Verschiebungen im Weltsystem I

Imperialismus und Antiimperialismus - Begriff und Aktualität

Dezember 2010

Um den Begriff des Imperialismus, seinen Gegenstand und seine Reichweite wurde seit je gestritten. Bezeichnet „Imperialismus“ eine vergangene Epoche oder „das höchste Stadium des Kapitalismus“ (Lenin)? Ist er der Oberbegriff, der die Gemeinsamkeiten von formellem Kolonialismus und informeller Halbkolonialisierung als Herrschaftsweisen der kapitalistischen Metropolen über den globalen Süden bezeichnet oder ein Begriff der in erster Linie ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Zentren beschreibt? Ist „imperialistisch“ eine bestimmte (kriegerische) Politik, das Gesamt einer Vielzahl ökonomischer Verhältnisse oder beides? Ist er Krisenbewältigung oder Ausdruck von Prosperität? Soll überakkumuliertes Kapital exportiert oder sollen Rohstoffquellen erschlossen werden? Ein Begriff von dem Antworten auf so viele – teils konträre – Fragen erwartet werden, steht nicht zu Unrecht im Verdacht zerfasert und verbraucht zu sein (vgl. etwa Harvey 2005, S. 33, Panitch 2002, S. 79). Will man am Begriff „Imperialismus“ zur Analyse gegenwärtiger Verhältnisse festhalten, steht man tatsächlich in der Pflicht zu klarer Definition und präziser Gegenstandsbestimmung.

Was ist eigentlich Imperialismus? Ein Definitionsversuch

Die zentralen Werke, die in einer „ersten Welle“ imperialismustheoretischer Analysen vor und während des ersten Weltkriegs – eine zweite folgte in der von der Dekolonisierung bei gleichzeitiger Reorganisation eines nunmehr durch die USA dominierten Weltkapitalismus geprägten Prosperitätsphase nach 1945 – entstanden, wurden von ihren Autoren (unter ihnen John A. Hobson, Rudolf Hilferding, Karl Kautsky, Vladimir Iljitsch Lenin, Rosa Luxemburg und Nikolai Bucharin) als umfassende Zeitdiagnosen verfasst. Der Terminus „Imperialismus“, der zunächst als an Rom gemahnendes historistisches Ornament einer ausgreifenden Kolonialpolitik durch die politische Rhetorik geisterte, sollte als gleichermaßen politisch wie ökonomisch gefüllter, umfassender Periodisierungsbegriff für ein bestimmtes Stadium des Kapitalismus etabliert werden. Wer heute von „Imperialismus“ spricht, muss in gewisser Weise bescheidener werden. Die Veränderungen des Kapitalismus in den vergangenen hundert Jahren, einschließlich seiner häufig als „Globalisierung“ gefassten weltweiten Ausdehnung und den Verschiebungen der Funktion von Nationalstaaten, sind zu gewaltig als dass ein Begriff, der vor und während des ersten Weltkriegs eine umfassende Zeitdiagnose zu sein beanspruchte, noch heute den gleichen Anspruch geltend machen kann. Was den Beiträgen zu einer spätestens mit den Anschlägen von New York und Washington sowie den auf sie folgenden Kriegen einsetzenden „dritten Welle“ von Imperialismusanalysen – sieht man von wenigen Ausnahmen wie dem Band „Empire“ von Michael Hardt und Antonio Negri ab (2002) – gemeinsam ist, ist nicht zuletzt, dass sie die Aktualität des Imperialismusbegriffs gerade dadurch zu behaupten suchen, dass sie ihn als Periodisierungsbegriff endgültig verabschieden. Begriffe wie Fordismus und Finanzmarktkapitalismus haben „Imperialismus“ als Epochenbezeichnung abgelöst. Wenn sie dennoch nicht in der Lage sind, den Imperialismusbegriff zu ersetzen, so deshalb, weil auch weiterhin eine staatlich organisierte Expansion des Kapitalismus, die Exploitation weltweiter Rohstoffquellen durch die kapitalistischen Metropolen, kriegerische Absicherungen von Verwertungsbedingungen und territorial ausgreifende Krisenbewältungsstrategien zu beobachten sind, die 1914 wie heute Ausgangspunkt jedweder (marxistischen) Imperialismustheorie waren und sind. Fragt man nach einer Definition des Imperialismusbegriffs, die einerseits scharf genug ist, das allen historischen Phasen imperialistischer Politik gemeinsame herauszustellen, andererseits „flexibel“ genug bleibt, um Verschiebungen im weltweiten Kapitalismus (den bislang geschehenen wie den kommenden) gegenüber offen zu bleiben, so ließe sich antworten: Imperialismus ist die offene oder latente Gewaltpolitik zur externen Absicherung eines internen Regimes (vgl. Deppe u.a. 2004, S. 17). Dieser Definitionsvorschlag enthält einige weitreichende Prämissen:

● „Imperialismus“ ist – weit davon entfernt eine Epoche oder gar das höchste Stadium des Kapitalismus zu sein – ein Begriff, der eine bestimmte Politik bezeichnet. Als Gewaltpolitik, die ein internes Regime extern absichern soll, können nur Staaten, die auch in der Lage sind das nötige Gewaltpotential aufzubieten, imperialistische Akteure sein. Der kapitalistische Staat, dessen ausgreifende Expansionsdynamik sich von den Eroberungsfeldzügen etwa des alten Roms unterscheiden lässt, spielt tatsächlich eine Schlüsselrolle für die Etablierung und Aufrechterhaltung des Weltmarkts2. Unter dem Schutz dieser eigentlich imperialistischen, staatlichen Akteure agieren freilich zahlreiche weitere Akteure, ohne die Imperialismus im modernen Sinn nicht denkbar ist, deren Handeln jedoch unter den Bedingungen kapitalistischen Privateigentums nicht restlos durch politische Entscheidungen steuerbar ist (vgl. Harvey 2005, S. 35). Diese Akteure handeln ihrerseits allerdings keineswegs willkürlich. Zum einen können sie nur aufgrund des Regimes handeln, das der Imperialismus absichern soll, zum anderen handeln sie sowohl in den vorgegebenen Bahnen einer kapitalistischen Akkumulationslogik als auch innerhalb des regulatorischen Rahmens, den staatliche Politik ihnen setzt. Als Teil der (herrschenden) Klassen in diesen Staaten (sei es in Form einer nationalen oder einer „inneren“ Bourgeoisie) sind sie zudem nicht außerhalb des Staates angesiedelt, sondern selbst Teil der Kräfteverhältnisse, deren Verdichtung der Staat ist (Nicos Poulantzas).

● „Imperialismus“ ist ein Begriff, der die kapitalistische Logik der Kapitalakkumulation voraussetzt. Das interne Regime, das es nach außen abzusichern gilt, ist in erster Linie ein ökonomisches Regime. Auch wenn, wie Harvey betont, politische Entscheidungen meistens nicht unmittelbar auf die Akkumulationsbedürfnisse einzelner Unternehmen oder Kapitalfraktionen reduzierbar sind (vgl. Harvey 2005, S. 36), setzt die Akkumulationslogik dem Handeln kapitalistischer Staaten doch „in letzter Instanz“ Schranken. Kapitalistische Ökonomie und politische Entscheidungsprozesse in kapitalistischen Staaten sind daher nur relativ autonom, d.h. nur im Verhältnis zueinander analysierbar. Imperialismus ist folglich kein rein politisches Phänomen, sondern stets fundiert auf und somit auch konstituiert durch ökonomische Herrschaftsformen, die in der Gegenwart transnational über den Weltmarkt (Transnationale Konzerne) und vor allem die Weltfinanzmärkte – z. B. die Rolle des US-Dollar bzw. das „Dollar-Wall-Street-Regime“ (Peter Gowan) – wirken. „Die Beziehung zwischen [...] beiden Logiken sollte [...] als problematisch und oft widersprüchlich (also dialektisch) angesehen werden statt als funktionell oder einseitig.“ (Harvey 2005, S. 37) Doch mit dem Verweis auf die Interdependenz und Irreduzibilität beider Machtlogiken ist noch nicht alles gesagt: Gewaltpolitik und Akkumulationsdynamik allein begründen noch keinen Imperialismus. Erst wenn man sich vergegenwärtigt, dass sowohl Staaten und staatliche Politik als auch Unternehmen und deren Akkumulationsbedingungen sich nicht in einem historisch und geographisch unbestimmten Raum bewegen, ist Imperialismus als dreistelliges Verhältnis von (offener oder latenter, manifester oder struktureller) Gewaltpolitik, Kapitalakkumulation und historischer Räumlichkeit – ohne die eine externe Absicherung interner Regimes schon begrifflich nicht möglich wäre – beschreibbar.

Imperialismus hat stets eine historisch-geographische Dimension: Den räumlichen Ausgriff, das Bestreben periphere Territorien vom Zentrum aus zu kontrollieren, hat der moderne kapitalistische Imperialismus als Gewaltpolitik mit vorhergehenden Formen von „Reichen“ und „Imperien“ gemein. Wie David Harvey herausarbeitet entsteht dieser Imperialismus jedoch erst im Zusammenspiel von politisch-territorialer und kapitalistischer Machtlogik im historischen Raum3: „Geographical space is always the realm of the concrete and the particular“, stellt Harvey (2001, S. 327) in seinem Band „Spaces of Capital“ fest und fragt: „Is it possible to construct a theory of the concrete and particular in the context of the universal and abstract determinations of Marx’s theory of capitalist accumulation?“ Diese Frage ließe sich auch folgendermaßen paraphrasieren: Welche konkrete und besondere Form nehmen Geographie und „Geopolitik“ unter den Geltungsbedingungen kapitalistischer Profitökonomie an? Harvey schreibt hierzu an anderer Stelle: „Zu einem bestimmten Zeitpunkt erzeugt das Kapital notwendigerweise eine physische Landschaft nach seinem Ebenbild, nur um sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder zerstören zu müssen, da es räumliche Expansionen und temporäre Verschiebungen zur Lösung der Überakkumulationskrisen verfolgt, zu denen es regelmäßig neigt. Dies ist die Geschichte der ‚schöpferischen Zerstörung’ (mit all ihren Konsequenzen im Sozial- und Umweltbereich), die in die Entwicklung der physischen und sozialen Landschaft des Kapitalismus eingeschrieben ist.“ (Harvey 2004, S. 186) Die raum-zeitlichen Bindungen (spatio-temporal-fixes), die das Kapital nach Harvey eingeht, sind folglich nicht unumkehrbar: Kapitalistische Entwicklung vollzieht sich gerade im permanenten Wechsel von „Inwertsetzungen“ und „Außerwertsetzung“, Einschluss und Ausschluss – wobei das heute ausgeschlossene morgen erneut zum Objekt einer – inneren oder äußeren – „Landnahme“ werden kann (vgl. hierzu auch Dörre 2009). Im Imperialismus finden somit eine historisch und nicht geographisch-deterministisch gefasste Geopolitik und die räumliche Dimension der kapitalistischen Logik zusammen. Gerade dies erklärt, warum er weit eher ein Aspekt bürgerlich-kapitalistischer Weltgesellschaft ist als ein „Stadium des Kapitalismus“.

Anforderungen an einen zeitgemäßen Antiimperialismus

„Imperialismus“ war von Anbeginn kein bloß analytischer, sondern zugleich ein politischer Begriff: Wo er wissenschaftlich ausgearbeitet wurde, war eine antiimperialistische Politik als normatives Ziel bereits impliziert. So gut wie alle historischen Imperialismustheorien wollten im Kontext ihrer Zeitanalysen politische Strategien begründen, die pazifistisch-reformorientierte (Hobson), sozialistisch-„ökonomistische“ (Hilferding, Kautsky) oder revolutionär-kommunistische (Luxemburg, Bucharin, Lenin) Alternativen zum status quo versprachen: Der Imperialismus sollte nicht bloß verstanden, sondern zugleich delegitimiert und überwunden werden. Diesen kritischen Bemühungen stand freilich ein breites Spektrum von Legitimationsideologien für imperialistische Politik gegenüber: „Wie alle anderen politischen Formationen sind auch Imperien auf Rechtfertigungen aus, um zustimmende oder passive Gefolgschaften und Konsens im imperialen Elitenkörper zu organisieren. Dazu setzen sie [...] in aller Regel auf moralpolitische (und dabei oft auch angesichts ihrer Selbstverortung in der Zeit – nämlich ‚ewige’, zumindest langfristige Projekte zu sein – manichäistische) gegründete Unterscheidungen: sie sind ‚gute’ (‚benign’) Unternehmungen und legen deshalb deutlich fest, wo Grenzen zu ziehen sind: gegenüber dem ‚Außen’ oder dem ‚Bösen’, dessen Entstehung oder Entwicklung (z.B. zum Hegemonialkonkurrenten) es gegebenenfalls auch durch massive Interventionen zu verhindern gelte.“ (Rilling 2008, S. 38f.) Die Rechtfertigungsstrategien für imperiale und imperialistische Politik variieren stark, je nachdem, ob es sich um Phasen stabiler Hegemonie, um Hegemoniekrisen oder gar um Perioden der zwischenimperialistischen Rivalität handelt. Wie Rilling zu Recht hervorhebt handelt es sich hierbei häufig um moralphilosophische Weltordnungsvorstellungen, woraus freilich nicht abgeleitet werden kann, jedwede moralphilosophische Weltordnungsvorstellung sei imperialistisch. Im Kern geht es hierbei – der vorgeschlagenen Definition von „Imperialismus“ entsprechend – um die Legitimierung einer manifesten oder latenten Gewaltpolitik, die ein internes (ökonomisches) Regime extern absichern soll. Moderner – also kapitalistischer – Imperialismus zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass die ihn legitimierenden Rechtfertigungsmuster den klassisch bürgerlichen Antagonismus von Eigeninteresse und Menschheitsinteresse reproduzieren und dabei zwischen Partikularismus und Universalismus oszillieren. Dabei lassen sich insbesondere zwei Typen von Rechtfertigungsmustern ausmachen, die an ihrem historischen Ort oftmals aufs Engste verwoben auftreten. Der erste Typus argumentiert von den Zentren aus: Vom Reichkanzler Bülow („Wir brauchen auch einen Platz an der Sonne“) bis zu Peter Struck („Deutschland wird heute am Hindukusch verteidigt“) wurden stets eigene Anliegen der Metropolen artikuliert, wenn es darum ging koloniale Eroberungen oder „auswärtiges Engagement“ zu begründen und zu rechtfertigen. Rechtfertigungsmuster des zweiten Typus hingegen argumentieren von der Peripherie her: Von Rudyard Kipling („The White Man’s Burden“) bis zu Joseph Fischer im Kosovokrieg („Ich habe zwar ‚nie wieder Krieg’ gelernt, aber auch ‚Nie wieder Auschwitz“) begleiteten auch solche Argumente imperialistische Bestrebungen, die für sich in Anspruch nahmen, die eroberten und bekriegten Bevölkerungen zur Zivilisation erziehen oder von ortsansässigen Tyrannen befreien zu wollen. Dabei wurde die Kritik an solchen universalistisch begründeten Kriegen niemals ausschließlich von links formuliert. Es zieht sich vom Burkeschen Konservatismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts eine konservativ-partikularistische Traditionslinie bis zum isolationistischen Paläokonservatismus eines Patrick J. Buchanan, der die „Neocons“ und den „War On Terror“ wie folgt kritisierte: „[Bush] had also begun to describe the war on terror in moral terms, calling our enemies ‚evildoers‘ and ‚the evil ones‘ (…). For Bush, terrorists constituted not a conspiracy or a criminal gang but the very embodiment of evil (…). [But], the Wilsonian rhetoric aside, America had never gone to war for any such gauzy goal as a ‘just peace … that favors human liberty.’ American wars were fought for American ends.” (Buchanan 2004, 17 u. 20)

Insbesondere jene Rechtfertigungsmuster, die nicht in einem stumpfen Chauvinismus verharren, sondern vorgeben eine universalistische Weltmission zu verfolgen, stellen antiimperialistische Theorie und Praxis vor Herausforderungen. Der kapitalistische Imperialismus ist eben – anders lautenden Thesen etwa von Joseph Schumpeter zum trotz – kein atavistisches Phänomen und kein Relikt aus grauer Vorzeit, sondern entsteht aus dem widersprüchlichen Zusammenhang von ökonomischer und politisch-territorialer Logik (vgl. Deppe u.a. 2004, S. 119). Auch ideologisch bewegt er sich im Horizont des das bürgerliche Denken seit je kennzeichnenden Antagonismus von Partikularinteresse und Menschheitsuniversalismus. Antiimperialistische Kritik mit emanzipatorischem Anspruch steht daher in einer dreifachen Verantwortung: Weder darf sie den von der bürgerlichen Aufklärung formulierten Menschheitsuniversalismus hinterschreiten, noch den universalistisch verbrämten Rechtfertigungsstrategien partikularer Verwertungsinteressen auf den Leim gehen. Zudem muss sie sich, will sie als politische Kritik praxisleitend sein und realen Einfluss gewinnen, im realen politischen und ökonomischen Raum behaupten. „Theoretische und praktische Kritik des Imperialismus entsteht aus dem Begriff und der Erfahrung der Widersprüche selbst, die die Expansion des Kapitalismus sowie die Politik des Imperialismus produzieren und reproduzieren.“ (Deppe u.a. 2004, S. 131) Im Umgang mit diesen Widersprüchen gilt es sowohl einen die Entwicklungstendenzen der Gegenwart ignorierenden Normativismus und Utopismus zu vermeiden als auch eine von tagespolitischen Kurzschlüssen geleitete Taktiererei, die jenseits einer strategischen und programmatischen Emanzipationsperspektive nichts anderes hervorbringt als Floskeln á la „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Bündnispolitik und Arbeit an gegenhegemonialen Blöcken muss stets mehr sein als die bloße Sammlung von beliebigen oppositionellen Kräften. Eine strategiefähige Alternative entsteht nur durch programmatische Arbeit, die auch Grenzen der Bündnisfähigkeit zu reflektieren hat. So wie es seit den Anfängen bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung reaktionäre Formen von Antikapitalismus gibt, die nicht über bürgerliche Herrschaft hinaus, sondern hinter sie zurück wollen, lassen sich auch bezogen auf imperialistische Politik oppositionelle Ideologien und Praxen ausfindig machen, die bestenfalls auf den ersten Blick als wünschenswerte Alternative zur imperialistischen Herrschaft erscheinen mögen. Tatsächlich lassen sich mindestens vier Varianten mehr oder weniger antiimperialistischer Programmatiken rekonstruieren, die im Folgenden an schlaglichtartigen Beispielen verdeutlicht werden sollen.

Typen des Antiimperialismus

● „Antiimperialismus“ als rhetorische Legitimationsideologie für alternative imperiale Projekte: In seiner 1939 verfassten Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ polemisiert der „Kronjurist des Dritten Reiches“, Carl Schmitt, scharf gegen den „kapitalistischen Imperialismus“ der USA unter Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson. Schmitts Vorwurf richtet sich insbesondere an Wilsons Ableitung eines „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ aus dem Interventionsverbot der Monroe-Doktrin von 1812: „Die Universalisierung der Monroedoktrin durch Roosevelt und Wilson [...] war die Verfälschung eines echten Großraumprinzips der Nichtintervention zu einem grenzenlosen Interventionismus. Der Moment, in dem diese Universalisierung in aller Form amtlich verkündet wurde, die [...] Botschaft des Präsidenten Wilson vom 22. Januar 1917, bezeichnet auch von dieser Seite her die Stelle, an der sich die Politik der Vereinigten Staaten von ihrem Heimatboden abwendet und mit dem Welt- und Menschheitsimperialismus des britischen Empire ein Bündnis eingeht.“ (Schmitt 1995, S. 290f.)

Carl Schmitt stellt somit jene Elemente eines „ethischen Imperialismus“ ins Zentrum seines „Antiimperialismus“, mit denen die angelsächsischen Imperien – das absteigende wie das aufsteigende – einen fragilen Kompromiss zwischen partikularem Herrschaftsinteresse und bürgerlichem Universalismus zu schließen versprachen. Dass gerade die solcherart gegeißelten amerikanischen Rechtfertigungsideologien ihrerseits vom Mythos zehrten, mit dem imperialistisch-europäischen Herrschaftsanspruch ein für allemal Schluss zu machen, gehört fraglos zu den Ironien imperialistischer Legitimationsversuche: Spiegelbildlich (also verkehrt) zum angelsächsischen Selbstbild des großen Weltvereinigers, mobilisiert Schmitt das Bild des deutschen Reichs als dem großen Weltaufteiler (wir befinden uns im Jahr 1941, der Kriegseintritt der USA ist ahnbar, der Nazi-Überfall auf die Sowjetunion wird vorbereitet). Nicht zufällig trägt Schmitts Schrift, die „den Führer“ ausgiebig zitiert, den Untertitel „Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht“. „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ zitiert Schmitt (2009, S. 51) an anderer Stelle Proudhon. Sein Plädoyer für das Reich als Garanten einer stabilen „Großraumordnung“ gegen das ausgreifende, universalistische „Empire“ ist der Versuch, dem aggressiven Naziimperialismus dadurch ein ungestörtes Aktionsfeld zu organisieren, dass mit jeder moralistischen Legitimationsstrategie imperialer Projekte auch der bürgerliche Rechtsbegriff entsorgt wird. Für Schmitt soll Völkerrecht lediglich das Recht von „Reichen“ sein, in ihren Großräumen zu tun und zu lassen, was immer sie wollen. Schmitts „Antiimperialismus“ ist folglich nichts anderes, als die offen partikularistische Legitimation eines besonders reaktionären Imperialismus.

Antiimperialismus als partikularistisches Herrschaftsprojekt oder identitätspolitischer Kulturrelativismus: Im September 1996 stürmten Taliban, die seinerzeit aufsteigende Fraktion im afghanischen Bürgerkrieg, die UN-Vertretung in Kabul, ermordeten den dort seit vier Jahren lebenden ehemaligen afghanischen Präsidenten Mohammad Nadjibullah und schändeten seinen Leichnahm öffentlich. Der Sieg der islamistischen Modjahedin, aus deren Fraktionskämpfen schließlich der vorläufige Triumph der Taliban hervorging, ist fraglos nicht rein endogen aus den Verhältnissen der afghanischen Gesellschaft selbst zu erklären. Bereits im Vorfeld der sowjetischen Militärintervention hatte der Geheimdienst der Vereinigten Staaten damit begonnen, die sich gegen die Kabuler Revolutionsregierung formierenden Bewegungen zu unterstützen. Der Sicherheitsberater der Administration unter Jimmy Carter, Zbginiew Brzezinski, erklärte dazu im Jahr 1998: „Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir haben die Möglichkeit, dass sie es tun, wissentlich erhöht.“ (zit. n. Baraki 2002, S. 137) Afghanistan, das bereits im 19. Jahrhundert die Begehrlichkeiten des britischen Imperialismus geweckt hatte, wurde somit in den achtziger Jahren zum Schauplatz eines klassischen Stellvertreterkrieges, in dem die USA ein doppeltes Ziel verfolgten: Zum einen ging es um die Schwächung der UdSSR, die mit ihrem Militärengagement die Regierung Karmal unterstützte, zum anderen um das eigene geostrategische Interesse, den Einfluss der USA auf dem „Eurasischen Schachbrett“ (vgl. Brzezinski 2003, S. 16) zu vergrößern: „Ein mit den USA und Pakistan eng kooperierendes Regime in Afghanistan sollte stabile politische Verhältnisse schaffen, um die Konzeption des US- und des pakistanischen Kapitals in der Region des Mittleren Ostens – insbesondere in den mittelasiatischen Republiken – zu realisieren.“ (Baraki 2002, S. 140) Allein, den Modjahedin gelang ein solches Stabilisierungsprojekt ebensowenig wie später den Taliban, die „trotz der territorialen Ausdehnung ihrer Herrschaft nicht die Bedingungen schaffen“ konnten, „um die Realisierung der ökonomischen Vorhaben ihrer Mentoren zu gewährleisten.“ (Baraki 2002, S. 143) Der Charakter dieser Herrschaft ist bekannt: Ein strenges Bilderverbot, das moderne Informationsmedien wie das Fernsehen verbot, der Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben, Steinigungen und Verstümmelungen als Strafe etwa auf Ehebruch und Diebstahl etc. pp. – In zahlreichen Aspekten dieser religiös begründeten Terrorpolitik unterschieden sich freilich die Taliban nur graduell von jenen Modjahedin-Fraktionen, die auch nach dem 11. September 2001 Alliierte des Westens blieben, nun Verbündete im Krieg gegen das Talibanregime.

Das Beispiel Afghanistan macht deutlich, wie schmal mitunter der Grad ist, der Erfüllungsgehilfen des westlichen Imperialismus von seinen Feinden trennt. So gilt das Haus Saud mit seinem wahabitischen Terrorregime als wichtiger Verbündeter der USA und nimmt seinem Mentor mitunter auch die schmutziger Folterarbeit ab, während das Mullahregime im Iran, das den Schah durchaus beerbte, was etwa das Abschlachten von Kommunisten betrifft, kein gesteigertes Interesse zeigte, das Bündnis seines Vorgängers mit dem Westen zu erneuern. Denkt man jedoch an Ereignisse wie die Iran-Krontra-Affäre wird deutlich, dass der militanten antiamerikanischen Rhetorik der Mullahs keineswegs immer eine konsequente Praxis entsprach. Der Imperialismus stützt sich auf solche Regime, wenn er Elemente seiner Gewaltpolitik an sie delegieren kann und sie ihm auch sonst aus taktischen Gründen gewogen sind und bekämpft sie, wenn sie seine Interessen konterkarieren oder die erhoffte Stabilität nicht garantieren können. Solche „Konstellationen der Barbarei“, in denen Imperialismus und partikularistische Identitätspolitik sich – bald im Bündnis miteinander, bald im blutigen Kampf gegeneinander – bei der Entfesselung von Gewalt hochschaukeln (vgl. Deppe u.a. 2004, S. 147), vermögen keine Perspektive hervorzubringen, die ein emanzipatorischer Antiimperialismus begrüßen könnte.

Liberaler Antiimperialismus als Kritik eines aggressiven Entwicklungspfads: Das Spannungsfeld zwischen dem im 18. Jahrhundert verbreiteten Kosmopolitismus und den nationalen Entwicklungspfaden, in denen sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft im 19. Jahrhundert konsolidierte, wird insbesondere von John A. Hobson zum Problemkontext sowohl seiner Imperialismustheorie als auch des von ihm formulierten liberaldemokratischen Antiimperialismus. Für Hobson ist der „Nationalismus [...] ein gerader Weg zum Internationalismus, und wo er von dieser Richtung abweicht, dürfen wir ihn einer Pervertierung seiner Natur und seines Zwecks verdächtigen. Eine derartige Perversion ist der Imperialismus, bei dem [...] Nationen die gesunde, anregende Rivalität verschiedener nationaler Typen in einen mörderischen Kampf konkurrierender Imperien verwandeln.“ (Hobson 1968, S. 37) Damit präfiguriert Hobson die Unterscheidung von Nationalismus und imperialistischen Chauvinismus, die später ein zentrales Argument in der antiimperialistischen Argumentation Hannah Arendts sein wird. Auch für Arendt ist der (klassische) Imperialismus eine Form der Herrschaft, die „den politischen Körper des Nationalstaates nur zerstören konnte“ (Arendt 2001, S. 289), sein „eigentliches Ziel [...] die Ausdehnung des politischen Machtbereichs ohne eine ihr entsprechende Neugründung.“ (Arendt 2001, S. 308) Arendts Analyse endet in der berühmen These vom „Niedergang des Nationalstaates und d[em] Ende der Menschenrechte“ (Arendt 2001, S. 559). Es mag durchaus zweifelhaft sein, ob auf die Französische Revolution – zumindest auf ihre jakobinische Phase – zutrifft, dass sie „die Menschheit als eine Familie von Nationen begriff“ und sich damit ihr „Begriff des Menschen, der den Menschenrechten zugrunde lag, nach dem Volk und nicht nach dem Individuum“ richtete (Arendt 2001, S. 605). Richtig ist jedoch, dass es eben diese Erzählung war, die noch in Hobsons vagem, identitätspolitischem Begriff des Nationalen die Oberhand gewinnt. Für Arendt zeigten die Staatenlosen während des ersten Weltkriegs die Grenzen eines auf Nationalismus gebauten Internationalismus auf: „Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird –, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen.“ (Arendt 2001, S. 614) Nicht ein Identitätsbegriff des Nationalen, sondern ein säkularer Rechtsbegriff stiftet für Arendt, wie lange vor ihr für Immanuel Kant, die Grundlage für einen Föderalismus, der die Welt diesseits imperialistischer Zivilisationsversprechen wie bloß kapitalistisch-ökonomisch begründeter Weltvereinigungsvisionen wirklich zu ordnen vermag. Ein solcher aus der Kritik des aggressiven chauvinistisch-imperialistischen Entwicklungspfades des Kapitalismus resultierender liberaler Institutionalismus steht auch aktuellen Debatten um eine „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ Pate (vgl. etwa Habermas 2004, S. 113ff.). Diese rechtstheoretische Perspektive geht dabei entschieden über populäre „idealistische“ Ideologeme, wie dem Postulat eines naturwüchsigen Friedenszustandes zwischen „Demokratien“ hinaus, dessen „Rechtsvergessenheit“ jüngst von Oliver Eberl kritisch rekonstruiert wurde (vgl. Eberl 2008, S. 92ff.). Die Grenze des bürgerlichen Antiimperialismus liegt freilich in seiner Blindheit gegenüber der fortdauernden Klassenspaltung bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften. Seinem Universalismus, der die soziale Frage nur im Horizont bürgerlicher Sozialpolitik thematisieren kann, fehlt eine materielle Erdung. Sie freilich steht im Zentrum sozialistischer Antiimperialismen.

Sozialistischer Antiimperialismus als geforderter Bruch mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: „Abgewirtschaftet hat die unsinnige Parole des „Durchhaltens“, die nur immer tiefer in den Malstrom der Völkerzerfleischung führt. Internationaler proletarischer Klassenkampf gegen internationale imperialistische Völkerzerfleischung heißt das sozialistische Gebot der Stunde. / Der Hauptfeind jedes Volkes steht in seinem eigenen Land! [...] Proletarier aller Länder, [...] vereinigt euch zum internationalen Klassenkampf gegen die Verschwörungen der Geheimdiplomatie, gegen den Imperialismus, gegen den Krieg, für einen Frieden im sozialistischen Geist. / Der Hauptfeind steht im eigenen Land.“ Karl Liebknechts (1972, S. 229f.) berühmtes Flugblatt aus dem Jahr 1915 brachte seinen Verfasser ins Zuchthaus, aus dem er erst im Zuge der Novemberrevolution von 1918 befreit werden konnte. Liebknechts Losung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Nachdem die europäischen Sozialdemokratien der II. Internationale im entscheidenden Moment versagt hatten, wirkte die Wiederbelebung des Klassenkampfes als Befreiungsschlag. Vor dem historischen Hintergrund des ersten Weltkriegs artikulierte sich in Liebknechts Flugblatt ein revolutionärer und sozialistischer Antiimperialismus, der die Forderung nach internationaler Solidarität mit dem Ziel einer Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verband, deren Gewaltpolitik im Krieg ihre Destruktivkräfte zeigte. Die Oktoberrevolution in Russland gab schließlich das Beispiel, wie der Krieg revolutionär beendet werden konnte. Auch wenn sich die Hoffnungen auf eine die europäischen Zentren erfassende Revolutionierung der Gesellschaft zerschlugen als 1919 das Scheitern der Revolution im Westen offenbar wurde, so blieb doch das Ziel einer „Union der Sozialistischen Räterepubliken“ (Rat im russischen heißt Sowjet) bestehen, das sich durchaus seinerseits im Horizont des Kantschen Bunds von Republiken beschreiben lässt. Auch der proletarische Antiimperialismus des zwanzigsten Jahrhunderts, in dessen Kontext sich noch zahlreiche nationale Befreiungsbewegungen seit 1945 stellten, verfolgte somit das internationalistische Programm einer politischen Neugründung, die über eine in Nationalstaaten zersplitterte Welt hinausgehen sollte. Im Unterschied zu liberalen und liberaldemokratischen Formen des Antiimperialismus fokussierte diese Perspektive freilich nicht bloß auf das bürgerliche Konzept des Staatsbürgers als citoyen, sondern bezog – ganz im Sinne des marxschen Begriffs der nicht bloß bürgerlich-politischen, sondern darüber hinausgehenden sozialen Revolution – die Klassenspaltung und -herrschaft bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft mit in ihre Betrachtung ein. Dies schloss die internationale Solidarität mit Volksbefreiungsbewegungen, auch solchen die nicht unmittelbar sozialistisch oder kommunistisch auftraten, zwar nicht aus, verlangte jedoch auch ihnen Solidarität mit den subalternen Klassen in den kapitalistischen Metropolen ab. Erst dieser als Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Gewaltpolitik auftretende Antiimperialismus spezifizierte den sozialen Inhalt eines materiell fundierten Universalismus – allerdings, insbesondere zu Zeiten einer Dominanz der Außen- über die Gesellschaftspolitik im Zeichen der Systemkonkurrenz im Kalten Krieg, nicht selten auf Kosten einer näheren Bestimmungen der rechtlichen Formen, in denen sich soziales Menschenrecht als materiell-universalistisches Emanzipationskriterium einer Weltordnung, die diesen Namen verdient, verwirklichen könnte.

Facetten eines emanzipatorischen Antiimperialismus heute

Der Zusammenbruch des realen Sozialismus und das Scheitern zahlreicher antiimperialistischer Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt hat die Linke – nicht nur in Europa – in eine tiefe Krise gestürzt. Dem Siegeszug des Neoliberalismus korrespondierte der Niedergang der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen. Schienen im zwanzigsten Jahrhundert spätestens seit der Oktoberrevolution die antiimperialistischen Bewegungen in aller Welt eingebunden in den Gegensatz der Systeme zwischen Sozialismus und Kapitalismus, so formierten sich in den letzten Jahrzehnten zahlreiche einflussreiche Ideologien, die zwar mit großer Militanz gegen die Vorherrschaft des Westens zu Felde ziehen, die ihren Kampf jedoch mit keiner emanzipatorischen Perspektive zu verbinden vermögen. Im Konflikt zwischen Imperialismus und partikularistisch-identitätspolitischem Antiimperialismus muss ein progressiver Antiimperialismus stark genug sein, den Gedanken der Emanzipation auch zwischen den Fronten zu vertreten (vgl. Deppe u.a. 2004, S. 147).

Insbesondere im letzten Jahrzehnt wurden freilich in Lateinamerika Regierungen gefestigt, die wie Evo Morales in Bolivien und Hugo Chávez in Venezuela ihr Programm in den Kontext einer „bolivarischen Revolution“ stellen und sich im offenen Kontrast zum „Imperium“ Nordamerikas als Revitalisierung eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts versteht. Nicht zuletzt der internationalen Solidarität dieser Staaten ist es zu verdanken, dass das sozialistische Kuba die tiefe Krise, in die es in den neunziger Jahren geraten war, zumindest partiell überwinden konnte. Auch in anderen lateinamerikanischen Staaten kamen reformorientierte Regierungen an die Macht, die das Ziel eines von den USA unabhängigen oder doch unabhängigeren Entwicklungspfads verfolgen. Es würde diese Aufbrüche und Bewegungen, deren Entwicklung ihrerseits keineswegs frei von Widersprüchen, etwa der Abhängigkeit von Rohstoffquellen und somit auch von (kapitalistischen) Weltrohstoffmärkten, verläuft (vgl. Müller 2005, S. 163ff.) jedoch überfordern, von ihnen zu erwarten, sie allein könnten die „imperialistische Kette“ aufsprengen. Umgekehrt dürften die Aussichten solcher peripherer Befreiungsprojekte steigen, wenn es auch in den Zentren zu einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse käme (vgl. Deppe u.a. 2004, S. 146). Antiimperialistische Solidarität kann nicht allein darin bestehen, auf revolutionäre oder reformorientierte Bewegungen an der Peripherie zu hoffen, sondern muss zugleich in den Zentren für eine Veränderung gesellschaftlicher und politischer Machtverhältnisse streiten. Die aktuelle Imperialismusdiskussion gibt in diesem Zusammenhang wichtige Hinweise auf die Felder, in denen diese Auseinandersetzung (mindestens) geführt werden muss:

Eine emanzipatorisch-antiimperialistische Bewegung muss heute Friedensbewegung sein. Die Militarisierung der Außenpolitik erhielt – entgegen der illusorischen Hoffnung auf eine Friedensdividende – nach dem Ende der Systemkonkurrenz einen neuen Schub: Der zweite Golfkrieg (1991), die Kriege auf dem Balkan in den 90er Jahren, insbesondere der Kosovokrieg von 1999, schließlich die Kriege in Afghanistan (seit 2001) und im Irak (seit 2003) haben nicht nur gezeigt, dass Krieg nach wie vor als Mittel der Politik betrachtet wird – auch wenn sich die deutschen Kriegsbeteiligten lange dagegen sträubten ihre „robusten Einsätze“ bei dem Namen zu nennen, der ihrem Charakter entspricht – sondern auch das höchst instrumentelle Verhältnis der imperialistischen Mächte des Westens zum Völkerrecht offenbart. Nicht erst im Irakkrieg, schon im so genannten „Kosovokonflikt“ wurde die Institution des UN-Sicherheitsrates, die völkerrechtlich allein die Kompetenz besitzt über Gewaltmittel zu entscheiden, ignoriert. Entgegen der politischen Rhetorik der kriegführenden Mächte hat diese Politik den Planeten nicht sicherer, sondern unsicherer gemacht. Die partkularistisch-identitätspolitischen Gegenbewegungen zum westlichen Herrschaftsanspruch wurden nicht geschwächt, sondern gestärkt. Ganze Regionen wie der Irak, der vor dem Krieg der USA und ihrer Verbündeten zwar ein autoritäres und brutales, keineswegs jedoch ein „gescheitertes“ Staatswesen aufwies, wurden in blutige Bürgerkriege gestürzt, die auf dem Rücken der Zivilbevölkerungen ausgefochten werden. Guantanamo Bay, das Kriegsverbrechen in Kundus und zahlreiche andere Ereignisse haben deutlich gemacht, wie tief die imperialistischen Staaten in der von ihnen erzeugten Babarisierungsspirale stecken. Wie Hohn klingen in diesem Kontext die Vorwürfe, Kriegsgegner würden „den Soldaten in den Rücken fallen“. Dass sich zahlreiche politisch und sittlich mehr oder weniger desorientierte junge „Freiwillige“ aus westlichen Ländern – unter ihnen nicht Wenige aus subalternen Klassen, die mit Perspektiven gelockt oder aufgrund ihrer sozialen Lage zur Armee gepresst wurden – in permanenter Lebensgefahr befinden oder schon umgekommen sind, ist schließlich zuförderst die Schuld derer, die sie in den Krieg schicken. Von den Opfern unter der Zivilbevölkerung in Kosovo, im Irak und in Afghanistan ganz zu schweigen.

Ein emanzipatorischer Antiimperialismus muss sich zudem als demokratische Bewegung artikulieren: Der Imperialismus der Gegenwart wird flankiert durch eine offensichtliche Entdemokratisierungstendenz in den Zentren selbst. Bereits Rosa Luxemburg hatte für die Zeit vor und während des ersten Weltkriegs einen Zusammenhang zwischen Imperialismus und Autoritarismus im Innern hergestellt. Für Luxemburg war insbesondere der Militarismus, der, wie heute gesagt würde, nicht zuletzt das Idealbild hegemonialer Männlichkeit bestimmte, ein Ausdruck dieser Zerstörung von Demokratie. Wenn auch die demokratiezerstörerische Tendenz der Gegenwart sich durchaus von der – gerade im deutschen Kaiserreich in einem ohnehin undemokratischen Umfeld sich vollziehenden – Zerstörung des Parlamentarismus während des ersten Weltkriegs deutlich unterscheidet, so ist doch unverkennbar, dass auch heute eine Militarisierung der Gesellschaft im Gange ist, deren augenfälligstes Beispiel in Deutschland vermutlich die Öffnung der Schulen und Hochschulen für Jugendoffiziere der Bundeswehr ist. Gleichzeitig wird ein „Sicherheitsregime“ ausgebaut, dass den Polizeibehörden unter dem Signum der Terrorismusbekämpfung immer weitergehende Kompetenzen zusprechen will und für das auch der Einsatz der Streitkräfte im Innern kein Tabu sein soll. Der in Salamitaktik organisierte Ausbau der repressiven Staatsapparate ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Wie insbesondere David Harvey gezeigt hat, ist die unter der Vorherrschaft neoliberaler Ideologie zu beobachtende Zunahme einer „Akkumulation durch Enteignung“ – etwa in Gestalt der Privatisierung von öffentlichen Gütern – keineswegs auf äußere Gewaltpolitik beschränkt, sondern gehört auch zum Kernbestand des internen Regimes, das durch sie abgestützt werden soll. Die Frage nach dem Öffentlichen berührt unmittelbar die Frage nach der Demokratie: Der privatisierte Sektor entzieht sich dem bürgerlichen Dualismus von öffentlich und privat, entsprechend, zumindest tendenziell, der demokratischen Kontrolle. Mit der Enteignung der Öffentlichkeit geht ein Abbau sozialer Rechte einher, die – ganz im Sinne des so genannten „aktivierenden Sozialstaats“ (vgl. Lessenich 2009) – unter dem Schlagwort „Fördern und Fördern“ in Zwangsmaschinerien umgewandelt wurden. Leiharbeit, Prekarisierung und soziale Unsicherheit mit permanenter Abstiegsangst veränderten die Arbeits- und Lebenswelt der subalternen Klassen, während die Parlamente zunehmend weniger in der Lage und Willens sind, die sozialen Gruppen der Gesellschaft adäquat zu repräsentieren. In der von Colin Crouch scharf herausgearbeiteten postdemokratischen Konstellation bleiben zwar die „demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt“ (Crouch 2008), ihr sozialer Gehalt wird jedoch ausgehöhlt: „Demokratie“ wird zusehends eine Sache von selbsternannten „Eliten“. Die Verrohung der inneren Politik durch Sozialrassismus, Inwertsetzung und verstärkte Repression gegen Arme wie gegen politische Aktivisten ist die innere Kehrseite dessen, was nach außen hin als imperialistische Gewaltpolitik beschrieben werden kann. Es ist illusorisch zu glauben, es wäre möglich, die Welt nach außen hin zu befrieden, ohne zugleich einen Kampf gegen die Zerstörung der Demokratie im innern zu führen.

Im Kern muss ein emanzipatorischer Antiimperialismus in der Forderung nach einer Verrechtlichung der menschlichen Beziehungen bestehen: Der Imperialismus wies historisch und weist in der Gegenwart ein höchst instrumentelles Verhältnis zum Recht auf. Die Gewaltpolitik der neunziger und nuller Jahre (von Kosovo bis Irak) hat zu einer massiven Aushöhlung des Völkerrechts beigetragen. Gleichzeitig wurde das neoliberale Enteignungsregime gegenüber den Bevölkerungen im Sinne eines „neuen Konstitutionalismus“ in demokratisch kaum kontrollierten Prozessen in privatrechtliche Arrangements gegossen, die sowohl die strukturelle Gewalt der imperialistischen Zentren ausmachte, als auch der strukturellen Gewalt gegenüber den heimischen subalternen Klassen eine privatrechtliche Basis gab. Die Verrechtlichung globaler Ausbeutung und die soziale Entrechtung der Subalternen sind die beiden Gesichter des gegenwärtigen kapitalistischen Imperialismus. Ein emanzipatorischer Antiimperialismus muss auf der Etablierung sozialer Menschen- und Teilhaberechte bestehen. Dabei darf er den durch das bürgerliche Rechtsverständnis gesetzten Universalismus selbst nicht aufgeben, sondern muss ihn vielmehr sozial gefüllt gegen die bürgerliche Gesellschaft verteidigen. Dies schließt die Forderung nach einer Veränderung der Eigentumsverhältnisse in den kapitalistischen Metropolen ebenso ein wie die Forderung nach einer Demokratisierung der internationalen Institutionen. Ohne einen kapitalismuskritischen Kern wird Antiimperialismus hilflos oder beliebig. Im Ziel der Etablierung von sozialen und universellen Menschenrechten, die sich mit kapitalistischer Verwertung auf Dauer nicht versöhnen lassen, liegt das Emanzipationskriterium beschlossen, dass ein emanzipatorischer Antiimperialismus auch zwischen den Fronten vertreten muss.

Fußnoten:

1) Dieser Beitrag beruht auf Auszügen aus dem Manuskript des kürzlich in der Reihe pappyrossa-basis erschienen Bands „Imperialismus“ von Frank Deppe, David Salomon und Ingar Solty. Im Buch werden neben den hier berücksichtigten Fragen sowohl klassische als auch aktuelle Imperialismustheorien sowie Fragen eines „American Empire“ und eines „Euroimperialismus“ behandelt.

2) Die genaue Rolle staatlich-politischer Entscheidungen, d.h. die konkrete Form, in der Regierungen offen oder latent Gewaltpolitik betreiben, kann hierbei außerordentlich variieren und lässt sich nur historisch konkret bestimmen. Die Bandbreite reicht von der strukturellen Gewalt durch Strukturanpassungsprogramme, über Duldung des Aufbaus konzerneigener „Privatarmeen“ durch im Zentrum ansässige Großkonzerne oder die Unterstützung von Paramilitärs (Nicaragua) und Putschisten (Chile) bis hin zu formalen Kolonialkriegen und zwischenimperialistischem Massenkrieg.

3) Missverständlich ist in diesem Zusammenhang, dass Harvey den Begriff einer territorialen Machtlogik synonym mit dem einer politischen Machtlogik verwendet, gleichzeitig jedoch zurecht die notwendige Territorialität der Akkumulationslogik hervorhebt.

Literatur

Arendt, Hannah (2001): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München.

Baraki, Matin (2002): Militärische „Konfliktlösung“ statt intelligenter Friedenspolitik: das Beispiel Afghanistan; in: Amy Holmes/David Salomon/Guido Speckmann (Hrsg.): Imperial Djihad? Über Fundamentalismus, Schurkenstaaten und neue Kriege, Hamburg.

Buchanan, Patrick J. (2004): Where The Right Went Wrong. How Neoconservatives Subverted the Reagan Revolution and Hijacked the Bush Presidency, New York.

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt/Main.

Deppe, Frank/Stephan Heidbrink/David Salomon/Stefan Schmalz/Stefan Schoppengerd/Ingar Solty (2004): Der neue Imperialismus, Heilbronn.

Eberl, Oliver (2008): Demokratie und Frieden – Kants Friedensschrift in den Kontroversen der Gegenwart, Baden-Baden.

Habermas, Jürgen (2004): Der gespaltene Westen, Frankfurt/Main.

Hardt, Michael/Antonio Negri (2002): Empire, Frankfurt/Main, New York.

Harvey, David (2001): Spaces of Capital – Towards a Critical Geography, Edinburgh.

Harvey, David (2004): Die Geographie des „neuen“ Imperialismus; in: Christian Zeller (Hrsg.): Die globale Enteignungsökonomie, Münster.

Harvey, David (2005): Der neue Imperialismus, Hamburg.

Hobson, John A. (1968): Der Imperialismus, Köln/Berlin.

Lessenich, Stephan (2009): Mobilität und Kontrolle. Zur Dialektik der Aktivgesellschaft; in: Klaus Dörre/ders./Hartmut Rosa: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, Frankfurt/Main.

Liebknecht, Karl (1972): Der Hauptfeind steht im eigenen Land!; in ders.: Gesammelte Reden und Schriften Bd. VIII, Berlin.

Müller, Beatrice (2005): Die „bolivarische Revolution“ auf der Suche nach einem kohärenten Projekt; in: Dieter Boris/Stefan Schmalz/Anne Tittor: Lateinamerika: Verfall neoliberaler Hegemonie?, Hamburg.

Panitch, Leo (2002): Neuer Imperialismus – Neue Imperialismustheorie; in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 52

Rilling, Rainer (2008): Risse im Empire, Berlin.

Schmitt, Carl (2009): Der Begriff des Politischen, Berlin.

Schmitt, Carl (1995): Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte; in: ders.: Staat, Großraum, Nomos – Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, Berlin.

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