Prekarisierung, Soziale Desintegration, Gesundheitsverschleiß

Soziale Ungleichheit und Gesundheit

Armut und zunehmende soziale Ausgrenzung verringern Teilhabe- und Verwirklichungschancen

September 2005

Seit der Übernahme der Regierungsverantwortung durch SPD und Bündnis 90/Die Grünen 1998 sollte eine Fülle von einzelnen Reformmaßnahmen Armut mildern und soziale Integration fördern. Die sich insbesondere in der Agenda 2010 ausdrückende vorherrschende Linie zielte allerdings darauf, die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in eine Politik der Förderung von Wachstum und Beschäftigung einzubetten und zu diesem Zweck Kapitalverwertungsbedingungen zu verbessern und geringfügige Beschäftigung oder auch Niedrigeinkommens-Selbständigkeit auszuweiten (vgl. BT-Drucksache 15/3270). In Anlehnung an die Überlegungen sozialdemokratischer Vordenker wie Anthony Giddens und Gøsta Esping-Andersen wurde diskutiert, inwiefern eine Zunahme sozialer Ungleichheit unvermeidbar oder funktional ist. Gefördert werden sollte Chancengleichheit – bei einer deutlichen Aufwertung des „Forderns“, einer Förderung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und insbesondere durch Investitionen in „Humankapital“.

Für Kritiker dieses Kurses wurden strukturell und politisch determinierte „Dynamiken sozialer Spaltung und Ausgrenzung“ (Bieling 2000) durch die Ausweitung eines Niedriglohnsektors und sozialstaatliche Einschnitte bei Massenarbeitslosigkeit verschärft (vgl. Scharenberg 2005). Die Verwertungsimperative der kapitalistischen Profitproduktion hätten sich unter neoliberaler Hegemonie in nahezu allen Bereichen durchgesetzt (vgl. Deppe 2005). Die „Marktsozialdemokratie“ erkläre den Markt zum besten Instrument der Zuteilung gesellschaftlicher Ressourcen, delegitimiere breit angelegte Verteilungspolitik und modifiziere gesellschaftliche Leitbilder wie soziale Gerechtigkeit semantisch (Nachtwey 2005: 397). Sozialpolitik werde mit den Gesetzen des Marktes „kontaminiert“ (ebd.) und im Sinn einer „produktivistischen Sozialpolitik“ für wirtschaftspolitische Zielsetzungen funktionalisiert (vgl. Lessenich 2004). Die rot-grüne Bundesregierung habe den bereits von der konservativ-liberalen Vorgängerregierung begonnenen (neo-)liberalen Umbau des deutschen Wohlfahrtsstaates nach anfänglichem Zögern fortgesetzt und den Beginn vom Ende des „Modell Deutschland“ eingeläutet (vgl. Beck/Klobes/Scherrer 2005).

Der im Frühjahr 2005 vorgelegte 2. Armuts- und Reichtumsbericht (BT-Drucksache 15/5015) bietet eine gute Grundlage für die Auseinandersetzung mit der rot-grünen Reformpolitik und den Positionen ihrer Kritiker – und zwar anhand der Frage, ob rot-grüne Politik bei wachsender Ungleichheit ihrem eigenen Anspruch genügen kann, Verwirklichungs- und Teilhabechancen zu fördern. Die Wechselwirkungen zwischen sozialer Lage und Gesundheit verweisen auf Widersprüche.

1. Der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht von Rot-Grün

Die Einführung einer regelmäßigen Berichterstattung über Lebenslagen, Armut und Reichtum, die von CDU/CSU und FDP vehement abgelehnt wurde, ist grundsätzlich positiv zu bewerten. Sie soll eine sachliche Diskussion über Armut und Reichtum sowie gesellschaftspolitische Reformmaßnahmen zu ihrer Bekämpfung ermöglichen, Wissenslücken schließen, konzeptionelle Überlegungen anstoßen[1][1], öffentliche Aufmerksamkeit schaffen und den Legitimationsdruck für die Regierung erhöhen. Im Hinblick auf die im Bericht formulierten Zielsetzungen und die durch die konzeptionellen Grundlagen geschürten Erwartungen, insbesondere bei der Evaluierung der Regierungspolitik, weist der Bericht allerdings eine Reihe von Defiziten auf.

Erstens handelt es sich um einen Regierungsbericht, was sich in wenigen Fällen auf die Darstellung des Datenmaterials, aber insbesondere in der Bewertung politischer Reformen ausdrückt. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht (BT-Drucksache 14/5990) von 2001 dokumentierte erwartungsgemäß, dass soziale Ausgrenzung zu- und die Verteilungsgerechtigkeit abgenommen hatten. Die Regierung kündigte an, dass die Bekämpfung von Armut einen Schwerpunkt ihrer Politik bilden und die durchgeführten Reformen diesem Rechnung tragen würden. Der zweite Bericht dokumentiert nun, dass die soziale Ungleichheit im Berichtszeitraum weiter zugenommen hat. Die Verfasser des Berichts führen dies auf die Weltkonjunktur zurück und halten erneut fest, dass die jüngsten Reformen dem perspektivisch entgegenwirken würden (vgl. BT-Drucksache 15/5015; Scharenberg 2005: 137). Mit welchen Risiken für Armut und soziale Ungleichheit sich die zahlreichen sozialpolitischen Maßnahmen der Bundesregierung im Zuge der Agenda 2010 verbinden (vgl. etwa Buhr 2004), wird nicht thematisiert.

Zweitens wird der Bericht seinen konzeptionellen Grundlagen (noch) nicht gerecht. Um der Vielschichtigkeit der Problematik und den kontroversen Bestimmungen von Armut und Reichtum Rechnung zu tragen, werden einerseits mehrere Indikatoren berücksichtigt (z.B. relative Armut, absolute Armut, politisch-normativ gesetzte Armutsgrenzen wie die Sozialhilfegrenze; die Reichtumsberichterstattung ist insgesamt unterentwickelt). Andererseits dienen der Lebenslagen-Ansatz (s. dazu Voges u.a. 2003) sowie das „Konzept der Teilhabe und Verwirklichungschancen“ bzw. der „Capability“-Ansatz von Amartya Sen (s. dazu Volkert u.a 2003) als konzeptionelle Grundlage. Hierdurch sollen die verschiedenen miteinander verwobenen sozialen Problemlagen und Verwirklichungschancen in Bevölkerungsgruppen umfassend beleuchtet werden (BT-Drucksache 15/5015: 38 ff.). Die Ergebnisse dieser breiten konzeptionellen Orientierung sind jedoch eher ernüchternd bzw. nicht wirklich greifbar. Im empirischen Teil werden die Indikatoren weitgehend nebeneinander gestellt, ohne dass Kumulierungen der Vor- und Nachteile sozialer Lagen ausreichend empirisch erfasst werden. Insbesondere die für die Bewertung rot-grüner Reformpolitik wichtigen Veränderungen von Verwirklichungs- und Teilhabechancen werden nicht erfasst.

Drittens konzentriert sich der Bericht auf einen Zeitraum von 1998 bis zum „aktuellen Rand“ (in den meisten Fällen 2003). Die Agenda 2010 ist zu großen Teilen aber erst ab 2002 in Kraft getreten, weswegen ihre Effekte sich noch nicht ablesen lassen. Die im Bericht vorzufindende positive Bewertung der Effekte der Agenda 2010 auf die Armutsbekämpfung sowie die Teilhabe- und Verwirklichungschancen ist aber schon jetzt mehr als fragwürdig.

2. Soziale Ungleichheit nimmt zu

Die wachsende Ungleichheit zeigt sich im Bericht einmal in der zunehmenden Differenzierung der Markteinkommen. Dieser Trend schlug sich aufgrund öffentlicher Transfers nach 1998 bis 2003 allerdings nur leicht auf die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen nieder. Die Vermögensverteilung polarisierte sich demgegenüber stärker (vgl. BT-Drucksache 15/5015: 44, 52 u. 263).[2][2]

Der Bevölkerungsanteil mit einem Einkommen unter der Armutsrisikogrenze[3][3] hat sich gegenüber 1998 von 12,1 % auf 13,5 % im Jahr 2003 erhöht.[4][4] Der Anteil von Personen, die gemäß dieser Grenze im Jahr 2003 und in mindestens zwei der drei Vorjahre arm waren, ist von 6,8 % im Jahr 1998 auf 9,3 % im Jahr 2003 gestiegen (ebd.: 262).

Die nach sozialer Gruppe differenzierten Armutsrisikoquoten fallen sehr unterschiedlich aus (s. Tab. 1). Besonders hoch sind sie für 16- bis 24-Jährige, Arbeitslose[5][5] und Alleinerziehende. Auffällig sind die hohen Zuwächse in den Gruppen der 16- bis 24-Jährigen, Arbeitlosen und auch erwerbstätigen Frauen.

Die Zahl der Personen, die Hilfen zum Lebensunterhalt beziehen, hat sich ebenfalls erhöht – „unterbrochen von Eingriffen des Gesetzgebers durch z.B. die Einführung der Pflegeversicherung“ (ebd.: 73).[6][6] Unter den Empfängern bilden Kinder unter 18 Jahren mit 1,1 Millionen die größte Gruppe. Von allein erziehenden Frauen beziehen 22,3% Hilfe zum Lebensunterhalt. Damit ist der Anteil in dieser Personengruppe besonders hoch.

Tabelle 1: Gruppenspezifische Armutsrisikoquoten1 in Prozent in Deutschland

Tabelle siehe Datei zum Download!

1: Armutsrisikogrenze 60% des Medians der laufend verfügbaren Äquivalenzeinkommen.

2: Nur Personen im Alter ab 16

3: Kinder: Personen unter 16 Jahren sowie Personen von 16 bis 24 Jahren, sofern sie nichterwerbstätig sind und mindestens ein Elternteil im Haushalt lebt.

4: EVS, jeweils Halbjahresergebnisse, nach Berechnungen von Hauser/Becker 2005; übernommen aus: BT-Drucksache 15/5015: 46

5: Eigene Berechnungen nach BT-Drucksache 15/5015: 46 und Angaben des Statist. Bundesamtes

3. Verwirklichungschancen und Ausgrenzungsrisiken:
das Beispiel sozialer Ungleichheit und Gesundheit

Die rot-grüne Bundesregierung hat angegeben, Teilhabe- und Verwirklichungschancen fördern zu wollen. Konzeptionell beruft sich der Armuts- und Reichtumsbericht dabei auf das Konzept der Verwirklichungschancen von Amartya Sen.[7][7] Diese beziehen sich auf „die Möglichkeiten oder umfassenden Fähigkeiten (‚capabilities’) von Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten und das die Grundlage der Selbstachtung nicht in Frage stellt“ (BT-Drucksache 15/5015: 40; Sen 2000a: 29). Sie stehen Sen zufolge für reale Entscheidungsmöglichkeiten und die Freiheit, etwas verwirklichen bzw. unterschiedliche Lebensstile realisieren zu können (Sen 2000a: 95 f., 348) und sind von sich wechselseitig beeinflussenden „individuellen Potentialen“ und „gesellschaftlich bedingten Chancen“ abhängig. Die „individuellen Potentiale“ umfassen die materiellen (Einkommen, Vermögen, Güterausstattung) und nicht-materiellen Ressourcen (natürliche Fähigkeiten, erworbene Qualifikationen, Gesundheit u.a.), die einer Person zur Verfügung stehen. Die von Staat und Gesellschaft eröffneten politischen, ökonomischen und sozialen Chancen entscheiden darüber, welchen Beitrag die Ressourcen zur Realisierung eigener Ziele leisten können (vgl. Volkert u.a. 2003: 60 ff.).

Armut und Reichtum bilden für Sen die Pole der Verteilung von Verwirklichungschancen und beschreiben einen Mangel bzw. ein sehr hohes Maß nicht nur an materiellen Gütern: „Reichtum wäre gleichbedeutend mit ‚Privilegierung oder Macht’, und Armut lässt sich so auch als ‚Ausgrenzung von gesellschaftlich bedingten Chancen’ interpretieren.“ (BT-Drucksache 15/5015: 40) Die Verfügbarkeit von Geld und damit das Einkommen und Vermögen haben für Verwirklichungschancen zwar eine große Bedeutung. Nach Sen (2000a: 32) greift es aber zu kurz, Armut lediglich als zu niedriges Einkommen zu begreifen, weil damit nur ein Mittel ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird. Die Betrachtung der Verwirklichungschancen lenke die Aufmerksamkeit demgegenüber auf die Zwecke, „die zu verfolgen Menschen Gründe haben“ – und auf „die Freiheiten, die es ihnen ermöglichen, ihre Ziele zu erreichen“ (Sen 2000a: 113). Darüber hinaus sei das Einkommen nur ein schlechter Indikator für Armut, weil sein Beitrag zu Verwirklichungschancen abhängig von den persönlichen Eigenheiten (z.B. Krankheit und Alter), den Umweltbedingungen, den sozialen Bedingungen, der relativen Einkommenshöhe bzw. den Standards in einer Gesellschaft und der Binnenverteilung von Haushaltseinkommen sei (vgl. ebd.: 2000a: 89ff, 136).

Am Beispiel des Zusammenhangs von sozialer Ungleichheit und Gesundheit lässt sich zeigen, welche Gefahren von der zunehmenden sozialen Ungleichheit für Verwirklichungs- und Teilhabechancen ausgehen (vgl. Lampert/Ziese 2005; Mielck 2000). Gesundheitschancen und gesundheitliche Belastungen (Sterblichkeit, Krankheit, Wohlbefinden, Gesundheitsrisiken) korrelieren in der Regel und oftmals erheblich mit der sozialen Lage (Einkommen, Bildung, Beruf etc.). Die Probleme kumulieren häufig bei Arbeitslosen (vgl. Tab. 2), allein Erziehenden, Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien sowie bei von sozialer Benachteiligung betroffenen Migranten. Am meisten sind die am schwächsten gestellten Bevölkerungsgruppen betroffen. Unterschiede in der Gesundheit zeigen sich aber häufig über alle Stufen sozialer Ungleichheit (z.B. Einkommensgruppen, Bildungsabschlüsse, berufliches Prestige/beruflicher Status) hinweg und es gibt Hinweise, dass das Ausmaß sozialer Ungleichheit einen eigenständigen Einfluss auf die gesundheitlichen Belastungen in einer Bevölkerung hat (vgl. Wilkinson 1996, 2001; Kawachi u.a 1999).

Kausalanalytisch[8][8] ist davon auszugehen, dass Armut krank macht („Kausationshypothese“) und Krankheit zu einer Verschlechterung der Lebenslage und Armut führen kann („Selektionshypothese“). Das Konzept der Verwirklichungschancen und der Lebenslagenansatz bieten theoretisch eine gute Grundlage, diese Wechselwirkungen und ihre Entwicklungstendenzen zu analysieren. Eine Lebenslage sowie Verwirklichungschancen können als der zu erklärende Sachverhalt oder als erklärende Bedingung behandelt werden. Sollen sie erklärt werden, geraten die sozialstrukturellen Lebensbedingungen mit ihren Ressourcen, Risiken, Belastungen und Bewältigungsstrategien in den Blick. Soll mit ihnen etwas erklärt werden, geht es um ihren Einfluss auf soziale Netze, auf Bewältigungsstile, kritische Lebensereignisse, Erwerbs- und Bildungschancen sowie die Lebensqualität (vgl. Voges u.a. 2003: 50 ff.).

Übertragen auf Gesundheit und Krankheit würde der Eintritt einer (ggf. schweren, chronischen) Erkrankung oder Behinderung als kritisches Lebensereignis einmal als Erklärung für die Lebenslage herangezogen, indem Beeinträchtigungen der Erwerbschancen und Probleme der Wiederbeschäftigung mit den gesundheitlichen Einschränkungen begründet werden. Das andere Mal wird Krankheit und Behinderung mit der Lebenslage begründet – indem z.B. bei Armut zu wenig Ressourcen für einen gesunden Lebensstil zur Verfügung stehen, eine Erwerbsarbeit mit hohen gesundheitlichen Risiken angenommen wird oder Barrieren beim Zugang zur medizinischen Versorgung existieren (vgl. Voges u.a. 2003: 51). Im zeitlichen Ablauf lassen sich die beiden Perspektiven miteinander kombinieren: „Dadurch wird deutlich, dass sowohl die sozialstaatlichen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen (Makroebene) als auch die individuellen Anreizstrukturen zur Nutzung von Ressourcen (Mikroebene) die Gestaltung eines Handlungsspielraums in einer gegebenen Lebenslage beeinflussen.“ (Ebd: 53)

Im Armuts- und Reichtumsbericht werden die Veränderungen der Lebenslage(n) allerdings nicht berücksichtigt. Dabei wäre es gerade in der Auseinandersetzung mit Teilhabe- und Verwirklichungschancen und zur Bewertung der Reformpolitik wichtig zu wissen, ob auf diesem Weg soziale Benachteiligung produziert wird und ob sich der Zusammenhang von sozialer und gesundheitlicher Benachteiligung verstärkt. Unsere zentrale Kritik des „anschaulichen Klaffens“ von konzeptioneller Grundlage und präsentiertem Datenmaterial im Armuts- und Reichtumsbericht betrifft daher die Annahmen des Berichts, dass in dem reichen Land Bundesrepublik Deutschland die Armutsproblematik entweder von Problemen der relativen Armut dominiert oder aber von der Sozialhilfe erfolgreich bekämpft werde, während die Zahl der absolut Armen klein sei bzw. die „verdeckte Armut“ in diesem Zusammenhang das eigentliche Problem sei.

Der Zusammenhang von sozialer Lage und Gesundheit macht nämlich deutlich, dass relative und absolute Armut nicht eindeutig voneinander zu trennen sind. Absolute Armut bezeichnet eine Situation, in der überlebenswichtige Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden. Während diese Situation als nicht tolerabel gilt, wird eine Zunahme der sozialen Ungleichheit und damit auch der relativen Armut häufig akzeptiert – nicht zuletzt mit Verweis auf ökonomische Sachzwänge und den erzieherischen Effekt, die „soziale Hängematte“ ungemütlicher zu machen. Aber auch relative Armut und das Ausmaß sozialer Ungleichheit haben Auswirkungen auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen, wenn sie mit unterschiedlich verteilten gesundheitlichen Belastungen korrelieren. Deutlicher als bei unterschiedlichen Überlebenschancen kann ein Widerspruch zum Anspruch, Chancengleichheit, Teilhabe- und Verwirklichungschancen bei wachsender sozialer Ungleichheit zu fördern, wohl kaum werden – außer der Gesundheitszustand wird in den Bereich der Eigenverantwortung verlagert und dem von gesundheitlichen Einschränkungen Betroffenen damit die Schuld für seinen Zustand zugeschrieben.

Eine weitere Kritik richtet sich gegen die Annahme, dass diesen Effekten gerade durch die Bekämpfung von Ausgrenzung und die Förderung von Teilhabechancen in einer Konkurrenzgesellschaft entgegnet werden kann. Denn es droht die Gefahr, dass eine Zunahme sozialer Ungleichheit und das Risiko des sozialen Abstiegs soziale Schließungen provoziert und Schwächere in der Konkurrenz um soziale Positionen unterliegen.[9][9] Die Bereitschaft zur feindseligen Ausschließung dürfte gerade bei denen am stärksten gefördert werden, die von dieser am stärksten bedroht sind. In Anlehnung an Bourdieu (1993) lässt sich dies als Konkurrenzkämpfe um Positionen im sozialen Raum denken, bei denen u.a. „Geldkapital“, „Bildungskapital“ und „Sozialkapital“ eingesetzt und Lebensstile zu Ein- und Ausschlusskriterien werden. „Gesundheit“ ist den sozialen Positionen eingeschrieben und beeinflusst die „Kapitalausstattung“, gesundheitsrelevantes Verhalten ist Bestandteil des Lebensstils. „Gesundheit“ – insbesondere auch in ihrer produktivistischen Dimension als Voraussetzung individueller Leistungsfähigkeit (vgl. hierzu schon früh: Weltbank 1993) – droht in der Konkurrenz um Verwirklichungschancen immer auch als „Kapital“, gesundheitliche Einschränkung als Stigma funktionalisiert zu werden. Lebenslagen und (habituell verfestigte) Lebensstile werden zu Instrumenten und Feldern von sozialen Ausgrenzungs- und Gentryfizierungsprozessen, welche die sozialen Milieuauseinandersetzungen und -abgrenzungen prägen (vgl. Ronneberger/Lanz/Jahn 1999). Sie begünstigen einen latent autoritären und mittelschichtenfixierten „Healthismus“ (vgl. Kühn 1993).

4. Verwirklichung sozialer Ungleichheit: Agenda 2010

Die Integration in die Erwerbstätigkeit zu fördern, Ausgrenzung zu bekämpfen, den Sozialstaat zu einem „aktivierenden“ umzubauen, Chancengleichheit zu gewährleisten und deswegen den ungleichen Bildungschancen entgegenzuwirken, die besonders ausgeprägten gesundheitlichen Belastungen in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen durch die Ausweitung von präventiven Angeboten zu verringern – das alles sind diskutable (sozial-)politische Formulierungen (vgl. Deutscher Bundestag 15/5015). Auch die in der Ergänzung des Nationalen Aktionsplans zur Bekämpfung von Armut (BT-Drucksache 15/3270: 21) ausgewiesenen vier Leitziele für eine nachhaltige Armutsbekämpfungsstrategie klingen gut: 1) Soziale Balance sichern – Verwirklichungschancen verbessern; 2) Teilhabe der Menschen organisieren – Armut und soziale Ausgrenzung verhindern; 3) Eigenverantwortung stärken und vorhandene Potentiale aktivieren; 4) Soziale Sicherung armutsfest machen.

Die Agenda 2010 bewirkt aber etwas anderes. Das Wechselspiel aus sozialer Lage und gesundheitlicher Belastung droht sich zu verschärfen, wodurch Belastungen in benachteiligten Lebenslagen kumulieren und Teilhabe- und Verwirklichungschancen sozial ungleicher verteilt werden. Dem Anspruch, „Teilhabe und Verwirklichungschancen für diejenigen bereit[zustellen], deren eigene Ressourcen zu gering sind“ (BT-Drucksache 15/5015: 35) fehlt die Substanz. Die „Verantwortung des Einzelnen“, diese Chancen und seine Fähigkeiten in seinem Interesse und auch dem seiner Kinder zu nutzen, gerät zum strategisch-vorsorglichen Schuldzuschreibungspotenzial und zur Legitimationsgrundlage von sozialstaatlichen Einschnitten (ebd.: 35; vgl. auch 175).

Dieser Verdacht wird zum einen durch die Effekte der Arbeitsmarktpolitik erhärtet. So zentral das Anliegen einer Integration in die Erwerbsarbeit sein muss, so zentral ist die Vernachlässigung des Sachverhalts, dass mehr Menschen Arbeit suchen als Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. „Fördern“ und „Fordern“ stehen in dieser Situation zwangsläufig in einem asymmetrischen Verhältnis. Das sanktionsbehaftete „Fordern“ wird daher zu einer Kürzungsstrategie sozialstaatlicher Leistungen, von der insbesondere diejenigen Menschen betroffen sind, die am meisten Hilfe benötigen.

Wenn Lebenslagen und Teilhabe- und Verwirklichungschancen betrachtet werden, wird deutlich, dass Problemlagen sich wechselseitig verstärken. So droht Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen ein Teufelskreis (vgl. Hollederer 2003: 5). Ihr Arbeitslosigkeitsrisiko ist erhöht und die Chancen auf (Wieder-)Beschäftigung sind geringer als für gesunde Arbeitslose. Die gesundheitlichen und sozialen Mehrfachbelastungen können mit verminderten Bewerbungsaktivitäten einhergehen und das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit erhöhen. Langzeitarbeitslosigkeit kann aber u.a. psychische Krankheiten verursachen oder bestehende Krankheitszustände verschlechtern. Arbeitslose weisen erhöhte gesundheitliche Einschränkungen auf, nehmen das Gesundheitssystem häufiger in Anspruch und ihr gesundheitsrelevantes Verhalten ist ungünstiger. Es ist eine erhöhte frühere Sterblichkeit zu erwarten (BT-Drucksache 15/5015: 102; 114). Mit den gesundheitlichen Belastungen (und dem Wissen um diese) sinken die Chancen am Arbeitsmarkt, der Kreis schließt sich.

Für Langzeitarbeitslose gilt, dass sich in „kaum einem anderen Segment der ‚Normalbevölkerung’ […] eine vergleichbare Häufung von Gesundheitsrisiken und Gesundheitsproblemen beobachten“ lässt (Lampert/Ziese 2005: 123). Dabei fallen Einkommensverluste und ggf. ein gesundheitlich bedingter Mehrbedarf zusammen. Eine gegensteuernde Politik müsste darauf zielen, Arbeitslose materiell abzusichern, die Gesundheit von Arbeitslosen zu fördern und die Arbeitsmarktchancen zu verbessern. „Voraussetzung hierfür ist eine Wirtschafts-, Bildungs-, Sozial- und Beschäftigungspolitik, die mit berücksichtigt, dass die Berufsbiographien in Zukunft aller Voraussicht nach weniger stetig als in den vergangenen Jahrzehnten verlaufen und immer mehr Menschen – wenn auch kurzzeitig – die Erfahrung von Arbeitslosigkeit machen werden.“ (Ebd.)

Die Hartz-Reformen weisen aber in eine andere Richtung (vgl. zur Arbeitsmarktpolitik von Rot-Grün allgemein: Mosebach 2002; Mosebach 2005). Die Einführung der „Grundsicherung für Arbeitssuchende“, ALG II, läuft für viele auf einen erheblichen Einkommens- und ggf. Vermögensverlust hinaus und liegt regelmäßig unter der Armutsrisikoquote von 938 € im Monat. Insofern wurde die Reformgesetzgebung als „gesetzlich verordnete Armut“ bezeichnet (Wahl 2005: 781). Die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln soll zwar nicht zu der Situation führen, dass Bedürftige mit körperlichen, geistigen oder seelischen Gebrechen unter dieser Verschärfung leiden (§ 10,1 SGB II). Der so aufgebaute Druck kann aber Armut im Sinn von Arbeit um jeden Preis fördern und mit erheblichen psychischen Belastungen einhergehen. Menschen, denen es schwer fällt, ihren Alltag zu organisieren, werden mit Sanktionen belegt, sind in der Regel bei Konflikten auch in ihrer Durchsetzungsfähigkeit eingeschränkt und drohen möglicherweise wegen des Erfolgsdrucks in der Arbeitsmarktvermittlung entweder zu wenig Unterstützung oder aber den Erwerbsfähigkeitsstatus abgesprochen zu bekommen. Wie eine sinnvolle (gesundheitliche) Unterstützung von Langzeitarbeitslosen finanziert werden könnte, bleibt demgegenüber u.a. unter dem Vorzeichen der Standortkonkurrenz eine offene Frage (vgl. Toumi 2005; Walter/Mosebach 2005).

Die Problematik reicht über den Umgang mit Arbeitslosen hinaus. Lockerungen des Kündigungsschutzes und andere Flexibilisierungen von Beschäftigungsverhältnissen sind zwar vorgeblich gegen die Ausgrenzung von Arbeitslosen und auf die Förderung ihrer Teilhabechancen gerichtet. Unter den gegenwärtigen Arbeitsmarktbedingungen verschärfen sie aber die Armutsrisiken und vergrößern sich die Wiederbeschäftigungsprobleme von Menschen mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit (vgl. Michelsen/Stegmüller 2004). Während der Netto-Beschäftigungserfolg einer Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen, der Förderung von Niedrigeinkommens-Selbständigkeit (Ich-AG) und eines Niedriglohnsektors (Mini- und Midi-Jobs) fraglich ist (vgl. Mosebach 2002 u. 2005: 145 ff.), wächst der Druck auf „reguläre“ Beschäftigungsverhältnisse. Es zeichnet sich ab, dass Armut trotz Arbeit („working poor“) produziert wird, bei der ein Erwerbsarbeitszwang nicht mit einer Anhebung von Teilhabe- und Verwirklichungschancen, sondern mit gesundheitlichen Belastungen verbunden ist, die nicht nur auf Armut, soziale Ungleichheit und fehlende Verwirklichungschancen, sondern auch auf miserable Arbeitsbedingungen zurückzuführen sind.[10][10]

Unter den gegenwärtigen Bedingungen wird sich das Armutsrisiko insbesondere für ältere Beschäftigte erhöhen. Sie sind in erheblichem Umfang von Arbeitslosigkeit betroffen. Mit der Hartz-Gesetzgebung und der Anhebung des Renteneintrittsalters droht sich eine Lebensspanne zu verlängern, in der angespartes Vermögen aufgebraucht werden muss. Wegen des Zusammenhangs von sozialer Lage und Arbeitslosigkeitsrisiko werden überproportional viele kleine Vermögen aufgezehrt werden müssen, und die Armutsproblematik verlängert sich in den Rentenbezug hinein. Die an dem Drei-Säulen-System aus gesetzlicher und betrieblicher Rente sowie privater Vorsorge ausgerichtete Altersrente (vgl. Mosebach 2005: 137ff) geht mit der Verringerung des Rentenniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung einher, während die Chancen auf eine betriebliche Rente und die Möglichkeiten der privaten Vorsorge sich proportional zu besser oder schlechter gestellten Beschäftigungsverhältnissen verteilen (vgl. Buhr 2004: 26). Zusammen mit der hohen Arbeitslosigkeit und der Verbreitung erheblich fragmentierter Erwerbsbiographien verlängern sich soziale Ungleichheiten aus der Erwerbsarbeitszeit auf eine Weise in den „Ruhestand“, dass von einer deutlichen Zunahme der Altersarmut auszugehen ist. Die Berücksichtigung von Erziehungsleistungen in der Alterssicherung ist zu begrüßen und kann das Armutsrisiko individuell verringern. Sie reicht aber nicht aus, die Veränderungen in den Erwerbsbiographien zu konterkarieren (vgl. Mosebach 2005: 137 ff.). Vermehrte Zuzahlungen für medizinische Behandlungen und die finanziellen Belastungen bei Pflegebedürftigkeit können die Betroffenen überfordern und vom Zugang zu Gesundheits- und Pflegeleistungen ausschließen. Die Einführung einer Grundsicherung im Alter, die vor „verdeckter Armut“ in diesem Lebensabschnitt schützt, in dem auf den Unterhaltsrückgriff des Sozialhilferechts weitgehend verzichtet wird, vermeidet das Anwachsen relativer Armut nicht. Auch bleibt sie den Sozialämtern angegliedert, wodurch möglicherweise eine Schamhürde, die verdeckte Armut begünstigt, erhalten bleibt (vgl. Buhr 2004: 19). Mit den zunehmenden Armutsrisiken wächst entgegen den politischen Beteuerungen die Bedeutung der Sozialhilfe. Aber die Reform der Regelsätze in der Sozialhilfe verstärkt die soziale Ungleichheit in Deutschland. Die Anpassung der Regelsätze und die stärkere Pauschalierung der Leistungen laufen auf ein abgesenktes politisch definiertes Existenzminimum hinaus (Ebd.: 21).[11][11]

Quasi zum Ausgleich für die wachsende Ungleichheit soll Chancengleichheit dadurch gefördert werden, dass soziale Benachteiligungen in der Kindheit gemildert und die soziale Ungleichheit bei Bildungschancen abgebaut wird. Die soziale Herkunft hat einen großen Einfluss auf Bildungschancen und wirkt sich auf Karriere- und Einkommensperspektiven aus: „Setzt man die Armutsrisikoquote bei 60% des Medianeinkommens, dann sind 12,6% der Männer und 17,8% der Frauen mit Volks- und Hauptschulabschluss als armutsgefährdet einzustufen gegenüber 9,3% der Männer und 11,7% der Frauen mit mittlerer Reife sowie 8,1% der Männer und 10,0% der Frauen mit Abitur.“ Altersstandardisiert ist das Armutsrisiko für Männer und Frauen mit Volks- und Hauptschulabschluss im Vergleich zu denen mit Abitur ca. 2 bzw. 2,4fach erhöht (ebd.: 55).

Den Benachteiligungen durch eine knappe Ressourcenausstattung können Eltern entgegenwirken, „wenn es ihnen trotz knapper finanzieller Ressourcen gelingt, ein positives Familienklima herzustellen und den Kindern Entwicklungs- und Erfahrungsanreize zu schaffen“ (vgl. Lampert/Ziese 2005: 145). Zweifellos ist „soziales Kapital“ im Sinn einer familiären und außerfamiliären Einbindung und Unterstützung eine zentrale Ressource (vgl. ebd). Es bleibt zu prüfen, ob nicht Problemlagen geschaffen werden, die es erschweren, soziale Benachteiligungen in der Kindheit auszugleichen – und die eine Abhängigkeit vom sozialen Kapital fördern, die soziale Ungleichheit verschärft. Im Hinblick auf gesundheitliche Einschränkungen von Kindern, die teilweise durch eine angemessene Frühförderung ausgeglichen werden können (Lampert/Ziese 2005: 170), ist zu prüfen, welchen Einfluss die soziale Lage auf die Förderung hat. Eine verringerte Bildungsarmut wirkt sich demnach positiv auf die Vermeidung und den Umgang mit gesundheitlichen Belastungen aus, wird aber von der zunehmenden relativen Armut konterkariert.

Während Bildung großen Einfluss auf die soziale Lage hat, trifft die Behauptung, dass mehr Bildung die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ist, nur sehr eingeschränkt und bezogen auf die individuellen Voraussetzung in der Konkurrenz um knappe Arbeitsplätze zu. Bei einer Knappheit an Arbeitsplätzen reproduzieren sich Unterschiede in der Bildung lediglich auf höherem Niveau (vgl. Hartmann 2005).

5. Gestaltung statt Anpassung

Die Ursachenanalyse im Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht ist entgegen dem eigenen Anspruch unzureichend. Es genügt nicht, Armutsrisiken wie schulische und berufliche Qualifikationen, geringe Erwerbseinkommen und Arbeitslosigkeit als statistisch signifikante Hauptrisiken in einem modernisierungstheoretischen Modell für Armut zu bestimmen. Es bleibt offen, ob es sich um Ursachen, Merkmalsassoziationen, Selektionskriterien oder Positionierungsressourcen in der Konkurrenz um knappe Güter handelt. Armut und Ausgrenzung werden nicht als konstitutive Probleme kapitalistischer Gesellschaften analysiert, denen die Politik durch eine Einbettung von Märkten und eine partielle Politik gegen Märkte entgegenzutreten hat.

Stattdessen wird auf die Herausforderungen der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften mit Investitionen in Humankapital reagiert (vgl. ebd.: 13), Wachstum sowie Beschäftigung in den Vordergrund gerückt und eine aktivierende Sozialpolitik an diesen ausgerichtet. Es reicht aber nicht aus, „die Menschen zu befähigen, flexibel auf Herausforderungen der Dienstleistungs- und Wissenschaftsgesellschaft zu reagieren“ (ebd.) und die Sozialpolitik den Kapitalverwertungsbedingungen anzupassen.

Es ist unverzichtbar, den sozialen Risiken entgegenzuwirken, statt sich den standortpolitisch begründeten Notwendigkeiten anzupassen und Wachstums- und Beschäftigungseffekte zu übergeordneten „sozialpolitischen“ Zielen zu machen. Denn „Anpassung“ als Schlüsselkategorie politischer Reformen birgt immer die Gefahr, dass diese im Zusammenhang mit einer Anpassung an den Weltmarkt oder an den Arbeitsmarkt sozialdarwinistisch als „survival of the fittest“ übersetzt wird. Wenn aber wie z.B. von Sen „Freiheit“ als übergeordnetes Ziel menschlicher Existenz und damit als Selbstzweck bestimmt wird, bedarf es einer Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich nicht auf eine „Gestaltung der Anpassung“ reduziert. So kritisiert Sen in seinem Plädoyer für Freiheit u.a. den Humankapitalansatz, dem in der Bildungspolitik und der Armutsbekämpfungsstrategie der Bundesregierung ein großes Gewicht beigemessen wird. Der Humankapitalansatz stellt die Mittel in den Vordergrund, beschäftigt sich mit der wirtschaftlichen Produktion, reduziert den tätigen Anteil von Menschen auf Produktivitätssteigerungen, konzentriert sich auf Wirtschaftswachstum und fragt nicht nach dem „warum“ (Sen 2000a: 347 ff.). Der Ansatz der Verwirklichungschancen stellt etwas anderes in den Mittelpunkt: „Bei den menschlichen Verwirklichungschancen anzusetzen heißt […], dass die grundlegende Freiheit der Menschen ins Zentrum gestellt wird, das für sie erstrebenswerte Leben zu führen und ihre realen Entscheidungsmöglichkeiten auszuweiten.“ (Ebd.: 348) Eine reformpolitische Orientierung an „Freiheit“, aber auch an „Gesundheit“ könnte Teilhabe- und Verwirklichungschancen fördern (vgl. Trojan/Leggewie 2001). Ein ausreichendes Maß an materieller Sicherheit ist dabei die unabdingbare Voraussetzung von Freiheit und Gesundheit, deren Verwirklichung unter den Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung stets gefährdet bleibt (vgl. hierzu: Butterwegge 2001; Lessenich/Möring-Hesse 2004). Die Agenda 2010 weist in eine andere Richtung.

Literatur

Beck, Stefan/Klobes, Frank/Scherrer, Christoph (ed.) (2005): Surviving Globalization? Perspectives for the German Economic Model.

Berkman, Lisa F./Kawachi, Ichiro (ed.) (2000): Social Epidemiology, Oxford u.a.

Bieling, Hans-Jürgen (2000): Dynamiken sozialer Spaltung und Ausgrenzung. Gesellschaftstheorien und Zeitdiagnosen, Münster

Bourdieu, Pierre (1993): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 6. Auflage, Frankfurt a. M.

BT-Drucksache 14/5990 v. 08.05.2001: Lebenslagen in Deutschland. Erster Armuts- und Reichtumsbericht.

BT-Drucksache 15/3270 v. 27. 05. 2004 Nationaler Aktionsplan für Deutschland zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2003 bis 2005 – Aktualisierung 2004. Strategien zur Stärkung der sozialen Integration.

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[1][12] Expertisen zum Bericht finden sich unter www.bmgs.bund.de/deu/gra/publikationen/ 4236.php?navpos=rechts

[2][13] Im alten Bundesgebiet fallen die Vermögen sowie die Ungleichverteilung höher aus als im neuen (ebd.: 62).

[3][14] Die Armutsrisikoquote bezeichnet den Anteil der Bevölkerung bzw. Haushalte mit einem Einkommen unter der Armutsrisikogrenze. Diese bezieht sich auf ein nach der neuen OECD-Skala bedarfsgewichtetes Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommen in der Höhe von 60 % des jeweiligen Medians (der Median markiert die Grenze zwischen den 50 % der Haushalte mit den geringeren und den 50 % mit den höheren Einkommen) und lag 2003 für einen Singlehaushalt bei 938 € (BT-Drucksache 15/5015: 38). Zur Verwendung des arithmetischen Mittelwerts und den Unterschieden zwischen den alten und den neuen Bundesländern s. ebd.: 44, zu den Konsequenzen der Umstellung von der alten auf die neue OECD-Skala s. BT-Drucksache 14/5990: 35.

[4][15] Ohne öffentliche Transfers hätte er bei 41,3 % (!) gelegen.

[5][16] Von den arbeitslos Gemeldeten waren 2004 bei seit 2003 steigender Tendenz 40,5 langzeitarbeitslos.

[6][17] Lampert/Althammer (2004: 325) weisen darauf hin, dass die Pflegeversicherung im Jahr 2002 immer noch von der Sozialhilfe „subventioniert“ wird (20,4% der Ausgaben der Hilfe in besonderen Lebenslagen).

[7][18] Der (Wohlfahrts-)Ökonom und (Moral-)Philosoph Amartya Sen wurde 1933 in Bengalen geboren. 1998 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. U.a. entwickelte er den „Sen-Index“ für UNIDO (vgl. Kallscheuer 2000: 145). Nachdem im ersten Bericht nur auf den Lebenslagenansatz zurückgegriffen wurde, soll der Rückgriff auf Sens Konzept den Anschluss an internationale Debatten und Statistiken erleichtern. International habe sich sein Konzept durchgesetzt. Aufgrund der großen Ähnlichkeiten der beiden Ansätze sei die Kontinuität zum ersten Bericht sichergestellt (BT-Drucksache 15/5015: 40). Eine kritische Auseinandersetzung mit Sens insbesondere von Adam Smith beeinflussten Überlegungen kann hier nicht geführt werden.

[8][19] Differenzierten Erklärungsmodellen stehen allerdings erhebliche Lücken im Wissen über detaillierte kausale Zusammenhänge gegenüber (vgl. Berkman/Kawachi 2000; Geyer 1997; Lampert/Ziese 2005; Leon/Walt/Gilson 2001; Mielck 2000).

[9][20] Lampert/Ziese (2005: 48 f. u. 58 f.) vermuten, dass Gesundheitsunterschiede auch zwischen Gruppen oberhalb der Armutsrisikogrenzen mit unterschiedlichen Stressbelastungen zusammenhängen, weil die hohe Arbeitslosigkeit und die „prekäre Arbeitsmarktanbindung großer Bevölkerungskreise“ die Angst vor einem sozialen Abstieg fördert und ein höherer Lebensstandard oftmals mit höheren finanziellen Verbindlichkeiten und Risiken verbunden ist.

[10][21] Vgl. hierzu den Beitrag von Priester/Reusch in diesem Heft (Anm. d. Red.).

[11][22] Gegenwärtig korrelieren soziale Ungleichheiten mit zunehmendem Alter immer weniger mit gesundheitlichen Belastungen. Genetisch bedingte Alterungsprozesse gewinnen an Gewicht und die am stärksten sozial wie gesundheitlich benachteiligten Personen sind bereits in jüngeren Jahren verstorben (vgl. Lampert/Ziese 2005: 190).

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