Umwälzungen im arabischen Raum

"Arabellion"

Juni 2011

Unter diesem Titel berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung seit Wochen über die Ereignisse in der arabischen Welt – jener Region, von der „Experten“ seit Jahrzehnten behaupteten, die dort lebenden Völker seien demokratie-unfähig, schienen doch die Lebens- und Überlebensdauer der dortigen Diktatoren zu beweisen, dass diese Völker damit zufrieden waren, geknechtet, gefoltert, ausgeplündert zu werden. Und plötzlich fing die Erde an zu beben: Im kleinen, friedfertigen Tunesien, das der Arab Human Development Report schon vor Jahren – gemeinsam mit Saudi-Arabien – an die Spitze der repressivsten Regime der arabischen Welt gesetzt hatte, erhob sich das Volk gegen den Diktator, Hunderttausende gingen auf die Straßen, riefen „hau ab! (dégage!)“ – und der oberste Dieb der Nation verschwand klammheimlich mitsamt Ehefrau und deren räuberischer Sippe in jenen anderen Staat, mit dem er sich diese Spitzenposition teilte, nach Saudi-Arabien. Auf Tunesien folgte Ägypten, wo Millionen nicht nur auf dem midan at-tahrir, dem Platz der Befreiung, sondern auch in den anderen großen Städten zusammenströmten und schließlich den Rücktritt des dortigen Diktators erzwangen. Trotz der Brutalitäten der Despoten, trotz Repression und zahlreicher Toter (in Tunesien über 200, in Ägypten über 800) und unzähliger Verletzter blieben die Demonstranten gewaltfrei. Auch hier wurde unser Vor-„Wissen“ widerlegt: In überwältigender Mehrheit waren die Demonstranten Muslime, also, wie wir doch zu wissen glauben, kulturell wenn nicht genetisch zu Gewaltanwendung motivierte Menschen, die sich nun ganz offensichtlich „untypisch“ verhielten!

Die Haltung des Westens

Untypisch verhielten sich allerdings ganz plötzlich auch unsere Medien: Nicht nur al jazeera, das wäre ja noch verständlich gewesen, nein auch CNN, New York Times und FAZ und alle anderen feierten die „arabische Revolution“. Plötzlich wurden wir informiert über die grauenvollen Verhältnisse in den Ländern unserer Freunde, die uns jahrzehntelang vor dem gewalttätigen islamistischen Terror geschützt hatten! Wussten wir es nicht oder wollten wir es nicht wissen? In Sachen Menschenrechte genügt es, die Länderberichte des US-Außenministeriums aufzurufen, die detaillierter noch als jeder Bericht von amnesty international die bestialischen Foltermethoden in den Ländern des arabischen Raumes beschreiben.[1] Gerade diese Kenntnisse mögen mit ein Grund dafür gewesen sein, weshalb die USA im Zuge des „Krieges gegen den Terror“ und der „extraordinary renditions“ Menschen nach Ägypten, Marokko, ja sogar ins „feindliche“ Syrien verschleppten, waren die dortigen Verhörmethoden doch „effizienter“ als das, was die CIA sich selbst an Brutalitäten zutraute. Und die Despoten am Südufer des Mittelmeers und in der restlichen arabischen Welt trugen fleißig dazu bei, das in Europa seit Ende des Kalten Krieges genährte Schreckgespenst vom islamischen Terrorismus zu pflegen, wie es zeitgerecht von Samuel Huntington 1993 in die Welt gesetzt worden war.[2] Dass sie dabei nicht nur die islamistische Opposition brutal unterdrückten, sondern auch jeden Ansatz einer demokratischen Opposition bürgerlicher oder gewerkschaftlicher Provenienz ausrotteten, fand in der westlichen Politik und ihren Medien keine Beachtung. Wichtig war einzig „Stabilität“ – egal um welchen Preis.

Bekannt war dem Westen und vor allem seinen Regierungen genauso die unglaubliche Korruption, ja die Ausplünderung der Volkswirtschaften dieser Länder durch ihre Kleptokraten: Nicht nur die nun plötzlich „entdeckten“ Auslandsvermögen der Mubarak-Familie, die auf bis zu 70 Mrd. $ geschätzt werden, oder die des Ben Ali-Trabelsi-Clans (Leila Trabelsi war die zweite Ehefrau Ben Alis)[3] in Höhe von 45 Mrd. $ dürften bekannt gewesen sein. Selbst IWF und Weltbank waren offensichtlich bereit, den Freunden am Südufer des Mittelmeers ob ihrer neoliberalen Politik und des Ausverkaufs der Interessen ihrer Länder wider besseres Wissen Bestnoten für die Wirtschaftsführung auszustellen.[4] Der vom Weltwirtschaftsforum herausgegebene Global Competitiveness Report 2009 kürte Tunesien zum wettbewerbsfähigsten Land Afrikas und die bundeseigene Germany Trade and Invest (vormals Bundesstelle für Außenhandelsinformation bfai) bescheinigte dem Land ein kontinuierliches Wachstum von 4% während der vergangenen zehn Jahre.[5] Der Reichtum in Ägypten dürfte zu einem großen Teil aus den gigantischen Rüstungsgeschäften des Landes stammen, an denen sowohl die Staatsspitze wie die hohen Militärs kräftig partizipierten: Nach Israel (jährlich 3 Mrd. $) ist Ägypten mit 1,5 - 2 Mrd. $ der zweitgrößte Empfänger von US-amerikanischer Militärhilfe. Diese Aufrüstung verfolgt keine kriegerischen Ziele, sie diente der Bereicherung des Präsidenten und der Spitzen der Armee, sind doch in diesem Geschäft „Provisionen“ in der Höhe des Systempreises (bisweilen mehr) für die Besteller üblich. Diese Zahlungen beförderten das Militär zu einer Militärbourgeoisie, die im Bausektor, im verarbeitenden Gewerbe, in Hotelketten investierte und derzeit etwa 40% der ägyptischen Wirtschaft kontrolliert.

Plünderökonomie in den Staaten, die kein Öl oder Gas besitzen (neben Ägypten Marokko, Jordanien, Syrien), die Aneignung der Rente aus dem Kohlenwasserstoffexport in den Golfstaaten, in Libyen und Algerien (das Land verfügt derzeit über mehr knapp 150 Mrd. $ Devisenguthaben[6]), auf der arabischen Halbinsel durch bis ins Mark korrupte Regime führten zu kontinuierlicher Verschlechterung der Lebensbedingungen der Bevölkerung, zu Arbeitslosigkeit, Verelendung: Im „reichen“ Algerien leben 30% der Menschen von einem Einkommen von 1 $ pro Tag und weniger. In all diesen Ländern herrscht eine Perspektivlosigkeit, die zunehmend auch die Mittelschichten betrifft. Gekennzeichnet ist die Situation nicht nur durch die soziale Deklassierung und die allgegenwärtige Repression, sondern auch durch die hogra, die Verachtung und Demütigung, die die Menschen im Alltag seitens der Staatsdiener auf Amtsstuben, der Polizei, im staatlichen Gesundheitswesen etc. erfahren. Unübersehbar waren die Warnzeichen, die sich in den letzten Jahren vermehrten: Streiks und die Kifaya-Bewegung in Ägypten[7], die Streiks und Proteste in den südtunesischen Phosphatminen, der seit Jahren alltägliche, wenn auch immer lokal begrenzte Aufruhr in Algerien. Man wollte diese Anzeichen einer bevorstehenden Explosion nicht sehen, vertraute auf das „Stabilisierungspotenzial“ der befreundeten Diktatoren.

Tunesien und Ägypten: Dynamik der Potestbewegungen

Ein Akt des sozialen Protests, die Selbstverbrennung eines diplomierten Informatikers in einer tunesischen Kleinstadt, der sein Leben als fliegender Gemüsehändler fristen musste, löste lokalen Protest aus. Bei der üblichen Repression gab es Tote, der Protest weitete sich im tunesischen Hinterland aus. Die eingesetzte Gewalt verstärkte die Proteste, die schließlich die großen Städte und die touristische Küste erreichten. Am 14. Januar, vier Wochen nach Beginn der Proteste, floh der Präsident wie ein Dieb in der Nacht. Auf den Straßen jubelte das Volk: Jugendliche, Hochschullehrer, Richter, Frauen mit und ohne Kopftuch lagen sich in den Armen, sangen die Nationalhymne und schwenkten die Landesfahne, küssten die Soldaten, die die Menschen vor den Provokationen und Plünderungen der verbliebenen Ben-Ali-Garden schützten. Der Gipfel des Ganzen: Nicht nur die tunesische Armee lief zum Volk über, sondern auch unsere Regierungen und – unisono – die Medien, die nun plötzlich die Forderungen der Menschen nach Meinungsfreiheit, Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Würde unterstützen.

Die tunesische Revolution griff über auf Ägypten. Das Volk, das zu Millionen auf die Straßen strömte und dem midan at-tahrir, dem Platz der Befreiung, seinen Sinn wiedergab, erzwang auch dort die Flucht des Diktators. Auch dort schoss das Militär nicht auf seine Brüder und Schwestern. Auch dort waren es vor allem Jugendliche, aber auch Menschen aus allen Schichten, die mit friedlichen Mitteln die Abdankung des Despoten forderten und erreichten. Muslimische Geistliche und Koptische Bischöfe umarmten sich und wurden von den Massen über den Platz getragen. Verschleierte Frauen, Anhängerinnen der Muslim-Brüder, verbrachten Tage und Nächte auf dem Tahrir-Platz – ohne Begleitung oder Bewachung von männlichen Familienangehörigen. Der reichste Mann des Landes, der Milliardär Sawiri, unterstützte die Bewegung. Und die Proteste weiteten sich aus auf Jordanien, Jemen, Bahrein, Libyen, Syrien – täglich fragt man sich: Welches ist das nächste Land, in dem die Revolution ausbricht?

Neu an den gewaltfreien Protestbewegungen und ihren oft humorvollen Schlachtrufen[8] ist auch, dass sie sich nicht auf die alten (verbrauchten?) Slogans gegen den imperialistischen Erzfeind USA riefen, Israel nicht zur Ursache allen Übels erklärten oder den Kolonialismus für das Elend der Welt verantwortlich machten. Nein, diese Proteste blicken nach vorn, es geht um die souveräne Gestaltung einer neuen, freien, bürgerlich-rechtsstaatlichen Gesellschaft, in der die Menschen in Würde leben sollen. Neu ist auch die meisterhafte Nutzung des Internet zur Organisation von Protesten und zur Logistik der Bewegung, was dazu geführt hat, dass dieses sowohl in Ägypten wie in Libyen zeitweise abgeschaltet wurde. Neu ist, dass es sich – zumindest in Tunesien und Ägypten – um Proteste des ganzen Volkes handelt, ja dass gerade die säkularen Mittelschichten massiv vertreten waren, genauso wie Frauen jeden Alters und jeder Herkunft. So weit die Gemeinsamkeiten.

Unterschiede ergeben sich aus der geo-strategischen Lage und der Bedeutung der beiden Länder im Internationalen System: Tunesien ist ein kleines Land, seine Ölvorkommen sind kaum erwähnenswert, die Ökonomie ist gänzlich auf die EU ausgerichtet. Ägypten dagegen ist das informelle Zentrum und zugleich das bevölkerungsreichste Land der Arabischen Welt. Wer Ägypten kontrolliert, kontrolliert den Suez-Kanal, der noch immer eine zentrale Wasserstraße für die schnelle Verlegung von Kriegsschiffen und für den Transport von Öl ist. Ägypten war – nach den USA – der verlässlichste Freund Israels: Ohne die Mubarak-Regierung wäre die Blockade des Gaza-Streifens nicht möglich gewesen. Aufgrund der sekuritären Besessenheit Ben Alis war die Armee in Tunesien marginalisiert, in Ägypten bildet sie seit dem Putsch der „Freien Offiziere“ im Jahre 1952 das Rückgrat der Macht und ist (s. o.) ein wichtiger Akteur in der ägyptischen Ökonomie. Dieses Militär wird sich seine Privilegien nicht so leicht nehmen lassen,[9] wenn auch gerade sein kapitalistischer Charakter erklärt, weshalb es sich in der Stunde der Entscheidung gegen Mubarak und vor allem seinen als Nachfolger vorgesehenen Sohn Mubarak stellte: Die herrschende Familie produzierte nicht, sie war parasitär und nutzte das oberste Staatsamt für Plünderung und Bereicherung durch Inbesitznahme produktiver Unternehmen – genau wie die Trabelsi-Familie in Tunesien.

Als sich die Situation in Tunesien zuspitzte, gab es offensichtlich enge Kontakte zwischen dem Oberkommandierenden der tunesischen Armee, Rachid Ammar, und der US-Botschaft. Die Befehlsverweigerung Ammars gegenüber dem Präsidenten, auf die Demonstranten zu schießen, könnte also durchaus mit Rückendeckung der USA erfolgt sein. In Ägypten setzten die USA von Anfang an auf Sami Enan, den dortigen Oberkommandierenden, der zu Beginn der Krise nach Washington gereist war,[10] und der wohl engen Kontakt mit der US-Administration hielt.[11] Enan gilt als nicht korrupt, und der Sprecher des Weißen Hauses, Robert Gibb, erklärte bereits am 31. Januar, dass „den legitimen Forderungen des ägyptischen Volkes nach Versammlungs- und Redefreiheit stattgegeben werden“ müsse.[12] Die These, dass die Obama-Administration den Wandel unterstützte, belegen auch die Äußerungen von Philip Crowley, Sprecher des US-Außenministeriums, bei einem Besuch in Algier am 18. Februar 2011,[13] wo er erklärte „Der Wandel ist notwendig. … Wir haben nicht gezögert, die universellen Rechte des algerischen Volkes zu betonen. Wir haben dasselbe in Tunesien getan … (und) in Ägypten und wir sind dabei, dasselbe in der ganzen Region zu tun. Wir ermutigen diesen Wechsel und wir wollen einen friedlichen Wandel.“ Auch die vom Londoner IISS herausgegebene Zeitschrift Survival hebt hervor, dass US-Verteidigungsminister Robert Gates „mindestens sechs Mal“ mit der ägyptischen Armeeführung telefonierte und darauf drängte, den Ausnahmezustand zu beenden, die Verfassung zu ändern, das Parlament aufzulösen und demokratische Wahlen durchzuführen.[14]

Diese Politik der US-Administration erscheint auf den ersten Blick als ein neues Paradigma, in dem nicht mehr Stabilität um jeden Preis das Ziel der Außenpolitik der USA und des gesamten Westens zu sein scheint, sondern Demokratie! Diese Sprachregelung ist von der EU ebenso übernommen worden wie sie sich auch in den Erklärungen von Frau Merkel und Herrn Westerwelle findet. Nur das Frankreich Sarkozys setzte bis auf die vorletzte Sekunde auf das alte repressive Stabilitätskonzept – etwa wenn die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie noch drei Tage vor der Flucht des tunesischen Diktators diesem französische Spezialtruppen zur Niederschlagung des Aufstands anbot.[15] Dass sie auf Kosten eines Mitglieds der Trabelsi-Sippe in Tunesien Urlaub zu machen pflegte, wurde erst später bekannt.

Politik des „regime change“

Was erklärt diesen Wandel und die damit verbundene geradezu euphorische Berichterstattung in unseren Medien über die Demokratiebewegung in der arabischen Welt? Drei grundlegende Erkenntnisse dürften eine Rolle gespielt haben:

Bereits George W. Bush hatte den „regime change“ im Nahen und Mittleren Osten als zentrales Politikziel der USA benannt und dieses mit seinem Krieg gegen den Irak eingeleitet. Der Krieg sollte den Beginn einer „Demokratisierung des Nahen Ostens“ bringen – ein Politikziel, das damals kaum jemand dem Präsidenten abnahm. Auch der Afghanistan-Krieg zielte neben der Besetzung geo-strategischer Positionen[16] auf den Sturz des Taliban-Regimes. Beide Kriege sind verloren: Der Irak wurde in ein politisches Chaos gebombt, aus dem ein Ausweg nicht sichtbar ist; auch ist er keineswegs zu Ende: 50.000 US-Soldaten sollen dauerhaft im Land bleiben, auch wenn sie nicht mehr direkt an Kampfhandlungen oder an der Herstellung der inneren Sicherheit beteiligt sein sollen. Afghanistan wurde in den Zustand eines failed state versetzt, eine Exit-Strategie, die dort halbwegs funktionierende Strukturen hinterlassen würde, ist nicht in Sicht.

Den US-Diplomaten in der Region ist seit Jahren klar, dass der sich in den arabischen Ländern aufstauende Druck von den dortigen Diktaturen nicht mehr dauerhaft niedergehalten werden kann – das zeigt die Veröffentlichung der einschlägigen Berichte in wikileaks. Der gewaltsame Sturz der Diktatoren würde über kurz oder lang die USA selbst massiv in diese inneren Konflikte verwickeln – eine Perspektive, die die anti-amerikanischen Ressentiments in der Region nur verstärken könnte.

Schließlich ist die Wirtschafts- und Finanzkrise am Hegemon ganz offensichtlich nicht spurlos vorüber gegangen. Das unipolare System[17] scheint seinem Ende entgegen zu gehen. Sogar der Verteidigungshaushalt muss Kürzungen hinnehmen, wie der vor kurzem erfolgte Ausstieg der USA aus dem derzeit einzigen transatlantischen Rüstungsprojekt MEADS (Medium Extended Air Defense System) zeigt. Begründet wurde dieser mit mangelnder Finanzierbarkeit.[18]

Zumindest in den USA scheint sich die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass die sozial wie kulturell explosive Situation im Nahen Osten mit den alten Instrumenten, den stellvertretenden Diktaturen und den mit ihnen verbundenen korrupten Komprador-Bourgeoisien nicht mehr regulierbar ist. Da bieten sich gerade die gebildeten Mittelschichten an, die in diesen Ländern trotz aller Repression gewachsen sind, die unter der Unterdrückung von Meinungs- und Informationsfreiheit besonders gelitten haben. Was in Tunesien als sozialer Protest begann, wandelte sich schnell zu einer im Kern (klein-)bürgerlichen Aufstandsbewegung. Die Slogans des Aufstands in Ägypten, seine Organisatoren und eine große Zahl der Demonstrantinnen und Demonstranten lassen den gleichen Schluss zu.

Eine Lösung der Krise und der ihr zugrunde liegenden sozialen, politischen und kulturellen Blockaden könnte in der klassischen Kombination von politischem und ökonomischem Liberalismus, sprich der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien in einem bürgerlichen politischen System liegen. Mit einem solchen System könnten weite Teile der Gesellschaften des Nahen Ostens leben – und auch westliches Kapital würde durchaus von einem Mehr an Rechtsstaatlichkeit profitieren, denn die Verzerrungen von Markt und Investitionschancen durch grassierende Korruption ebenso wie durch mögliche Eingriffe in unternehmerische Entscheidungen, die durch die Gier der parasitär Herrschenden motiviert sind, laufen den Grundsätzen kapitalistischen Unternehmertums zuwider.[19]

Jedoch sollte nicht unterschätzt werden, welch großen Sprung der Übergang von Despotie zu einer bürgerlichen Ordnung in den orientalischen Gesellschaften darstellt. Hier haben Völker die Voraussetzung für Demokratie erkämpft: Die Souveränität. Und es ist mehr als wahrscheinlich, dass sie sich diese Souveränität so leicht nicht mehr nehmen lassen werden. Auch bietet praktizierte Demokratie in bürgerlichen Systemen Handlungsspielräume für die Ausgestaltung der sozialen Verhältnisse. Schließlich darf angenommen werden, dass in den heutigen global vernetzten Gesellschaften die Veränderungen in Lateinamerika vielleicht nicht ohne Wirkung auf die „arabische Revolution“ geblieben sind – und dass die Umwälzungen im arabischen Raum wiederum zurückwirken können und werden auf den Rest dessen, was einmal mit dem Begriff „Dritte Welt“ bezeichnet wurde. In diesem Sinne ist dieser regime change light mit Sicherheit mehr als eine Variante im noch lange nicht eingetretenen Ende der Geschichte: Mit ihm haben sich die Völker des arabischen Raums erstmal souveräne Handlungsspielräume erkämpft, und es ist vielleicht kein Zufall, wenn die Vertreter der deutschen politischen Stiftungen in Tunis bisher keine Partner zu finden scheinen, da die neu gegründeten Parteien eher „links“ sind.[20]

Die Auseinandersetzung in und um Libyen

Bis dahin erschien die westliche Politik in einem scheinbar völlig neuen und ungewohnten Gewande. Dann kamen die libysche Rebellion und der geradezu spektakuläre Alleingang von Nicolas Sarkozy, der als Erster seinen langjährigen und verlässlichen Freund Ghaddhafi, der noch 2007 sein Zelt auf den Champs Elysées hatte aufschlagen dürfen, verriet und die in ihrer Zusammensetzung unbekannte Rebellenbewegung in der Cyrenaika als „legitime Vertreterin des libyschen Volkes“ anerkannte und einen Botschafter nach Benghazi entsandte. Er erklärte, den Krieg nötigenfalls allein führen zu wollen, sei doch das Image der NATO und der USA im arabischen Raum so schlecht, dass ein Eingreifen dieser beiden Mächte den Interessen des Westens abträglich wäre.

Die Bewegung selbst agierte völlig anders als die Aufständischen in Tunesien und Ägypten: Sie stürmten Kasernen und Polizeiwachen, bewaffneten sich und begannen den bewaffneten Widerstand gegen die Diktatur Ghaddhafis. Schnell zeigte sich, dass die Loyalitäten der Libyer noch immer den Stämmen gehören. Die Rolle der Stämme und ihre Präsenz in den Sicherheitsorganen spielt auch in den derzeitigen Auseinandersetzungen eine zentrale Rolle.[21] Seine Stütze hatte Ghaddhafi immer in Tripolitanien gehabt. Dem Osten wurden immer geringere Anteile der Rente zugeteilt. Die Cyrenaika war auch schon immer die Hochburg religiös konservativer Kräfte gewesen: Nicht zufällig hatten die Briten 1951 das Oberhaupt der Senussiya-Bruderschaft als König Idriss I. auf dem neu geschaffenen libyschen Thron installiert, von dem ihn Ghaddhafi mit seinem Putsch am 1. September 1969 vertrieb. Die konservative Senoussiya war im 19. und in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts eine mächtige Organisation mit einer Anhängerschaft, die von Senegal bis Indonesien reichte.[22] Aus der Cyrenaika stammte – nach Saudi-Arabien – die zweitgrößte Zahl jener „Afghanen“, die als Freiwillige aus den arabischen Ländern in Afghanistan gegen die Sowjetunion und später im Irak gegen die USA kämpften. Die Cyrenaika war auch immer Hochburg militanter Islamisten, die von Ghaddhafi brutal verfolgt wurden – schließlich hatte er mit seinem „Grünen Buch“, das er auch die „Dritte Universaltheorie“ nannte, die Schaffung einer Ordnung verlangt, die sich nicht auf die islamischen Quellen beruft, für sich aber beansprucht, die angestammte Ordnung abzulösen. Nicht beachtet wird in unseren Medien die Tatsache, dass die Rebellen im Osten Libyens die Fahne des alten Libyen unter Idriss schwenken, während Tripolitanien mit der Senussiya nie viel zu tun hatte.

Die Auseinandersetzungen um die Intervention in Libyen scheinen innerhalb der EU und der NATO äußerst kontrovers geführt worden und noch immer strittig zu sein: Allen voran war es der US-Verteidigungsminister Gates, der sich lange und deutlich gegen eine Intervention in Libyen positionierte. Als nach dem Vorpreschen vor allem Frankreichs die USA doch die Resolution 1973 im Sicherheitsrat unterstützten, enthielt sich die Bundesrepublik Deutschland. Dies führte vor allem in Frankreich zu heftigen Reaktionen. Die vom Sicherheitsrat verhängte Flugverbotszone führte in der von Frankreich und Großbritannien geführten Koalition der Willigen umgehend zu einer Kriegführung gegen Ghaddhafi und seine Truppen und zu einer offenen Unterstützung der Rebellen in Ost-Libyen, womit der von der Resolution 1973 gesetzte Handlungsrahmen eindeutig überschritten wurde und die Koalitionäre zur Kriegspartei in einem Bürgerkrieg mutierten. Das Verhalten der NATO blieb zögerlich, Generalsekretär Rasmussen erklärte gar, der Konflikt sei mit militärischen Mitteln nicht zu lösen.[23] Andrerseits scheinen sich die Rebellen ihrer (vor allem französischen und britischen) Luftwaffe sicher zu sein: Das Vermittlungsangebot zu Verhandlungen mit Ghaddhafi haben sie rundweg abgelehnt. Wann nun vielleicht doch noch EU-Battle Groups in das Geschehen eingreifen, ist im Augenblick schwer abschätzbar. Dass Deutschland sich darauf vorbereitet und sehnlichst auf eine entsprechende Anforderung des UN-Generalsekretärs zu warten scheint, deutet darauf hin, dass man bei der Gestaltung einer „Neuordnung“, sprich beim Verteilen des Fells des mehr oder weniger erlegten Bären, dabei sein will.

Perspektiven der Entwicklung in Libyen bleiben zum derzeitigen Zeitpunkt unklar: Ein Rücktritt Ghaddhafis erscheint derzeit eher unwahrscheinlich. Das UN-Mandat lässt einen direkten Angriff auf seine Person und damit einen gewaltsamen regime change nicht zu. Diese Situation könnte letztlich auf eine Teilung des Landes hinauslaufen, die durchaus im Interesse der alten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreichs, aber auch des Westens schlechthin liegen könnte: Beide Landesteile verfügen über riesige Öl- und Gas-Vorräte, deren Kontrolle das wirkliche Motiv der Intervention sein dürfte.[24] Beide bräuchten nach dem Krieg dringend Devisen für einen Wiederaufbau und wären wegen des aufgestauten Hasses gut gegeneinander auszuspielen. Während Frankreich die Rebellen als legitime Regierung des gesamten Landes anerkannt hat, versuchen die USA ihren Einfluss im Lager der Rebellen zu sichern, indem sie zwei für ihre neo-liberalen Positionen bekannte Personen zu stützen versuchen, die aus den USA in das Land zurückgekehrt sind: Ali Tarhuni und Mahmud Dschibril. Welche Kräfte sich jedoch noch hinter der weitgehend unbekannten Führung der Rebellion verbergen, kann allenfalls die Zukunft zeigen.

Wie auch immer der Krieg in Libyen ausgehen wird, er stellt nicht nur einen schweren Rückschlag dar für friedliche Aufstandsbewegungen wie in Tunesien und Ägypten, er wird auch den politischen Islam in Libyen stärken[25]: Gewalt ist wieder legitimiert, und die Diktatoren in Jemen und Syrien machen davon reichlich Gebrauch. Interventionen sind mehr denn je an der Tagesordnung: Im Schatten der Resolution 1973 ist Saudi-Arabien in Bahrein einmarschiert, um der dortigen Herrscherfamilie bewaffneten Beistand gegen das Volk zu leisten. Die ägyptische Militärbourgeoisie wird schneller als gedacht als Ordnungsfaktor gebraucht und aufgewertet. Was als „humanitäre Intervention“ in Libyen ausgegeben wurde, mündet in einer Politik der Rekolonisierung und stärkt letztlich die reaktionären Regime im Rest der arabischen Welt: Der regime change light, die Herstellung demokratischerer und rechtsstaatlicherer Verhältnisse im arabischen Raum, hat erst einmal Pause. Die Despoten von Rabat bis Bagdad können – ein wenig – aufatmen.

Abschluss des Manuskripts: 13. Apr. 2011.

[1] http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/ [12-02-11].

[2] Huntington, Samuel H.: The Clash of Civilizations. In Foreign Affairs, Summer 1993, S. 22 – 49. Zur Kritik s. u. a.. Ruf, Werner: ISLAM. A New Challenge to the Security of the Western World? In: Ders. (Hrsg.): Islam and the West. Judgements, Prejudices, Political Perspektives. Münster 2002, S. 41 – 45.

[3] Leila Trabelsi hatte es verstanden, ihre Söhne und Töchter, deren Ehepartner, ihre Neffen und Vettern systematisch in Banken, Fluggesellschaften, Supermarktketten, Hotelketten etc. zu platzieren, so dass hieraus ein paralleles ökonomisches Imperium von raffgierigen Parasiten entstand. Ausführlich dazu: Beau, Nicolas / Graciet, Catherine: La régente de Carthage, Paris 2010.

[4] Zmerli, Ali: Ben Ali le ripou, Kapitalis.com 2011, http://www.kapitalis.com/images/banners/ benaliripou.pdf [07-02-11].

[5] http://www.gtai.de/ext/anlagen/PubAnlage_7506.pdf?show=true S. 5. [04-02-11].

[6] Le Quotidien d’Oran, 17. Oktober 2009.

[7] El Masry, Ingrid: Gewerkschaften und Arbeiterbewegung in der Revolution; in: Game Over, Inamo-Spezial, Frühjahr 2011, S. 56 – 57.

[8] Leukefeld, Karin: Der Traum vom neuen Ägypten. In: Neues Deutschland, 19./20 Februar 2011, S. 3.

[9] Das jüngst durch das Militär verhängte Demonstrationsverbot wie auch die Verurteilung eines Bloggers durch ein Militärgericht zu drei Jahren Haft (FAZ 12-04-11, S. 6) sind ein deutliches Indiz.

[10] http://www.libertarianrepublican.net/2011/02/sami-enan-to-take-over-for-mubarak.html [19-02-11].

[11] http://www.defense.gov/news/newsarticle.aspx?id=62636 [19-02-11].

[12] Ebenda.

[13] Interview mit der algerischen Tageszeitung Liberté, 19, Februar 2011.

[14] Lynch, Marc: America and Egypt after the Uprisings; in: Survival 2/2011, S. 31 – 41.

[15] http://www.lemonde.fr/afrique/article/2011/01/13/tunisie-les-propos-effrayants-d-alliot-marie-suscitent-la-polemique_1465278_3212.html [14-02-11].

[16] Ruf, Werner: Afghanistan im Fadenkreuz der Geostrategie. In: spw Nr 176, Heft 1/2010, S. 32 -37.

[17] Krauthammer, Charles: The Unipolar Moment. In: Foreign Affairs, Heft 1/1991, S. 4 – 23.

[18] FAZ, 15. Febr. 2011.

[19] Nach einer am 19. Februar von der tunesischen Arbeitgeber-Organisation UTICA (Union Tunsienne du Commerce, de l’Industrie et de l’Artisanat) vorgelegten Studie haben 40% der tunesischen Betriebe auf Expansion und Investitionen verzichtet, da sie befürchteten, dass ökonomisches Wachstum die Trabelsi-Sippe dazu veranlassen könnte, die Betriebe zu übernehmen, wie das mit 40% der tunesischen Unternehmen geschehen war. Aus diesen Gründen, so die Studie, sei die Schaffung von etwa 200.000 neuen Arbeitsplätzen (bei einer Gesamtbevölkerung von rd. 10 Mio.!) verhindert worden. http://www.maghrebemergent.info/entreprises/80-tunisie/2166-le-patronat-tunisien-qlibereq-mais-en-crise-en-quete-dune-nouvelle-image.html [20-02-11].

[20] Einmischung ohne Einmischung. FAZ, 22-03-11.

[21] Zerrissene Stammesbande, FAZ, 23-02-11.

[22] http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/koenig_idris_1.9684333.html [11-04-11].

[23] FAZ 11. und 12. April 2011. Junge Welt, 13-04-11.

[24] Buro, Andreas/Ronnefeldt, Clemens: Der NATO-Einsatz in Libyen ist (Öl-)interessengeleitet. Internationaler Versöhnungsbund, April 2011 (http://www.versoehnungsbund.de/sites/default/files/artikel/231/ 2011-Libyen_april2011_6s.pdf)

[25] Bator, Wolfgang: Hintergründe der Unruhen in Libyen im Frühjahr 2011. Unveröff. Mnuskript, März 2011. http://www.swp-berlin.org/de/nc/wissenschaftler-detail/profile/wolfram-lacher.html

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