Editorial

Juni 2004

Soziale Kräfte- und Klassenverhältnisse werden innergesellschaftlich durch ihre gesetzliche Fixierung festgeschrieben. Im Zusammenhang der in den letzten Heften von „Z“ thematisierten Sozialstaatsdemontage zeigt sich, dass entsprechende gesetzliche Regelungen von der herrschenden Klasse immer in ihrer doppelten Wirkung – als Bindung sozialer Gegenkräfte, aber auch als Selbstfesselung, als Behinderung der eigenen Handlungsspielräume – gesehen werden. Das „Deregulierungs-“ und „Entbürokratisierungsgebot“, unter das die Politik apodiktisch gestellt wird, soll durch Neujustierung rechtlich fixierter Sozialbeziehungen den Handlungsspielraum der auf Privateigentum beruhenden und setzenden gesellschaftlichen Kräfte ausweiten. Dieser Prozess des rechtlichen Umbaus erhält weiteren Antrieb aus der globalpolitischen Ausweitung des Handlungsfeldes der Bundesrepublik – Militäreinsätze mit daraus zwangsläufig resultierender Involvierung in Konflikte mit „peripheren“ beherrschten Regionen und Gesellschaften, die als „terroristische Bedrohung“ zurückschlagen kann. Damit wächst das Gebot der Kontrolle im Innern. Hier tasten sich Innenminister und Völkerrechtler, Bundesregierung, Parteien und die Justiz gegenwärtig vor, um zu klären, was aus ihrer Sicht unter dem Label „Sicherheit“ getan werden muss und kann. Dieser „Umbau im rechtlichen Überbau“ ist Thema des Schwerpunktes im vorliegenden Heft.

Peter Römer geht der Auseinandersetzung um die verfassungsrechtlichen Eigentumsordnungen in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik nach: Der Frage, ob sie für eine gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Gemeineigentum und Sozialismus offen war bzw. noch ist. Im Mittelpunkt steht die Abendrothsche Interpretation der Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes. Hier vertritt Römer die These, dass seit deren Formulierung vor 50 Jahren die Sozialstaatsnorm durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltungspraxis dahingehend „authentisch interpretiert“ worden ist, dass heute eine Verfassungsänderung erforderlich ist, wenn die Wirtschaftsordnung mit sozialistischer Zielsetzung umgestaltet werden soll.

Ausgerechnet in einer Zeit, in der Schulen und Universitäten in den Sog zunehmender Ausgabenkürzungen geraten und das Bildungswesen in der Breite immer mehr verkommt, hat die Diskussion um Elite und Begabung verdächtige Konjunktur. Morus Markard führt den Nachweis, dass es sich hier um Kampfbegriffe zur Entdemokratisierung des Bildungswesens handelt. Der Elitediskurs suggeriert, dass Qualität untrennbar mit Auswahl und Konkurrenz verbunden sei. Er erweist sich als Element des neoliberalen Umbaus von Staat und Gesellschaft. Gerd Wiegel zeigt, dass die schleichende Entdemokratisierung mit der Verbreitung reaktionärer, rassistischer und antisemitischer Denkmuster einhergeht. Hintergrund sind tieferliegende Prozesse der politischen Delegitimation und sozialen Desintegration: Der globalisierte Kapitalismus kann die materielle, soziale und emotionale Einbindung der Menschen zunehmend weniger leisten. Unsicherheit und das Gefühl, von politischen Entscheidungen ausgeschlossen zu sein, können sich in autoritären Reaktionen und einem Rückzug in vermeintliche Sicherheiten und Identitäten niederschlagen.

Tendenzen eines schrittweisen Grundrechteabbaus konstatiert Ulla Jelpke. Sie führt zahlreiche Beispiele für die gesetzliche, finanzielle, personelle und technische Ausweitung der Kompetenzen von Polizei (und Geheimdiensten) an, ebenso für die Ausweitung und Vernetzung supranationaler Institutionen und Kooperationsformen von entsprechenden Behörden, die allesamt unter dem erklärten Ziel der „Terrorismusbekämpfung“ zusammengeführt werden – eine Begründung, die die Autorin mit Verweis auf die entsprechenden z.T. lange zurückliegenden Planungen zurückweist. Der 11. September oder die Anschläge von Madrid sind nicht deren Ursache, sondern dienen vielmehr als Vorwand für eine Erosion des Rechtsbewusstseins. Anhand einer Tagung der „Deutschen Gesellschaft für Wehrrecht und Humanitäres Völkerrecht“ zeichnet Elvira Högemann-Ledwohn die Bemühungen von Bundeswehr und ihr mehr oder weniger verbundenen wissenschaftlichen und politischen Institutionen und Parteien nach, rechtliche Grundlagen für einen Bundeswehreinsatz im Inneren unter dem Signum der Terrorismus-Bekämpfung zu schaffen – bis hin zur Diskussion um die „Zulassung präventiver Tötung durch Militär und Polizei“. Auch hier wird am Argumentationsgang der Tagung deutlich, dass die internationale Terrorismusbekämpfung das Medium ist, mit dem weitergehende und auf innergesellschaftliche Konfliktkonstellationen abzielende Gesetzesvorhaben besonders zur Übertragung von Polizeifunktionen auf die Bundeswehr befördert und auf gesellschaftliche Akzeptanz getestet werden sollen.

Neben den Angriffen auf die gesetzliche Grundsicherung vor Standardrisiken wie Gesundheit oder Arbeitslosigkeit und auf die Tarifautonomie (Flächentarifvertrag) gerät auch die Mitbestimmung in‘s Visier der zu „reformierenden“ Sozialstaatserrungenschaften (Ewald Wehner). Am Beispiel der inzwischen zahlreich abgeschlossenen und weiterhin von Kommunen favorisierten Cross Border Leasing-Verträge zeigt Werner Rügemer, dass auch auf diese Weise mit der Privatisierung öffentlichen Eigentums zu Dumping-Konditionen nicht nur Steuerhinterziehung im großen Stil stattfindet, sondern auch Rechtsbrüche an der Tagesordnung sind. Eine Koalition von Staat und Privatunternehmen organisiert die Profit bringende Demontage des öffentlichen Sektors zugunsten des Marktes. Die Ökonomisierung des Sozialen ist zugleich ein Stück Entdemokratisierung.

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Wir setzen die im letzten Heft begonnene Diskussion über die neuen sozialen Protestbewegungen mit Beiträgen fort, in denen über die Perspektiven des Protests nach den Massendemonstrationen des europäischen Aktionstages nachgedacht wird. Peter Wahl skizziert einige strategische Probleme der neuen Bewegungen, wie sie z.B. bei attac zum Ausdruck kommen. Sie unterscheiden sich seines Erachtens grundlegend von früheren sozialen Bewegungen: durch ihre Pluralität und Offenheit, durch das Fehlen einer Tendenz zur Homogenität und ganzheitlicher Theorieentwicklung. Darin liegen Chancen, aber auch neue, noch zu bearbeitende Probleme. Den europäischen Aktionstag gegen Sozialabbau nehmen Simon Meyer und Guido Speckmann zum Anlass, nach den Perspektiven des Protestes zu fragen. Noch – so die Autoren – könne man nicht von einem Hegemonieverlust des Neoliberalismus sprechen. In ihrem Artikel nehmen sie kritisch Bezug auf Alexander King und Sascha Kimpel in Z. 57. Florian Weis klopft Erfolgschancen und Potenziale einer linken Wahlalternative ab und diskutiert das mögliche Verhältnis zwischen ihr und der PDS. Dabei zieht der Autor recht nüchterne Schlussfolgerungen.

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Der erweiterten EU, ihren Machtstrukturen und zukünftigen Konfliktfeldern und der Formierung einer europäischen Linken ist aus gegebenem Anlaß ein weiterer eigener Themenblock gewidmet.

Die Auseinandersetzung um die europäische Verfassung widerspiegelt, wie Andreas Wehr zeigt, die Machtinteressen der großen europäischen Kernstaaten um eine neue europäische Hegemonialordnung. Stephan Heidbrink untersucht die Restrukturierung der europäischen Rüstungsindustrie unter den Bedingungen einer „globalisierten Weltwirtschaft“. Die neuen Leitsektoren des „digital warfare“ sind – so seine These – anders als die eng an einen Nationalstaat gebundenen „klassischen“ Rüstungssektoren schon heute in starkem Maß „transnationalisiert“. Eugen Faude identifiziert die Finanzierung der Osterweiterung als eines der zentralen zukünftigen Konfliktfelder der EU. Martin Schirdewan kommentiert die Gründung der „Partei der Europäischen Linken“ vom Januar 2004, die nur einen Teil der linken Strömungen in der EU erfasse und in ihrer Reichweite insofern begrenzt ist.

Hans-Joachim Höhme liefert einen materialreichen politökonomischen Bericht zu Konjunktur und Krise (Weltwirtschaft und deutsche Konjunktur 2003/2004). Die aktuelle Situation in Haiti und das 200. Jubiläum der Unabhängigkeit der Insel bildet den Hintergrund von Alexander Kings zweiteiligem Artikel über Geschichte und Gegenwart des karibischen Staates. Im ersten Teil schildert er die Entwicklungen, die den Aufstieg und den Fall Aristides bestimmt haben. Der zweite Teil, der stärker auf die Geschichte Haitis eingeht, wird in Z 59 erscheinen. Uwe-Jens Heuer rekapituliert mit aktuell-politischem Bezug die Kontroverse Bernstein–Kautsky. Seine These: Auch heute braucht eine Organisation, die die kapitalistische Gesellschaft ablehnt und massenwirksam bekämpfen will, eine marxistische Ideologie, die wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit ist. Ein aktueller Sammelband bildet den Ausgangspunkt für Manfred Weißbeckers kritischen Blick auf die gegenwärtige Faschismusforschung.

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Nachdem wir über mehrere Hefte zentrale Umbauprozesse in den sozialpolitischen Verhältnissen der Bundesrepublik beleuchtet haben, wird Z 59 (September 2004) Fragen von Weltwirtschaft und internationalen Institutionen der Globalisierung in den Mittelpunkt stellen.