Buchbesprechungen

Das Erbe des Kolonialismus und der Holocaust

Charlotte Wiedemann: »Den Schmerz der anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis«, Propyläen, Berlin 2022, 288 Seiten, 19,80 Euro

von Andreas Wehr
März 2024

Was war der Maji-Maji Krieg? Wann fand er statt, und wer kämpfte dabei gegen wen? Dass deutsche Kolonialtruppen einen Völkermord an den Ovaherero und den Namas im einstigen Südwestafrika, dem heutigen Namibia, begingen, dürfte zumindest einigen bekannt sein. Doch dass in jenen Jahren in einer anderen deutschen Kolonie, in Südostafrika, dem heutigen Tansania, ein nicht weniger grausamer Krieg, der Maji-Maji Krieg, noch weit mehr Opfer forderte als jener in Südwestafrika, blieb weitgehend unbekannt. Nach Charlotte Wiedemann wird die »Zahl der einheimischen Opfer dieses Krieges auf nicht weniger als zweihunderttausend geschätzt, die Deutschen verzeichneten kaum mehr als ein Dutzend Tote.« (149) Addiert man alle durch deutsche Gewalt in Südostafrika während der Kolonialzeit zu Tode gekommenen, so ergibt das die unfassbar hohe Zahl von einer Million! »Eine Million, das entspricht fast der Zahl der in Auschwitz-Birkenau getöteten Menschen. Das kann man doch nicht vergleichen!!, höre ich«, so Wiedemann. Es liegt ihr aber fern, den Holocaust an den europäischen Juden durch einen Vergleich mit den Massakern in Afrika zu relativieren. Vielmehr stellt sie die Frage: »Warum aber fehlt das Erschrecken, warum so wenig Betroffenheit? (…) Vergleicht man die Haltung gegenüber Opfern des Holocaust mit jener gegenüber kolonialen Opfern, zumal afrikanischen, dann ist da ein Empathiegefälle, das ich erklärungsbedürftig finde.« (160) Nicht allein über die kolonialen Verbrechen Deutschlands, auch über die Großbritanniens, Frankreichs, der Niederlande, Portugals, Italiens, Spaniens, Belgiens und nicht zuletzt der USA wird immer noch weitgehend geschwiegen.

Es ist schon so wie Lenin 1917 in seiner Schrift Krieg und Frieden mit Blick auf die Kriege in den Kolonien sarkastisch fragte: »Sind das denn Kriege? Das sind doch eigentlich gar keine Kriege, das kann man der Vergessenheit anheimfallen lassen.« Man nannte die kolonialen Kriege »kleine Kriege«, weil »in diesen Kriegen wenig Europäer, dafür aber Hunderttausende aus jenen Völkern umkamen, die sie versklavten, die von ihrem Standpunkt nicht einmal als Völker angesehen werden (irgendwelche Asiaten, Afrikaner – sind das etwa Völker?); mit diesen Völkern wurden Kriege folgender Art geführt: sie waren waffenlos, und man mordete sie mit Maschinengewehren.«

Die Publizistin und Auslandskorrespondentin Charlotte Wiedemann ist bei den Recherchen für ihr Buch weitgereist. Sie hat dabei viele Orte der Vernichtung aufgesucht: In Kambodscha, in Tansania, im Baltikum und in Polen, dort wo die schlimmsten Verbrechen des Holocaust stattfanden. Sie besuchte Stukenbrock, wo unzählige sowjetische Kriegsgefangene elendig zugrunde gingen. Und sie war in Palästina, wo heute Israelis Palästinenser unterdrücken.

Sie spricht im Buch heikle Themen an: etwa das Verhältnis zwischen dem Holocaust am europäischen Judentum und kolonialen Verbrechen. Sie stellt dabei die Frage, ob der Holocaust wirklich unvergleichlich und damit einmalig ist oder nicht vielmehr eine lange, aus dem rassistischen kolonialistischen Erbe herkommende Vorgeschichte hatte? Bereits die Bezeichnung Holocaust allein für den Mord an den Juden war umstritten: »Warum meint der so zentrale Begriff Holocaust ausschließlich die Vernichtung der Juden? Selbstverständlich ist das nicht; vielmehr handelt es sich um eine Setzung, die im US-amerikanischen Kontext entstanden ist, nämlich in den 1978 begonnenen Debatten über die Einrichtung des Washingtoner Holocaust Memorial. In der Gründungskommission forderte Simon Wiesenthal, bekannt als jüdischer Verfolger untergetauchter Nazi-Täter, das Mahnmal allen Opfern der NS-Rassenideologie zu widmen, die er damals auf elf Millionen bezifferte. Elie Wiesel, Überlebender aus Rumänien, verlangte die Beschränkung auf die jüdischen Opfer, da deren Ausrottung einzigartig sei, und konnte sich als Vorsitzender der Gründungskommission durchsetzen.« (67) Damit wurden sowohl die gleichfalls systematisch ermordeten Sinti und Roma als auch die von den Nazis zu »Untermenschen« erklärten Slawen ausgegrenzt.

Den engen Zusammenhang von Kolonialismus, Holocaust und Rassenkrieg gegen die Slawen hat auch der italienische Historiker und Philosoph Domenico Losurdo immer wieder hervorgehoben. Nach ihm kann Hitler »mit seinem Vernichtungskrieg gegen die ‚Eingeborenen‘ Osteuropas als der Letzte der conquistadores betrachtet werden«.

Die Autorin geht davon aus, dass sich diese Sichtweise durchsetzen wird: »Den Holocaust als Ausbruch aus Moderne und Zivilisation zu bezeichnen stammt aus einer Weltsicht, die diese Kategorien arg partikular definiert hat; allmählich werden solche Vokabeln deshalb still zurückgezogen.« (176) Zeichen dafür sieht sie sowohl in der weltweiten Aufmerksamkeit die eine Bewegung wie Black Lives Matter in kürzester Zeit erreicht hat. Nach Wiedemann ist »also für die Betrachtung der Geschichte ein neues Zeitalter angebrochen. (…) Wer sich gegen heutigen Rassismus wendet, kann den historischen Rassismus der Kolonialepoche kaum übersehen. Und allenthalben werden nun Forderungen laut nach Anerkennung von Schuld, nach Rückgabe von Geraubtem und Entschädigung für Erlittenes. Das globale Kräfteverhältnis verschiebt sich politisch und moralisch zu Ungunsten der ehemaligen Kolonialmächte, der europäischen Staaten und Gesellschaften. Wer sich unter diesen Umständen weigert, für die Vergangenheit Verantwortung zu übernehmen, spielt gegen die Zeit.« (156 f.)

Chancen für eine Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses ergeben sich aus der Stärkung der Verhandlungsmacht der Länder des globalen Südens. Auf diese Weise gelang es etwa der Regierung Nigerias, zumindest einen Teil der geraubten Benin-Bronzen aus deutschen Museen zurückzubekommen. Die Regierung Namibias konnte nach zähen Verhandlungen mit der deutschen Bundesregierung eine Entschädigung für die Nachkommen der nahezu ausgerotteten Ovaherero und Namas durchsetzen. Und auch die tansanische Regierung ist im Namen der Opfer des Maji-Maji-Krieges bereits in Berlin vorstellig geworden.

Es bedarf staatlich organisierter Macht, um die berechtigten Forderungen der Länder des globalen Südens durchzusetzen. Und diese Macht ist in den letzten Jahren gewachsen, weil das ökonomische Gewicht des Südens größer geworden ist. Auf diese Weise kann das von Wiedemann geforderte »Weltgedächtnis« entstehen, in dem an alle rassischen Verbrechen gleichrangig erinnert wird.

Bedauerlich ist, dass die Autorin keinen Blick für die wichtige Rolle sozialistischer bzw. kommunistischer Bewegungen bei der Befreiung der Dritten Welt und der Überwindung des Rassismus hat, war doch der Rote Oktober Russlands 1917 nicht nur ein Aufruf an die Arbeiter des Westens es den Bolschewiki gleichzutun und den Aufstand gegen Krieg und Klassenherrschaft zu wagen.

Doch diese Kritik schmälert nicht die Bedeutung des Buches. Charlotte Wiedemann hat zur richtigen Zeit ein Werk vorgelegt, das die Erinnerung an die kolonialen Verbrechen – und hier vor allem der deutschen – ins Bewusstsein zurückruft und zugleich Argumente liefert gegen das unselige Ausspielen der Opfer des Holocaust gegen die rassische Diskriminierung anderer Völker.

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