die „israelische Lobby“ bestimme die amerikanische Israel-Politik, Unsinn. Die USA sehen Israel als einen Eckpfeiler ihrer gesamten Nahost-Politik: Das Land stellt einen Verbündeten dar, der völlig abhängig vom US-Militär und der politisch-ökonomischen Unterstützung der USA ist und der immer dazu veranlasst werden kann, gegen die Interessen der arabischen Massen zu handeln. Gerade weil Israel seinem Ursprung nach ein siedlerkolonialer Staat ist, der auf die Enteignung des palästinensischen Volkes gegründet ist, wird es als eine stabilere und standhaftere Stütze der US-Macht angesehen als jede der arabischen Diktaturen, die der Bedrohung durch Volksaufstände ausgesetzt sind. Israel ist daher an der Erhaltung der arabischen Diktaturen interessiert – wie es sich so deutlich an der Haltung zu den jüngsten Erhebungen sowohl in Tunesien als auch in Ägypten gezeigt hat. Denn nichts wird von den israelischen Rechtsregierungen mehr gefürchtet als der Verlust der Monopolstellung als stabiler Pfeiler der US-Hegemonie in der Region.

Neben dem Verhältnis zu den Golfstaaten und zu Israel ist das Vertrauen auf autokratische Führer wie Mubarak das dritte Standbein der US-Macht in der Region. Hinter Mubarak stand aber immer (wie bei seinem Vorgänger Sadat) das ägyptische Militär. Die Verbindungen der USA zu Ägypten wurden weitgehend über das Militär hergestellt. Dies ist einer der Hauptgründe, warum das Militär eine so vorherrschende Rolle in der Struktur des ägyptischen Staates spielt. Der gewaltige Umfang der Militärhilfe, die Ägypten von den USA erhält (ca. 1,4 Milliarden US-Dollar jährlich) ist ebenso bekannt wie die Rolle, die das Militär bei der Unterstützung der US-Politik in Nahost gespielt hat (der aktuelle Kopf des Obersten Rates der Streitkräfte, Mohamed Tantawi, kämpfte an der Seite der US-Truppen im Golfkrieg 1991). Die höchsten Ränge des ägyptischen Militärs müssen als Teil der kapitalistischen Klasse mit erheblichen ökonomischen Eigeninteressen betrachtet werden, die sich mit denen des Staates und des privaten Sektors überlappen. Aufgrund der zentralen Rolle des Militärs in Bezug auf die regionale Aufrechterhaltung der US-Macht und wegen seiner eigenen Beteiligung an der Reproduktion des ägyptischen Kapitalismus ist jedweder Glaube an das ägyptische Militär als „Teil des Volkes“ oder „neutral und über der Politik stehend“ eine gefährliche Illusion.[11][11]

Über die letzten beiden Jahrzehnte hinweg wurden die Verbindungen zwischen der politischen und ökonomischen Struktur der US-Macht im Nahen Osten noch deutlicher. Die US-amerikanische Politik fuhr zweigleisig, d.h. sie verband neoliberale Wirtschaftsreformen einerseits mit der Normalisierung ökonomischer und politischer Beziehungen zwischen der arabischen Welt und Israel andererseits. Das weitreichende Ziel war die Schaffung einer einzigen ökonomischen Zone von Israel bis zu den Golfstaaten, verbunden über die Vorherrschaft der USA. Dies sollte u.a. erreicht werden über den Abschluss einer Reihe von bilateralen Freihandelsabkommen zwischen den USA und den arabischen Staaten der Region (Marokko, Bahrain, Oman, Jordanien und Ägypten), welche nach einiger Zeit zu einer einzigen freien Handelszone zusammengefügt werden sollten, um den ungehinderten Fluss von Waren und Kapital in der Region zu ermöglichen.[12][12]

Die Verbindung zwischen dieser ‚Normalisierung’ und den neoliberalen Reformen zeigt sich deutlich in der inhaltlichen Ausgestaltung der Freihandelsabkommen, die als Teil ihrer Bedingungen eine Verpflichtung beinhalten, jeglichen Boykott oder jegliche Ablehnung, mit Israel zu handeln, aufzugeben. Im Falle Ägyptens (und Jordaniens) ist diese Verbindung fortgeschrittener als in jedem anderen Staat der Region, wie sich am besten an den so genannten Qualified Industrial Zones (QIZ) zeigt. Die QIZ bieten zollfreien Zugang zum US-Markt für ägyptische Exporte. Das ist aber an die bemerkenswerte Bedingung geknüpft, dass ein bestimmter Mindestanteil der Importe (um die 12%) israelischer Herkunft sein muss, um sich für den zollfreien Status zu qualifizieren. Die ägyptischen QIZ konzentrieren sich auf die Textilbranche mit 770 Unternehmen, die Ende 2009 in den Zonen agierten. In den wenigen Jahren ihres Bestehens haben sie ein beachtliches Gewicht innerhalb der ägyptischen Exporte in die Vereinigten Staaten erreicht. Die ägyptischen Exporte aus den QIZ wuchsen zwischen 2005 und 2008 um unglaubliche 57% jährlich, mehr als zehn Mal so rasch wie die ägyptischen Exporte in die USA insgesamt.[13][13] 2010 machten die Exporte aus den QIZ mehr als 40% der gesamten ägyptischen Exporte in die Vereinigten Staaten aus.[14][14]

Es ist beachtenswert, dass ägyptische Aktivisten während der jüngsten Aufstände die Forderung erhoben haben, die QIZ aufzuheben. Ein weiterer wirksamer Schritt wäre es, die Abrechnungen der QIZ transparent zu machen – denn genaue und sachliche Informationen über ihre Tätigkeit sind notorisch schwer zu bekommen. Es wäre ein großer Verdienst der ägyptischen Bevölkerung, sie der Welt zu offenbaren. Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass es ähnliche QIZ auch im jordanischen Kontext gibt – mit dem Zusatz, dass viele der Beschäftigten in den jordanischen QIZ schwer ausgebeutete Wanderarbeiter aus Asien sind.

Diese regionalen Prozesse belegen die These, dass es unmöglich ist, die „ökonomischen“ von den „politischen“ Gesichtspunkten der gegenwärtigen Aufstände zu trennen. Die Forderung, die Verbindungen mit Israel abzubrechen und die regionalen Abkommen aufzuheben, die von Sadat und Mubarak unterzeichnet wurden, ist ein wesentlicher Bestandteil des Widerstands gegen die neoliberale Logik und die US-Macht in der Region. Das autoritäre Wesen des ägyptischen Staates ist ein direktes Ergebnis dieser regionalen Prozesse. Der Kampf für größere politische Freiheit muss also, wenn er erfolgreich sein will, zwangsläufig jene Fragen aufgreifen, die mit der US-Vorherrschaft in der Region und der besonderen Rolle, die Israel bei der Aufrechterhaltung dieser Vorherrschaft spielt, verbunden sind.[15][15]

Fazit

Die von einem Großteil der westlichen Medien vertretene und durch die sorgfältig formulierte Rhetorik der US-amerikanischen und europäischen Regierungen bekräftigte Interpretation der Demonstrationen in der arabischen Welt ist, dass es in erster Linie um den Kampf für den Sturz einzelner Tyrannen ginge. Natürlich enthält diese Version eine (wenn auch einseitige) Wahrheit: Die Protestierenden hatten die Persönlichkeiten Ben Ali und Mubarak ins Visier genommen. Die Behauptung jedoch, dass dies ein bloßer Kampf für „Demokratie“ sei, dient mehr der Verschleierung als der Aufklärung über den sozialen Inhalt der Aufstände. Zwei Drittel der ägyptischen Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt. Das bedeutet nicht nur, dass die große Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung ihr gesamtes Leben unter der Herrschaft Hosni Mubaraks verbrachte, sondern auch, dass sie eine sehr brutale Form des neoliberalen Kapitalismus erfahren hat. Die Demonstrationen richteten sich gegen die unverhüllte Klassenmacht, die durch Mubaraks Herrschaft verkörpert wurde. Die Art und Weise, wie Teile der kapitalistischen Klasse in den ersten Tagen der Aufstände fluchtartig das Land verlassen hatten, illustriert diesen Zusammenhang eindrücklich.[16][16]

Der anti-demokratische Charakter des ägyptischen Regimes ist kein Zufall oder eine Frage von einzelnen Personen, sondern die politische Form des Kapitalismus in Ägypten. Es ist die Art und Weise, wie Kapitalismus notwendig in einer Gesellschaft funktioniert, die geprägt ist von erheblicher (und sich immer weiter ausdehnender) Ungleichheit und die sich in einer Region befindet, welche zentral ist für die Erhaltung der US-Macht auf globaler Ebene. Aus diesem Grund ist die Forderung nach demokratischem Wandel in Gesellschaften, die durch einen jahrzehntelangen verkümmerten öffentlichen Raum charakterisiert sind, nur ein Aspekt eines viel weitläufigeren Kampfes, der sich maßgeblich um die Klassenfrage dreht. Mubarak war das öffentliche Gesicht einer Militärregierung. Die Entfernung dieses Gesichts verändert weder den Charakter der Militärherrschaft noch die Art, in welcher diese Herrschaft die Dominanz einer spezifischen Klasse sichert. Die politische Form des ägyptischen Staates ist keine Eintagsfliege. Die Rolle des ägyptischen Militärs kann nicht entscheidend neu gestaltet werden, solange die Struktur des Kapitalismus und seine regionalen Verflechtungen unangefochten bleiben.

Die vorliegende Analyse widerlegt die Rhetorik Obamas und anderer ‚Weltführer’, die die jahrzehntelange Unterstützung Mubaraks durch den Westen weißwäscht und behauptet, der Kampf des ägyptischen Volkes sei einfach eine Frage des „Übergangs“. Im Interesse des ägyptischen Militärs und der wirtschaftlichen Elite, der US-Regierung und aller ihrer regionalen Verbündeten – Israel inbegriffen – wird auf aufgeregte Weise versucht, die „politischen“ von den „ökonomischen“ Merkmalen des Volksaufstandes zu trennen und den Kampf auf die Frage nach Mubarak zu beschränken. Dies zeigt sich deutlich an den Meldungen der Medien vom 14. Februar, denen zufolge das Militär Streiks und andere Formen unabhängiger Arbeiterorganisierung verbieten würde. Der Kampf gegen die ägyptische Diktatur bleibt jedoch im Wesentlichen ein Klassenkampf. Dies ist keine Angelegenheit pathetischer Parolen oder leerer politischer Slogans, sondern ein nüchterner Tatbestand.

[1][17] Der Beitrag von Adam Hanieh erschien im Englischen erstmals am 14. Februar 2011 in: The Bullet, N. 462 (www.socialistproject.ca/bullet/462.php). Mit freundlicher Genehmigung des Autors wurde er von Nadine Helwig ins Deutsche übertragen.

[2][18] World Bank, Global Economic Prospects: Crisis, Finance and Growth (Washington: World Bank), S. 142.

[3][19] World Bank, S. 142.

[4][20] Siehe: David McNally, Night in Tunisia: Riots, Strikes and a Spreading Insurgency, in: The Bullet, N. 455, 19 January 2011.

[5][21] IMF, Arab Republic of Egypt – 2010 Article IV Consultation Mission, Concluding Statement, 16 February 2010, 2010.

[6][22] Für eine detaillierte Beschreibung dieses Prozesses siehe: Ray Bush, Civil Society and the Uncivil State Land Tenure Reform in Egypt and the Crisis of Rural Livelihoods (United Nations Research Institute for Social Development), Programme Paper, N. 9, May 2004.

[7][23] Angela Joya, Egyptian Protests: Falling Wages, High Prices and the Failure of an Export-Oriented Economy, in: The Bullet, N.111, 2 June 2008.

[8][24] IMF, Arab Republic of Egypt: 2006 Article IV Consultation.

[9][25] Siehe Jamie Allison, Wave of struggle shakes Egyptian regime, in: Socialist Worker, 7 April 2007.

[10][26] Timothy Mitchell, ‘Dreamland: The Neoliberalism of Your Desires,’ Middle East Research and Information Project (MERIP), N. 210, Spring 1999.

[11][27] Siehe auch: Gilbert Achcar, Whither Egypt?, in: The Bullet, N. 459, 7 February 2011.

[12][28] Siehe: Adam Hanieh, Palestine in the Middle East: Opposing Neoliberalism and US Power, in: The Bullet, N. 125, 15 July 2008.

[13][29] Barbara Kotschwar/Jeffrey J. Schott, Reengaging Egypt: Options for US-Egypt Economic Relations, Peterson Institute for International Economics, 2008, S. 20.

[14][30] Berechnet aus Daten von dataweb.usitc.gov.

[15][31] Zudem tendieren alle Solidaritätsbewegungen, die regionale Kämpfe unterstützen (wie Palästina), auch dazu, die Natur der politischen Systeme einzubeziehen. Es ist kein Zufall, dass die Vorgeschichte der Aufstände in den Protesten zu finden ist, die im September 2000 aus Solidarität mit der Palästinensischen Intifada aufkamen. Zu dieser Zeit, wie der ägyptische Sozialist Hossam el-Hamalawy bemerkt hat, versuchten Studenten, auf die Straße zu gehen, wurden aber vom Regime überwältigt. Siehe: Interview with Hossam el-Hamalawy, in: The Bullet, N. 456, 31 January 2011.

[16][32] Es wurde berichtet, dass Ägyptens mächtigste Unternehmer in den ersten Tagen des Aufstandes mit 19 Flugzeugen nach Dubai flohen, wo sie hofften, dem Sturm des Aufstandes zu entkommen.

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