1974-2014 – Epochenumbruch?

Der „Erdrutsch" – zentraler Epochenbruch?

Reflexionen über neuere Zäsuren: 1945 – 1973ff. – 1989/91

von Dieter Boris
Dezember 2014

„Die Geschichte des 20. Jahrhunderts war seit 1973 die Geschichte einer Welt, die ihre Orientierung verloren hat und in Instabilität und Krise
geschlittert ist.“

(Mit dieser Feststellung eröffnet Eric J. Hobsbawm den dritten Teil – übertitelt mit „Der Erdrutsch“ – seines „Klassikers“ „Das Zeitalter der Extreme“, 1994)

Die scheinbar einfache Frage, warum es seit Beginn der 70er Jahre (ca. 1973 bis 1976) in Deutschland (BRD), teilweise auch in Europa und der Welt insgesamt zu einem „Erdrutsch“ gekommen ist und was dieser bis heute verändert hat, enthält eine Reihe von Prämissen, unausgesprochenen Hypothesen (Annahmen) und eine große Zahl von – aus den Hauptfragen abgeleiteten – Unterfragen und Probleme, die hier nur ansatzweise zu erörtern sind, bevor man wieder auf den Ausgangspunkt zurückkommt.

Abgesehen von der vorgängig (und vorläufig) zu erörternden Frage, worin eine „Zäsur“ im geschichtlichen Ablauf (manche sprechen sogar von „Epochenbruch“) gesehen werden darf (1), ist gegenüber anderen bekannten „Einschnitten“ des historischen Verlaufs die besondere Rolle/Qualität der Wende um 1973-76 zu diskutieren. Das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 oder der weitgehende Zerfall des sog „realsozialistischen“ Staatensystems 1989/91 sind wahrscheinlich objektiv und in der subjektiven Wahrnehmung vieler Zeitgenossen noch bedeutendere Zäsuren gewesen. (2) Dennoch weist der seit Mitte der 70er Jahre fast überall einsetzende Umbruch unter dem Signum der immer uneingeschränkteren Marktliberalisierung in sachlicher wie in der regional-geopolitischen Breitenwirkung Besonderheiten auf, die andere historische Einschnitte und Zäsuren (wie z.B. die erwähnten) zumindest in einigen Aspekten relativeren. (3)

I.

Schon häufig ist gesagt worden: Das historische Kontinuum in untergliederte Abschnitte aufzuteilen („Periodisierungen“) ist so unentbehrlich wie problematisch. Notwendig, um sich vergewissern, was neu ist und wo Richtungsänderungen (und mit welchem Gewicht) eingetreten sind. Problematisch, weil auch ein Umbruch das historische Kontinuum nicht völlig aufsprengt, sondern immer ein – wie auch immer gewichtetes – Kompositum von Kontinuitäts- und Diskontinuitätsmomenten darstellt. Daher handelt es sich fast immer um bloß „partielle“ Umbrüche, die regional, sachlich-sektoral sowie in ihrem Zeitrhythmen ganz unterschiedlich ausfallen können bzw. sogar ausbleiben. Zudem sind die Kriterien für die als wichtig erachteten historischen Einschnitte keineswegs immer dieselben; diese selbst können sich durchaus im Laufe der Zeit deutlich verändern.

Wie tiefgreifend („epochal“) eine historische Zäsur letztlich wirksam ist, kann nie sofort bestimmt werden. Nicht nur weil objektive Determinanten sich mit subjektiven Perzeptionsweisen mischen, sondern auch weil Zäsuren häufig erst nach einigen Jahren als solche wahrgenommen werden. (So wie umgekehrt manches als Zäsur ausgerufenes Ereignis oder manche Ereigniskette sich im Nachhinein als doch nicht so prägend und langfristig wirksam herausgestellt haben.)[1][1]

Man kann im Übrigen vielfältige Zäsuren unterscheiden, z.B. heterodoxe und orthodoxe; wobei erstere solche sind, die aus völlig unerwarteten Ereignissen entstanden sind und in Umbrüchen kulminieren (1989/91) während die zweiten solche sind, die gewissermaßen „im Rahmen“ der Erfahrungen lagen und quasi erwartet wurden. Schließlich werden „Erfahrungszäsuren“ und sog. „Deutungszäsuren“ unterschieden. Erstere sind durch eigene Erlebnisse geprägt, während letztere im Nachhinein erkannt und als Einschnitt gedeutet werden (Sabrow 2013: 10f. und 15f.) Selbst anscheinend völlig klare objektive und subjektive Zäsuren müssen nicht generell, alltagswirksam und lebensweltlich ubiquitär Geltung besitzen und treten gegenüber anderen strukturgeschichtlichen Trends sogar in den Hintergrund. „Viele zeitgeschichtliche Entwicklungstrends auch in Deutschland und Europa blieben vom Mauerfall gänzlich unberührt. Die Herausbildung der Informationsgesellschaft in der digitalen Revolution, der Umbau des Bildungssystems, der demografische Wandel und die krisenhafte Expansion des Sozialstaats bezeichnen Entwicklungen, die vor 1989 einsetzten und vom Herbst 1989 zwar betroffen, aber kaum in ihrer Richtung verändert wurden. Für die Alltagsgeschichte der westeuropäischen Gesellschaft bedeutete der Beginn des Internetzeitalters einen sehr viel größeren Einschnitt als der Fall der Berliner Mauer.“ (Sabrow 2013: 12).

Dies bedeutet, dass einzelne Begebenheiten, Ereignisse oder gar Ereignisketten (Koselleck 1989:145ff.), so entscheidend wichtig sie z.B. weltpolitisch sein mögen, bestimmte Basistrends mit stark transformatorischen Wirkungen weder umkehren noch wesentlich verändern, allenfalls beschleunigen oder zeitweise verlangsamen können. Dies zeigt an, dass beim Studium von Zäsuren zum einen die strukturellen, sachlichen Ebenen (z.B. Technik, Kultur, Alltagsleben etc.) und die verschiedenen – diesen nicht immer entsprechenden – Zeitschichten bzw. temporale Modi (schnell vs. langsam; intensiv vs. diffus; punktuell vs. breit gestreut) unterschieden werden müssen. „Der Gewinn einer Zeitschichtentheorie liegt ... darin, verschiedene Geschwindigkeiten messen zu können, Beschleunigungen oder Verzögerungen und damit verschiedene Veränderungsweisen sichtbar zu machen, die von großer temporaler Komplexität zeugen.“ (Koselleck 2013: 22). Wobei es für Historiker und Geschichtstheoretiker besonders reizvoll sein dürfte, zu erkunden, wie die differenten sachlichen Dimensionen mit den Zeitmustern zusammenhängen, d.h. relativ parallel laufen oder gerade umgekehrt in Transformationsprozessen auseinanderdriften und damit jenes Phänomen der „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeit“ verstärken. Es ist erstaunlich, dass in vielen Arbeiten zu Transformationsfragen (in der letzten Zeit z.B. aus dem Think Tank der RLS) diese Problematik differierender Zeitschichten im Verlauf von Transformationsprozessen wenig oder selten explizit aufgegriffen worden zu sein scheint.[2][2]

Ein tief greifender Epochenumbruch, der als solcher – wenn auch vielleicht zeitlich verzögert – von den meisten Menschen empfunden wird, kann sich offensichtlich nicht auf die politische Ebene beschränken. Allgemein verhaltensprägende Veränderungen müssen das Arbeitsleben, die materielle wie immaterielle Reproduktion sowie den Umgang mit Dingen und Techniken und keineswegs zuletzt das breite Spektrum kultureller Artikulationen erreichen. Unter dieser Perspektive könnte es auch zu einer Umdeutung bzw. Neubewertung des gesellschaftlichen Gewichts von einzelnen Zäsuren während des letzten Jahrhunderts kommen.

II.

Politisch waren die Zäsuren von 1945 und 1989/91 ohne Zweifel überaus tiefgreifend und bestimmten wesentlich die darauf folgende Weltpolitik und die internationalen Beziehungen.

Die definitive Niederlage des deutschen Faschismus und der sog. „Achsenmächte“ sowie die bald eintretende Bipolarität der Welt, der Beginn des „Kalten Kriegs“ und der Systemkonkurrenz waren seither – bis 1989 – die nicht hinterfragbaren Leitfragen der Politik. Auch das Ende dieser Systemkonkurrenz 1989/91 wird in der Regel als Zäsur globaler Reichweite apostrophiert, wobei im Nachhinein die Stimmen sich mehren, die eine Relativierung dieser Sichtweise vornehmen (Siebold 2014).

Ähnlich geht es der Zäsur von 1945, obwohl diese als noch universeller gültig erscheint und zudem mit einem ökonomischen Aufschwung – zumindest seit Ende der 40er Jahre – einhergeht, der als exzeptionell empfunden wurde. Das sog. „Wirtschaftswunder“ vor allem in Westeuropa (aber auch in den USA, Japan und dann in anderen Ländern Asiens und Lateinamerikas) schien die bisher immer wieder registrierten kurzen oder längeren Aufschwungs- und Depressionsperioden in der kapitalistischen Entwicklung vollständig obsolet gemacht zu haben. Die fast 25 Jahre währende Nachkriegsprosperität („golden age“) brachte nicht nur eine generelle – freilich sozialstrukturell differierende – Wohlstandssteigerung und bis dahin unbekannte Konsumerhöhung mit sich, sondern auch neue massenwirksame Verhaltensformen, Versorgungsleistungen und eine gewisse Homogenisierung in den jeweiligen westeuropäischen Nationalgesellschaften und sicher auch zwischen diesen.

Insofern kann von einer Zäsur gesprochen werden, die nicht nur weltpolitisch, sondern auch ökonomisch, sozialstrukturell und alltagsweltlich (lebensweltlich) zu begründen ist. Allerdings können bei aller Bedeutung dieses historischen Einschnitts die Fragen diskutiert werden a) in welchem globalen Ausmaß dieser Einschnitt gleichermaßen tief (und spürbar) war, b) wie lange und dauerhaft diese Zäsur und ihre Neuerungen währten und gültig blieben und schließlich – mit Punkt b) zusammenhängend – c) auf welchen generellen oder singulären Faktoren insbesondere der lang anhaltende ökonomische Aufschwung – eben die berühmte Nachkriegsprosperität – beruht hat bzw. ob eventuell der Einschnitt dadurch relativiert wird, dass diese Periode als Ausnahme oder „Abweichung“ von der „normalen“ kapitalistischen Entwicklung gelten muss.

Gerade in Bezug auf die Punkte b) und c) hat Burkart Lutz Mitte der 80er Jahre eine Erklärungshypothese vorgelegt, die von den zuvor als zufrieden stellend angesehenen Interpretationsvarianten deutlich abwich. Zunächst wendet er sich (1989, 2. Aufl.) gegen das „Kontinuitätsparadigma“ der industriellen, modernen Entwicklung, wie es in vielen Theorien jener Zeit (z.B. in der Modernisierungstheorie, der Drei-Stadien-Theorie Fourastiés, der Rostow’sche Stufentheorie etc.) enthalten war. Demgegenüber verweist er auf das historische Auftreten langfristiger diskontinuierlicher Entwicklungsrhythmen – neben den kurzfristigen Konjunkturzyklen –, welche seit Etablierung des Kapitalismus wirksam waren. Zentral für Lutz sind das spezifische Nebeneinander von einem kapitalistischern Sektor und nicht-kapitalistischen Sektoren, von Wohlfahrtsstaat und Nachfragebeziehungen, die nicht ausschließlich auf die Expansion des Weltmarkts angewiesen sind. Während von ca. 1890 bis 1914 eine Prosperitätskonstellation durch ein bestimmtes Zusammenwirken vieler Variablen generiert wurde, war die Periode 1914/18 bis 1945 von Kräften (Tendenzen) bestimmt, die eine vormalige „positive Rückkoppelung“ nicht mehr in eine Prosperitätskonstellation verwandeln konnten, sondern umgekehrt eine „depressive Spirale“ nach unten hervorbrachten. (Lutz 1989: 22). Die entscheidenden Mechanismen fasst er wie folgt zusammen: „Solange der industriell-marktwirtschaftliche Sektor aufgrund steigenden Exports wächst, erschließt er sich, wenngleich er – als Voraussetzung steigender Exporte – gemäß dem klassischen Lohngesetz durch Nutzung intersektoraler Wanderungen sein Lohnniveau niedrig hält, auch binnenwirtschaftlich neue Absatzmärkte, da die Betriebe des traditionellen Sektors von überschüssiger Bevölkerung entlastet werden und dank Anwachsens der Arbeitnehmerschaft im modernen Sektor auch bei stagnierenden Lohnsätzen bei deren Versorgung steigende Barerlöse erzielen. Diese ‚Prosperitätsspirale’ schlägt jedoch nach dem Ersten Weltkrieg in eine ‚depressive Spirale’ um, wenn der Export ins Stocken kommt. Dann benötigt die Industrie kaum zusätzliche Arbeitskräfte; die Summe der im modernen Sektor verdienten Löhne und Gehälter schrumpft eher, als dass sie wächst; und damit schwindet sehr rasch auch die Fähigkeit des traditionellen Sektors, Güter und Leistungen aus dem industriell-marktwirtschaftlichen Sektor zu beziehen. Und es ist unmöglich, diese Spirale dauerhaft zu blockieren und ein neues, auf expandierende Binnenmärkte gegründetes Wachstum in Gang zu setzen, solange der Mechanismus des Lohngesetzes und seine effiziente Nutzung unter dem Druck der sich wieder im traditionellen Sektor stauenden Bevölkerungsüberschüsse einerseits und der noch verschärften Weltmarktkonkurrenz andererseits jede dauerhafte Anhebung der Lohneinkommen verhindern (Lutz 1989: 22f.). Das spezifisch Neue dieser Nachkriegskonstellation nach 1945 bestand darin, dass durch Wohlfahrtsstaat und Tarifvertragssystem dieser negative Rückkoppelungsprozess weitgehend außer Kraft gesetzt wurde und umgekehrt das Lohnniveau im modernen, kapitalistischen Sektor dauerhaft ansteigen konnte. Durch die dynamische Nachfrage der Arbeitnehmer im modernen Sektor nach Konsumgütern aus diesem Bereich bedurfte es immer weniger einer Nachfrage des traditionellen Sektors nach Investitionsgütern, um eine langfristige Konjunkturstärke zu stabilisieren. Nach weitgehender Absorption des traditionellen Sektors im modernen musste es nach Lutz zum Ende der so fundierten Wachstumsphase kommen. Eine neue Prosperitätskonstellation zeichnete sich damals nicht ab, und die alten, „normalen“ Gebrechen kapitalistischer Wirtschaft und Akkumulation (Überakkumulation, Absatzstockungen, Freisetzung von Arbeitskräften und Brachlegung/Vernichtung von Kapital) schienen sich seit Mitte der 70er und den 80er Jahren überall mehr oder minder deutlich und in längeren Phasen abzuzeichnen.

Die „innere Landnahme“ bei gleichzeitigem Ausbau des Wohlfahrtsstaats und der teilweisen Außerkraftsetzung des „Lohngesetzes“ waren die Parameter der Nachkriegsprosperität. Mit dem vorläufigen Ende der Landnahme, den sich häufenden weltwirtschaftlichen Rezessionen, einer starken Inflationstendenz, dem Anstieg der Arbeitslosigkeit, der Zunahme der öffentlichen Verschuldung etc. kam auch der Sozialstaat unter Druck und manches wurde sukzessive Kürzungen anheim gegeben; alte Phänomene, wie Obdachlosigkeit, Einkommensverfall, Dauerarbeitslosigkeit traten wieder auf. Der Abbau öffentlicher Infrastrukturen im Laufe der 70er und 80er Jahre in einem schleichenden (und daher nicht sofort wahrnehmbaren) Prozess wurde quasi zur Dauererscheinung in den entwickelten Industriestaaten. Der „keynesianische Wohlfahrtsstaat“ wurde in Theorie und Praxis (zunächst mehr in der Theorie als in der Praxis in manchen Ländern) zugunsten des „neoliberalen Wettbewerbsstaats“ zu Grabe getragen (Hirsch /Roth 1986; Hirsch 1995; Hobsbawm 1995: 503ff.)

So kann in Bezug auf die Fragen b) und c) ein Zwischenresümee folgendermaßen lauten: Die Nachkriegsprosperität dauerte bis in die 70er (Mitte bis Ende der 70er Jahre), immerhin 25 bis 30 Jahre, die ökonomisch-sozial so tief greifend und wirksam erschienen, dass die normalen Zyklen und Mechanismen der kapitalistischen Entwicklung außer Kraft gesetzt waren und offenbar der Vergangenheit angehörten. Zum zweiten beruhte sie außer auf besonderen Nachkriegsfaktoren (Zerstörungen, Konsumaufschub, günstige Verwertungsbedingungen, Vorhandensein eines qualifizierten Arbeitskräfteheeres etc.) auf der Kombination von „innerer Landnahme“ (Aufsaugen vorkapitalistischer Sektoren) und wohlfahrtsstaatlichen Mechanismen, die eine überzyklische und lange andauernde Prosperitätsphase bescherten.

Nach dem Unwirksamwerden der singulären Nachkriegsfaktoren und der Absorption innerer vorkapitalistischer Sektoren durch die kapitalistische Wirtschaft waren wesentliche Antriebskräfte verschwunden, der epochale Aufstieg beendet (relativiert) und die kapitalistische „Normalität“ setzte wieder ein.

III.

Wie tiefgreifend dieser Einschnitt (Ende der Nachkriegsprosperität, Ende des Fordismus) gewesen ist, in welchem Maße neue Antriebskräfte die genannten depressiven Momente überdecken (kompensieren) konnten und in welchen Verhältnissen diese durch neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik charakterisierte Phase zu den Zäsuren von 1945 und 1989 steht, ist durchaus Gegenstand einer andauernden Diskussion. Einige Gedanken, die die Besonderheit und Bedeutung dieser Zäsur des „Erdrutsches“ unterstreichen, seien im Folgenden vorgetragen.

Der Übergang zum postfordistischen Finanzmarktkapitalismus, wie er sich spätestens seit den 80er Jahren in vielen Regionen und Wirtschaften der Welt abgezeichnet hat, konnte – entgegen vieler Versprechen und neoliberaler Diskurse – keine neue, stabile Prosperitätskonstellation hervorbringen. Dies gilt vor allem dann, wenn man unter letzterer eine quasi universelle, relativ homogene Besserstellung und Wohlstandssteigerung verstehen will. Eines der Hauptkennzeichen der neuen Ära der sog. neoliberalen Globalisierung und weitestgehender Marktliberalisierung ist, dass die Ungleichheitsverhältnisse zwischen Nationen/Ökonomien in der Welt[3][3] sowie innerhalb dieser im allgemeinen sich stark erhöht haben, wenn man die entsprechenden Größenverhältnis der 50er bis 70er Jahre als Vergleichsmaßstab heranzieht. Neben gewaltiger Reichtumssteigerung (symbolträchtig im raschen Anwachen der Zahl von Multimilliardären repräsentiert) während der letzten 30 Jahre geht damit eine Beibehaltung bzw. teilweise Vertiefung von globalen Verarmungs- und Prekarisierungsprozessen einher, wie erst kürzlich wieder eine Revision der statistisch-methodischen Messverfahren der Asiatischen Entwicklungsbank herausgestellt hat. Das Ausmaß der Armutsreduktion wurde dieser Institution zufolge während der letzten Jahre stark überschätzt.

Damit ist angedeutet, dass trotz der wieder einkehrenden Normalität von großen Konjunkturschwankungen, Rezessionen und Krisen die (zeitweise und regional wirksame) wirtschaftliche Dynamik keineswegs still gestellt oder abwesend war. Dies heißt – wie W. Streeck im Rückblick auf B. Lutz’ Thesen feststellte –, dass durchaus neue Felder und Räume der Landnahme „sowohl im Inneren der Industriegesellschaften als auch, und zunehmend, über deren Grenzen hinweg in neuen Formen weiter (erschlossen wurden, D.B.), wobei sich die Funktionsweise des ‚Lohngesetzes’ ebenso änderte wie die Mittel, mit denen es weiterhin suspendiert wurde. Insbesondere der Wohlfahrtsstaat, so meine These, wurde für die Fortsetzung der kapitalistischen Expansion erneut entbehrlich. So kam, mit der Abkoppelung der zunehmend globalen Wachstumsdynamik des modernen Kapitalismus von der Sozialstaatsdynamik innerhalb der alten Industriegesellschaften, das sozialdemokratische Prosperitätsmodell an sein Ende. Mit der historischen Ablösung des Problems des sozialen Ausgleichs innerhalb der reichen Gesellschaften des Westens von dem Problem der Sicherung kapitalistischen Wachstums begann der bis heute anhaltende Siegeszug eines neuen Liberalismus.“ (Streeck 2005: 5).

Weitere Felder von interner Landnahme waren die Familien, speziell die weibliche Arbeitskraft; seit Ende der 70er Jahre nahm in fast allen westeuropäischen Staaten die weibliche Erwerbstätigkeit deutlich zu. Trotz Lohndruck auf die männlichen Löhne und niedrigerer weiblicher Entlohnung war dies ein kontinuierlicher Prozess.

Zweitens sind die vielfältigen Prozesse der „Akkumulation durch Enteignung“ (Harvey) zu nennen, die neue Felder der Kapitalakkumulation erschließen konnten. Die Umwandlung staatlicher und öffentlicher Güter und Dienstleistungen und Funktionen in ein neues Terrain der privaten Akkumulation hat zweifellos die Dynamik des Kapitalismus nach dem Ende der Nachkriegsprosperität wesentlich angestoßen. Der Abbau sozialstaatlicher Sicherungen hat weitere Arbeitskraftreserven mobilisieren können und die Verwertungsbedingungen generell erhöht.

Die zudem durch neue Kommunikations- und Transporttechnologien begünstigte Globalisierung, die u.a. – vielleicht vor allem – Produktionsstätten in der ganzen Welt – jenseits des Nationalstaats – organisieren und Arbeitskräfte vor Ort oder durch dosierte Zuwanderungs- und Grenzöffnungspolitik in den Ausgangsländern zur Produktion und/oder für Dienstleistungen zu günstigen Bedingungen zu mobilisieren vermochte, könnte als „Anzapfen“ eines externen, weltweiten quasi-traditionellen Sektors begriffen werden.

Der aus der Kapitalverwertungsperspektive zweifelsfreie Vorteil dieser Aspekte der Globalisierung besteht u. a. darin, dass – im Unterschied zur Periode von 1945 bis Mitte der 70er Jahre – eine kapitalistische Wachstumsdynamik durch Abkoppelung von wohlfahrtsstaatlichen Elementen (in mehr oder minder rigider Weise) möglich geworden ist und politisch – je nach Kräfteverhältnissen – realisiert wird. Dies hat W. Streeck zu Recht unterstrichen: „Globalisierung als Externalisierung des traditionellen Sektors des westlichen Kapitalismus und als Internationalisierung des von Lutz noch allein auf nationaler Ebene angesiedelten Wirtschaftsdualismus bedeutet vor allem, dass die kapitalistische Landnahme wieder wie früher ohne begleitende Expansion des Sozialstaats vorangehen kann.“ (Streeck 2005: 8).

Ein weiterer Aspekt, der die Zäsur von 1989/91 mit der „Erdrutsch“-Zäsur, die die neoliberale Globalisierung eingeleitet hat, untergründig verbindet und erstgenannte wenn nicht relativiert, so doch in einen Beziehungs- und teilweise Kausalkontext stellt, ist die Frage, inwieweit die neue globale Dynamik des entfesselten Kapitalismus auch zu einem erheblichen Teil zum Niedergang des „Realsozialismus“ beigetragen hat.

Zweifellos spielten hierbei zunächst eine Vielzahl interner Mechanismen und Blockaden eine vorrangige Rolle: extremer Autoritarismus, eine weiterhin unentwickelte Zivilgesellschaft, Abwesenheit von institutionalisierten Kontrollmechanismen der Führung und von Möglichkeiten demokratischer Einflussnahme, geringe Anreize zu technisch-wissenschaftlichen Innovationen und vieles andere mehr. Eine schleichende Militarisierung der Gesellschaft und eine extreme Geheimniskrämerei (übrigens auch zwischen sozialistischen Partnerländern) plus ausufernden Spitzel- und Überwachungssystemen verweisen offensichtlich auf Brüchigkeiten des politischern Herrschaftssystems und wachsende Legitimationsprobleme. Eine deutlich abnehmende wirtschaftliche Dynamik und problematisch werdende Versorgung mit „gehobenen“ Konsumgütern spielten hier sicherlich – neben den Demokratiedefiziten – eine erhebliche Rolle. Von Letzteren konnten lange Zeit in gewissem Umfang mit dem Verweis auf wachsende, elementare Konsummöglichkeiten abgelenkt werden bzw. diese als Kompensationen eingesetzt werden. „Dabei wurden vielfach Konsummuster und -versprechen der kapitalistischen Zentrumsländer übernommen, ohne dass korrespondierende Realisierungsmöglichkeiten bestanden.“ (Becker 2009: 29).

Seit Ende der 60er Jahre, verstärkt aber ab Mitte der 70er Jahre waren deutliche Verringerungen der ökonomischen Wachstumsraten in praktisch allen sozialistischen Ländern des „Ostblocks“ zu konstatieren. Zu diesen traten noch die wachsenden militärisch-politischen Verpflichtungen (ein quasi sozialistischer „imperialer overstretch“, wie ihn Kennedy für die USA analysiert hatte) hinzu (in Afrika, Asien, Lateinamerika), die eine Konzentration auf den Übergang von einer extensiven zu einer intensiven Reproduktion (technologische Innovationen, systematischer Ausbau einer Maschinengüterindustrie für entsprechende Gebrauchsgüter etc.) fast unmöglich machten. Auch die stärkere Öffnung gegenüber dem kapitalistischen Weltmarkt zwecks Import bestimmter Investitionsgüter und komplexer Anlagen erwies sich als problematisch. Da die Exporte der meisten sozialistischen Länder (außer bei einigen Rohstoffen) in den westlichen Ländern nicht sonderlich nachgefragt waren, entstanden bald wachsende Handelsbilanz- und Zahlungsbilanzdefizite, die die Verschuldung ansteigen ließ. „In den 1970er Jahren begab sich ein erheblicher Teil der Regierungen in den industrialisierten staatssozialistischen Ländern auf eine Weg zur Erhöhung des Konsumgüterangebots und der Modernisierung des Maschinenparks, der in den 1980er Jahren ihre wirtschaftlichen Probleme deutlich verschärfen sollte: die Devisenverschuldung in westlichen Ländern … Damit beschleunigte sich die Erosion der wirtschaftlichen Autarkie der staatssozialistischen Industrieländer und Elemente der Abhängigkeit gegenüber westlichen Ökonomien akzentuierten sich.“ (Becker 2009: 29).

Damit spitzten sich die ökonomischen Widersprüche und Schwierigkeiten zu, die dann zu dem völligen Niedergang und zum schnellen Seitenwechsel von erheblichen Teilen der bisherigen „Nomenklatura“ führte. Die innere ökonomische und politische Schwäche der Staaten des „Realsozialismus“ reflektierte sich auch in ihrer zusehends reduzierten Rolle in der Außen- und Weltpolitik. „Innerhalb des kapitalistischen Weltsystems vollzog sich – nach den Krisenprozessen der 1970er Jahre – ein Prozess der Konsolidierung, Revitalisierung und Neugruppierung der Machtstrukturen; die Gewichte innerhalb der Systemkonkurrenz verlagerten sich deutlich nach Westen … Die Sowjetunion hingegen geriet immer tiefer in den Strudel der inneren Existenzkrise. Die Führung hatte dann nicht mehr die Kraft und den Willen, ihre Führungsfunktion innerhalb des sozialistischen Lagers wahrzunehmen und in der ‚Dritten Welt’ dem Imperialismus politisch und militärisch seine Grenzen aufzuzeigen…“ (Deppe 2006: 276f.) Die weltwirtschaftlichen Einbrüche seit den 70er und 80er Jahren hatten offenbar schwerere Negativwirkungen für manche Länder des „Ostblocks“ als für die westlichen Länder. Die technologischen Sprünge, die nach Konjunkturkrisen nicht selten kumuliert und auf breiter Front auftreten, um aus der Verwertungskrise herauszutreten, trugen offenbar dazu bei, dass sich die ökonomischen Divergenzen zwischen dem sozialistischen Staatensystem und der westlich-kapitalistischen Welt vertieften. „Das Problem für den ‚real existierenden Sozialismus’ in Europa war, dass er – im Gegensatz zur Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit, die sich ja effektiv außerhalb der Weltwirtschaft bewegt hatte und deshalb immun gegen die Weltwirtschaftskrise gewesen war – mittlerweile immer stärker in sie verwickelt wurde und daher auch nicht immun gegen die Schocks der siebziger Jahre war. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die ‚realsozialistischen’ Wirtschaften Europas, der Sowjetunion und Teile der Dritten Welt die wirklichen Opfer der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise nach dem Goldenen Zeitalter werden sollten, während die ‚entwickelten Marktwirtschaften’ die schwierigen Jahre, jedenfalls bis in die frühen neunziger Jahre, mit ein paar Erschütterungen, aber ohne existenzbedrohende Probleme überstehen konnten.“ (Hobsbawm 1995: 586).

Insofern lässt sich die These vertreten, dass der beschleunigte Niedergang des „Realsozialismus“ seit Ende der 70er Jahre auch mit der Zäsur des „Erdrutsches“ und der von ihm ausgelösten neuerlichen, neoliberalen Dynamik mehr zu tun hatte als man lange Zeit wahrzunehmen bereit war.

Die hohe Relevanz der Zäsur, die hier in Anlehnung an Hobsbawm „Erdrutsch“ genannt wurde, zeigt sich vor allem in alltagskulturellen Verschiebungen und Subjektveränderungen, die seither eingetreten sind. In den meisten europäischen Ländern hatten sich die Grundlinien der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik, des technischen Entwicklungsniveaus (sieht man vielleicht von der während des Kriegs rasant vorangetriebenen Atomwaffenforschung ab) zwischen den 30er und 40er Jahren und den 50er, teilweise 60er Jahren nicht grundlegend verändert. Trotz hoher politischer Diskontinuität, die mit dem Datum 1945 verbunden war, scheinen viele lebensweltliche Bereiche und alltägliche Verhaltensorientierungen bis ca. zwei Dekaden nach Kriegsende nicht wesentlich anders geworden.[4][4] Es scheint so, als ob der bedeutende Bruch in dieser Hinsicht erst in den 70er und 80er Jahren (auch als Folge der Studierendenbewegung, neuer Ideen der Selbstverwirklichung und alternativer Lebensformen) eingetreten ist (Siegfried 2012: 124ff.)

Die kulturellen und gesellschaftlichen Quellen dieser Veränderungen der Subjektivität, der Lebensstile und vieler bisher dahin fast unbestritten geltender Wertvorstellungen bezüglich der Lebensführung sind vielfältig und keineswegs einem einzelnen Faktor oder einer Wirklichkeitsdimension zuzuordnen.

Zum einen ist die allmähliche Neuorientierung wachsender Teile der Gesellschaft (auch) an sog. „immateriellen Werten“ (Selbstverwirklichung, Autonomie, Anerkennung andere sexuelle Orientierungen, Geschlechtergleichheit bzw. Recht auf Differenz, Leitbild der Naturerhaltung etc.) sicher nicht ohne den Umstand zu erklären, dass Mitte der 70er Jahre ein relativ hoher Wohlstand in erheblichen Teilen der Gesellschaft erreicht war und zudem bis zu diesem Zeitpunkt auch bezüglich der sozialen Sicherheit sich relativ wenige Gedanken machen mussten. Nach Deckung der wichtigsten materiellen Bedürfnisse schien der Blick auf sog. immaterielle Werte freigelegt zu sein, abgesehen davon, dass eine Reihe „neuer“ Leitbilder und Zielsetzungen auch einen gewissen Modernisierungsrückstand bzw. Fehlentwicklungen der kapitalistischen Industriegesellschaft signalisierten.

Ein weiterer wichtiger Faktor kann in dem Beginn der Umorganisierung der Arbeits- und Produktionswelt gesehen werden, wie sie spätestens seit den 80er Jahren vonstatten ging. Der Übergang von der fordistischen, tayloristisch geprägten Massenproduktion in großen, zentralistisch und streng hierarchisch geführten Unternehmen wurde seither – zumindest in Teilen – als nicht mehr zeitgemäß und produktivitätshemmend wahrgenommen. Stattdessen wurde seither in der avancierten Managementliteratur der Übergang zu „flachen Hierarchien“, dezentralen Betriebseinheiten (die teilweise gegeneinander konkurrieren), kleinen Seriengrößen (die auf Sonderwünsche der Kunden eingehen) und größeren Eigeninitiative der abhängig Beschäftigten u. ä. propagiert. Allerdings war diese neue – unterschiedlich breit und intensiv tatsächlich umgesetzte – Leitlinie keineswegs durchgängig mit tatsächlich größerer Autonomie und Wahlfreiheit seitens der Arbeitnehmer verbunden; vielmehr standen diese nunmehr noch unvermittelter unter dem „Diktat des Marktes“, den sie in viel stärkerem Maße als je zuvor zu einer Art „Eigenzwang“ zu verinnerlichen hatten. Mit der damit einhergehenden Schwächung der kollektiven Interessenrepräsentation war eine derartige Subjektivierung, Flexibilität und Individualisierung eher das Gegenteil von dem, was sich bislang mit diesen positiv besetzten Begriffen verband, nämlich der „Zwang zum Selbstzwang“, wie eine angestrebte „postfordistische Subjektivität“ aussehen sollte. „Über moderne Managementtechniken im Arbeitsalltag verankert, lösen die Freiheiten des Marktregimes einen ‚Zwang zum Selbstzwang’ aus, dessen Verinnerlichung eine an Marktrisiken gewöhnte und sie mehr oder minder aktiv bewältigende Subjektivität hervorbringt.“ (Dörre 2003: 27).

Damit ist zugleich angedeutet, dass angebliche Anerkennung der Subjektivität der Arbeitenden und im Arbeitsprozess samt höherer Eigenverantwortlichkeit, Autonomie und Flexibilität unter kapitalistischen Bedingungen stets von objektiven, anonymen Marktzwängen, die nicht weniger drückend und bedrohlich wirken als je zuvor, überformt bleibt.

Dennoch spielt diese Schein-Autonomie und Quasi-Individualität eine große Rolle in der Akzeptanz des kapitalistischen Regimes sowie für manche politische und kulturelle Strömungen (Stimmungen) jenseits der Sphäre der Produktion und Reproduktion. Die erhöhte Tendenzen zur Herausbildung „außengeleiteter“ Charaktere (um eine alten Ausdruck von David Riesman einmal aufzunehmen) und die Neigung zu einer permanenten Selbstdarstellung und Selbstinszenierung wird geradezu eingebläut, ständig vorexerziert und fast zur zweiten Natur. Ohne die ständige Selbstvermarktung eines zukünftigen oder faktischen Arbeitnehmers, der sich als neuer Typus des „Arbeitskraftunternehmers“ (im Sinne von Voß und Pongratz) zu verstehen hat, scheint eine lebensweltliches, privates und berufliches Scheitern fast vorprogrammiert zu sein. Ohne diese generelle Disposition, sich überall und jedem im besten Licht zu „präsentieren“ und sich dem „Zeitgeist“ gerecht zu bewegen und zu artikulieren, wären viele öffentliche Auftritte von ansonsten „mausgrauen“ Personen in TV-Shows, Wettbewerben, Casting-Veranstaltungen, die unzähligen Nachwuchs-Model Wettbewerbe, exzentrische Auftritte und digitales Aussenden intimer Fotos und vieles andere mehr gar nicht zu verstehen.[5][5]

Ein dritter Determinationsfaktor dieser Individualisierungs- und Subjektivierungstendenz ist mit der grandiosen Erhöhung der Produktivität der Produktion und der enormen Ausweitung des Dienstleistungssektors verbunden. Kultur, Freizeit, Forschung, Bildung, Reproduktionsarbeit, Pflege, Gesundheitswesen etc. sind Sektoren geworden, die quantitativ wie qualitativ an Bedeutung enorm zugenommen haben. Damit sind neue Berufe, neue Aufgabenprofile und Arbeitsanforderungen entstanden, die zum großen Teil höhere Qualifikationen und „größere Subjektpotenziale der Beschäftigten“ (L. Peter) mit sich führen. Dies gilt sowohl für die materielle Produktion wie für die mit den produktionsbezogenen Dienstleistungen, aber auch für solche Dienstleistungen, die dem Produktionsprozess relativ fern stehen. „Auch der Dienstleistungssektor, der ja bereits heute in Deutschland circa 65% der Erwerbstätigen beschäftigt, umfasst Tätigkeiten und Arbeitssituationen, in denen das Subjektivitätspotenzial der Arbeit hoch oder sehr hoch ist. Das lässt sich unter anderem daran ablesen, dass gerade Tätigkeitstypen wie Forschung und Entwicklung, Organisation und Management und vor allem Betreuen, Beraten und Lehren, die sich in der Regel durch ein hohes, nicht selten akademisches Qualifikationsniveau auszeichnen, teilweise spektakuläre Beschäftigtenzuwächse aufweisen.“ (Peter 2003: 176).

Alles in allem kann m.E. die These vertreten werden, dass diese Entfaltung neuer Sozialcharaktere und Persönlichkeitsstrukturen in einer nach wie vor klassengespaltenen und hierarchisch geprägten Gesellschaft nicht um 1945 oder in den 50er Jahren sich abgezeichnet hat, und umgekehrt diese Tendenzen um 1989/91 schon längst im Gange waren. Ihre Inkubationszeit – darauf deuten viele Indikatoren hin – ist auf das Ende der 60er und die 70er Jahre zu veranschlagen, also auf jene hier in Anlehnung an Hobsbawm „Erdrutsch“ bezeichnete Zäsur, die „normalerweise“ als weniger entscheidend als die Zäsur von 1945 und jene von 1989/91 angesehen wird.

IV.

Die Art der Wahrnehmung von historischen Zäsuren und die Auslotung von deren jeweiliger Tiefe und Reichweite können sich, wie eingangs bemerkt, im Zeitverlauf und im Rückblick verschieben. Manche von Zeitgenossen bzw. kontemporär als tiefe Zäsuren empfundenen historischen Einschnitte werden nicht selten im Laufe der Zeit blasser und relativieren sich.

Dies muss nicht nur mit der größeren Zeitferne und der abnehmenden Erinnerung zu tun haben. Auch die Bewertung von einzelnen Entwicklungssträngen mit größeren (oder geringeren) Entfaltungspotenzialen kann sich im Lichte des Gewordenen ändern. Andere Zäsuren wiederum, gerade wenn sich der Übergang eher schleichend-graduell vollzieht und an keinem herausragenden Ereignis festmachbar ist, können nach einer gewissen Dauer als einschneidender als zuvor wahrgenommen werden. Vielleicht gehört der „Erdrutsch“ der 70er Jahre zu der Kategorie der Letzteren.

In der aktuellen zeithistorischen Forschung und Reflexion mehren sich die Stimmen derer, die fragen, „ob und inwieweit die 1970er Jahre als zunächst unterschätzte strukturelle Zäsur als Vorgeschichte gegenwärtiger Problemlagen und damit als Auftakt einer Epoche einzustufen seien“ (Freytag 2009: 1). Die damaligen zeitgenössischen Versuche dagegen, wie z.B. die von Jürgen Habermas Ende der 70er Jahre unter dem philosophiehistorisch vorbelasteten und vollmundigen Titel „Stichworte zu ‚Geistigen Situation der Zeit’“ herausgegebenen zwei Bände[6][6] zeichnen sich aus heutiger Sicht durch weitgehende Ratlosigkeit und Unverständnis gegenüber den vor den Augen der AutorInnen beginnenden bzw. sich vollziehenden Strukturumbrüche aus (Jarausch 2006:1)

Literatur

Andersen, Arne (1999): Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt/M./New York

Becker, Joachim (2009): Anatomie der Sozialismen. Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, in: Ders. und R. Weissenbächer (Hg.): Sozialismen. Entwicklungsmodelle von Lenin bis Nyerere, Wien, S. 13-56

Deppe, Frank (2006): Politisches Denken im Kalten Krieg. Teil 1: Die Konfrontation der Systeme (Band 3), Hamburg

Dörre, Klaus (2003): Das flexibel-marktzentrierte Produktionsmodell – Gravitationszentrum eines ‚neuen Kapitalismus’?, in: Ders. und Bernd Röttger (Hg.): Das neue Marktregime, Konturen eines nachfordistischen Produktionsmodells, Hamburg, S. 7-34

Freytag, Nils (2009): Rezension zu Jarausch, Konrad (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, in: H-Soz-u-Kult, 26.03 2009, >htto://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezeniso/2009-1-248>

Hirsch, Joachim/Roland Roth (1986): Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Post-Fordismus, Hamburg

Hirsch, Joachim (1995): Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, Berlin-Amsterdam

Hobsbawm, Eric J. (1995): Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/ Wien

Jarausch, Konrad H. (2006): Krise oder Aufbruch? Historische Annäherungen an die 1970er Jahre, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3(2006) H. 3, URL: <http:/www.zeithistorische forschungen.de/16126041-Jarausch-3-2006>

Koselleck, Reinhart (1989): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M.

Koselleck, Reinhart (2003/2013, 3. Aufl.): Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M.

Lutz, Burkart (1984/89): Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/New York

Peter, Lothar (2003): Postfordismus, Deformation von Arbeitssubjektivität und Arbeitssucht, in: Dörre, K./B. Röttger (Hg.): Das neue Marktregime, Hamburg, S. 172-188

Reißig, Rolf (2014): Transformation – ein spezifischer Typ sozialen Wandels. Ein analytischer und sozialtheoretischer Entwurf, in: Brie, Michael (Hg.): Futuring, Münster, S. 50-100

Sabrow, Martin ( 2013) Zäsuren in der Zeitgeschichte, Version:1.o, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 3.6.2013, URL:http://docupedia.de/zg/

Siebold, Angela (2014): 1989 – eine Zäsur von globaler Reichweite?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 64. Jg, H. 24-26/2014, S. 3-9

Siegfried, Deflef (2012): Die Entpolitisierung des Privaten. Subjektkonstruktionen im alternativen Milieu, in: Frei, N. und D. Süß (Hg.): Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen, S. 124-139

Streeck, Wolfgang (2005): Vom ‚kurzen Traum’ zum langen Alptraum?, Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung, Working Paper 05/5 Juni 2005 (Vortrag anlässlich des 80. Geburtstags von Burkhart Lutz, Halle 27. Mai 2005)

[1][7] Siehe hierzu z.B. Sabrow 2013: 7.

[2][8] Auch da, wo der „Faktor Zeit“ in heutigen Transformationsprozessen sehr knapp und marginal angesprochen wird, geschieht dies nicht im Sinne von gleichzeitigen und unterschiedlichen „Zeitschichten“, sondern im Vergleich zu früheren lang andauernden Transformationsprozessen (Reißig 2014: 88).

[3][9] Was natürlich nicht ausschließt, dass seitens einiger Länder/Regionen bedeutende Aufholprozesse gegenüber den westlichen Metropolen realisiert wurden (Südkorea, Taiwan, VR China etc.).

[4][10] Es wäre allerdings zu untersuchen, ob und inwieweit die außergewöhnliche und dauerhafte Konsumsteigerung während der ersten beiden Dekaden nach Kriegsende nicht auch zu gewissen lebensweltlichen Neuerungen geführt hat (z.B. in Bezug auf Teilnahme an touristischen Veranstaltungen). Siehe hierzu beispielsweise: Andersen 1999: 176ff.

[5][11] Ein Beispiel für diese angedeutete Zeitströmung permanenter öffentlicher Selbstinszenierung bilden die über Wochen sich hinziehenden Abiturientenfeiern und karnevalsähnlichen Umzüge. Je weniger relevant das Abitur wird (mittlerweile macht jeder zweite eines Jahrgangs diesen Abschluss), umso dröhnender und scheinbar zukunftsgewisser wird dieses „Ereignis“ gefeiert. „Die immer aufwendiger werdenden Abiturfeiern lassen ahnen, worum es geht. Die glanzvolle Choreographie zur suggerierten Statusantizipation, einer Ankunft im Erfolg, umspielt das Geheimnis opulenter Selbstdarstellung im Smoking und Abendkleid.“ (FAZ v. 27. August 2014)

[6][12] Frankfurt/M. 1979

Links:

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  5. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.defile:///C:/Users/Gerd/Documents/Z-Redaktion/Z%20100/End_word/04%20Z100%20Boris%20end%20f%C3%BCr%20pdf%2006-11-14.doc#_ftn5
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  12. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.defile:///C:/Users/Gerd/Documents/Z-Redaktion/Z%20100/End_word/04%20Z100%20Boris%20end%20f%C3%BCr%20pdf%2006-11-14.doc#_ftnref6