Buchbesprechungen

Ein neuer Staatsinterventionismus?

von Dieter Janke zu Dellheim/Krause
September 2010

Judith Dellheim, Günter Krause (Hrsg.), Sichtbare Hände – Staatsinterventionismus im Krisenkapitalismus, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe: Manuskripte 86, Karl Dietz Verlag, Berlin 2010, 231 S., 9,90 Euro

Die gravierendste Wirtschafts- und Finanzkrise der Nachkriegszeit hat die Weltwirtschaft nunmehr das dritte Jahr fest im Griff. Ausgelöst durch die Immobilien- und Kreditkrise in den USA erlebte sie ihren ersten Höhepunkt mit dem Zusammenbruch der US-Großbank Lehman Brothers im September 2008. Der drohende Flächenbrand der globalen Finanzmärkte konnte in der Folge nur durch bis dato beispielloses Intervenieren der Politik – entgegen der ansonsten dominierenden neoliberalen Marktgläubigkeit – verhindert werden. Seither beherrscht in allen bedeutenden Industriestaaten Pragmatismus die Geld- und Finanzpolitik, die – wie derzeit in der Krise der europäischen Einheitswährung – mehr von den Ereignissen getrieben wird, als dass sie offensiv gestaltend agiert. Läutet jenes der blanken Not geschuldete Rückbesinnen auf den Staatsinterventionismus einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ein? Kommt es zu einer Neujustierung der widersprüchlichen Dualität von Marktmechanismen und Wirtschaftsregulierung durch den Staat? Und: Deuten sich dabei gar über das kapitalistische Wirtschaftssystem hinausweisende Strukturen an? Jenen Fragen ging ein Workshop nach, den die Rosa-Luxemburg-Stiftung bereits im November 2008 in Berlin zum Thema „Die ‚sichtbare Hand’ – vor uns ein neuer Staatsinterventionismus? Wer beherrscht die Zukunft? Hintergründe, Inhalte und Fragen einer aktuellen Debatte“ durchführte. Der nunmehr vorliegende Konferenzband fasst die hier zur Diskussion gestellten Positionen von 15 Autoren aus Europa, den USA und China zusammen und stellt sie einer breiteren Öffentlichkeit vor.

Joachim Bischoff unternimmt einleitend den ambitionierten Versuch einer Charakterisierung der 2007 ausgebrochenen globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Für ihn stellt sie die bisherige Form der Globalisierung in Frage und manifestiere das „Ende des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus“. Ihr Ausmaß und die erforderlichen politischen Konsequenzen hätten erstmalig sogar zu Selbstzweifeln im neoliberalen Lager geführt: „Die Mehrheit der politischen Klasse ist gleichsam blitzartig von der über Jahrzehnte vertretenen Deregulierungs-, Privatisierungs- und Flexibilitätspolitik zu einem Staats-interventionismus zurückgekehrt.“ Allerdings, so fügt Bischoff hinzu, habe sich dabei die für den Neoliberalismus typische Geschichtsblindheit nicht verflüchtigt. Auch Lutz Brangsch diskutiert das Singuläre der derzeitigen Krisenprozesse und macht es in der veränderten Rolle des Staates aus, die sich von der der 1980er Jahre unterscheide. Sie verlaufe deshalb erstmalig auf einer durch den neoliberalen Umbau der letzten Jahrzehnte selbst geschaffenen Grundlage. Wenn er in diesem Zusammenhang eine neue Diskussion zum „Öffentlichen Dienst der Zukunft“ fordert, bietet Richard A. Rosen aufschlussreiche Überlegungen darüber an, wie ein durch ihn geforderter „vollständiger Neustart“ der Wirtschaftsregulierung aussehen könnte. Hauptanliegen müsse es dabei sein, private Interessen öffentlichen unterzuordnen, was ohne größere demokratische Kontrolle nicht möglich sei. Als einen möglichen praktischen Ansatzpunkt bietet er das in hiesigen Breiten weitgehend unbekannte US-amerikanische Modell der Aufsichtsbehörden für öffentliche Versorgungsbetriebe (Public Utility Commissions, PUC) an. Wie andere Teilnehmer des Workshops auch verweist Xinhua Zhang auf Besonderheiten der derzeitigen Krisenprozesse, die nicht den normalen Konjunkturschwankungen folgen. Sie kündigen eine „neue Phase struktureller Anpassungen und institutionellen Wandels an – einen Restrukturierungsprozess mit neuen technologischen Durchbrüchen.“ Aus seiner Sicht gehe es dabei allerdings weniger um die zukünftige Rolle des Staates an sich sondern um die dominierende politische Kultur, d.h. die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft. Im Folgenden skizziert Zhang aus seiner Sicht nötige Reformen, mit denen die VR China zu einer neuen Lokomotive für die Weltwirtschaft werden könnte. Für Günter Krause, der den theoriegeschichtlichen Wurzeln der „Religion des Marktes“ nachgeht, besteht der politökonomische Kern der derzeitigen Debatte um die Neujustierung des Verhältnisses von Markt und Staat in weltweiten Rissen im Hegemonialprojekt des Neoliberalismus, der angesichts vielfältiger Krisenprozesse in eine Legitimationskrise geraten ist: „Die Ära zumindest naiver Marktfaszination ist vorbei,...“

Angesichts der derzeitigen Euro-Krise sind die Überlegungen von Catherine Sifakis-Kapetanakis zum Fortschritt und Rückschritt der Europäischen Union von seinerzeit nicht vorhersehbarer Aktualität. Als Hauptproblem macht sie hier die stecken gebliebene politische Integration aus. Faktenreich und von hoher politischer Brisanz sind die Überlegungen von Peter Custers zu den verschiedenen Formen des militärischen Keynesianismus, die unproduktive öffentliche Investitionen in Europa wie auch in den USA darstellen. Er irrt allerdings, wenn er J. M. Keynes unterstellt, dieser sei von beständig beschleunigendem Wirtschaftswachstum ausgegangen, was seinen theoretischen Horizont begrenze. Das Gegenteil ist der Fall! In seiner Langzeitprognose unterstellt Keynes vielmehr sinkendes Wachstum und Stagnation, was die Brisanz der Verteilungsfrage in anderen Dimensionen erscheinen lässt. Custers ist allerdings zuzustimmen, wenn er zur Weiterführung des Keynesschen Ansatzes eine breite öffentliche Debatte über soziale und umweltpolitische Ziele der Staatsintervention fordert.

Jürgen Leibiger untersucht den Charakterwandel des Staates in den letzten Jahrzehnten. Im Unterschied zum Nachkriegsstaat im „Golden Age“ charakterisiert er ihn als „post-fordistischen Staat“, der sich u.a. durch eine strikte Ökonomisierung seiner Tätigkeit auszeichne. Seine Skepsis hinsichtlich des Zustandekommens von Bedingungen für einen neuartigen „New Deal“ teilt Leibiger mit Jörg Huffschmid. Letzterer sieht sich mit der Finanzkrise in seinen Analysen zum finanzmarktgetriebenen Kapitalismus bestätigt. Die aktuelle Situation mit den jüngsten Staatsinterventionen zusammenfassend, schlussfolgert er: „Die umfangreichen staatlichen Aktivitäten zur Rettung und Stabilisierung des Finanzsystems laufen darauf hinaus, einen Zusammenbruch zu verhindern, das System im Übrigen nicht zu verändern und möglichst schnell zum vorherigen Zustand zurückzukehren.“

Während sich die Mehrzahl der Beiträge mit den Ländern der globalen Zentren befassen, sind die Überlegungen Jörg Goldbergs auf die Wirkungen der Krise in den Ländern des Südens fokussiert. Am Beispiel der hier wichtigsten Ressource, dem Wasser, verdeutlich er die wachsende Abhängigkeit jener Länder von einer geringen Zahl transnationaler Monopole im Zuge der Durchsetzung neoliberaler Privatisierungsstrategien. Asbjörn Wahl hingegen untersucht das Zustandekommen des skandinavischen Wohlfahrtsmodells und dessen Perspektiven. Seine Weiterentwicklung, so Wahl, erfordere, über Keynes hinauszugehen und die Rolle des Staates als „sichtbare Hand“ neu zu bestimmen. Das setzt jedoch eine umfassende Verschiebung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses voraus. Ähnlich argumentiert auch Frieder O. Wolf, der einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ einfordert. In Abgrenzung vom Pragmatismus der derzeitigen Eliten besteht für Judith Dellheim die Schlüsselfrage einer sozialistischen Wirtschaftspolitik in der Demokratisierung der Entscheidungen über Ressourceneinsatz und -nutzung.

Insgesamt ist der Konferenzband eine facettenreiche und anregende Lektüre zu einem zentralen Problem aktueller Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik.

Dieter Janke