Diskussion – Kritik – Zuschriften

Anmerkungen zu Joachim Bischoffs Beitrag „Neuer Kapitalismus" in Z 63, September 2005

März 2006

Unvermeidlich kommt mir bei dem Artikel von Joachim Bischoff das Vorwort von Karl Marx zu seiner Arbeit „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ in den Sinn. Die dort niedergeschriebenen Erkenntnisse sind für mich der Durchbruch in der Gesellschaftswissenschaft, ein Durchbruch, an dem wir uns auch heute noch zu messen haben. „Eine Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue, höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind “1[1] Dieser Satz provoziert direkt die Frage: Sind in all den Strukturveränderungen der real existierenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht endlich Keime des „Neuen“ zu finden, Keime, die mit dem weiteren wirtschaftlichen Wachstum die alte Gesellschaftsordnung in Frage stellen könnten? Entwicklungen, die sich Marx und Engels vor 150 Jahren noch nicht einmal vorstellen konnten, liegen hinter uns. Auch der historischen Zeitrahmen, 300 Jahre kapitalistischer Gesellschaftsentwicklung, sollten unsere Suche nicht mehr so illusionär erscheinen lassen. In Bischoffs Artikel kann man Ansatzpunkte zu dieser Suche finden.

Ich halte es mit Marx und Engels. Nach ihnen bildet die Produktion und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte die Grundlage der Gesellschaft. Das Stichwort „Fordismus“ steht für ausgefeilte Bandarbeit in Großunternehmen, eine gut organisierte Bandarbeiterbelegschaft mit mächtigen Gewerkschaften im Rücken (vgl. Bischoff, S. 73). Ein gewisses Kräftegleichgewicht hatte sich in der Gesellschaft eingestellt. Dieses Gleichgewicht begann in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu bröckeln. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung lag eindeutig in der materiellen Produktion. Die Bandarbeit wurde teilweise automatisiert, der Bandarbeiter vom Automaten abgelöst. Es beginnt sich eine neue Produktionsweise im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung herauszubilden, große automatisierte Produktionslinien. Sicherlich stehen wir erst am Anfang dieser Entwicklung. Es wird sich als Grundtendenz zukünftiger wirtschaftlicher Entwicklung ergeben: Ablösung der Fließbandarbeit durch Automatisation – Ablösung des Bandarbeiters durch den Automaten.

Man kann Bischoff nur zustimmen: „Die Entwicklungsrichtung der gesellschaftlichen Wertschöpfung wird von den Kapitalgesellschaften – insbesondere den Aktiengesellschaften – bestimmt.“ Die Dominanz dieser Betriebe in der Wirtschaft und damit auch der Gesellschaft insgesamt wird von der Politik verschleiert. Herausgestellt, propagiert wird der mittelständische Unternehmer, schwer arbeitend, sich bis zur Erschöpfung für seinen Familienbetrieb einsetzend, Lehrlinge ausbildend usw. So werden die wahren Machtverhältnisse in Gesellschaft und Staat vernebelt. Es macht überhaupt wenig Sinn, zwischen Groß- und mittelständischen Betrieben zu unterscheiden. Denn die Automatisierung wird auch vor diesen Betrieben nicht halt machen. Vorraussetzung für die Automatisation bilden im Wesentlichen hohe Stückzahlen, große Serien und diese Bedingung wird der treibende Faktor sein bei der Bildung neuer großer Wirtschaftsräume, in unserem Fall das Zusammenwachsen des europäischen Wirtschaftsraumes.

In diesem Entwicklungsprozess verliert die Arbeiterklasse und mit ihr ihre wichtigste Klassenorganisation, die Gewerkschaft, Kampfkraft und Stärke. Wir sehen es aktuell. Betriebe drohen nicht nur, sondern sie können tatsächlich und bei Erhalt oder sogar Steigerung der Produktion Bandarbeiter entlassen. Entlassungen werden weniger von den Möglichkeiten der Automatisation gebremst als von der Sorge um die Destabilisierung der Gesamtgesellschaft. Eine ausgesprochen kontraproduktive, reaktionäre Rolle spielt dabei die meist vom Staat gestützte Forderung nach Lohnsenkungen und Streichung einst erkämpfter Vergünstigungen. Über die Verbilligung der lebendigen Arbeit soll von den Betrieben der Rationalisierungsdruck genommen werden. Gerade das Wesensmerkmal der kapitalistischen Wirtschaftsweise, die ununterbrochene Steigerung der Arbeitsproduktivität zwecks Bildung von Maximalprofit wird damit unterlaufen und durch die Verbilligung und Prekarisierung der lebendigen Arbeit ersetzt.

Was aber ist das Neue, in die Zukunft weisende der jetzigen gesellschaftlichen Entwicklung? Theoretisch vorbereitet von dem Buch von Alfred Granowski: „Weg aus der Orientierungslosigkeit“2[2] wird man in dem Artikel von J. Bischoff fündig. Fündig wird man allerdings nur, wenn man den Glauben an die „Mission der Arbeiterklasse“ ad acta legt. Diese Mission war der Irrtum von Marx und Engels, verbunden mit all seinen Weiterungen und Schlussfolgerungen. Bewiesen hat das die gesellschaftliche Praxis der seitdem vergangenen 150 Jahre und auch theoretisch kann man das leicht schlussfolgern: Die Rolle der Arbeiterklasse in der kapitalistischen Gesellschaft entspricht der Rolle der Bauerklasse im Feudalismus. Die Rolle, die die Bourgeoisie bei der Überwindung der Feudalgesellschaft gespielt hat, kann die Arbeiterklasse bei der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft nicht übernehmen. Diese Rolle wird eine Klasse übernehmen, die sich im Schoße der alten Gesellschaft entwickelt, verbunden und im Privatbesitz des modernsten Produktionsmittels unserer Zeit, dem Computer – siehe Marx’ eigene Erkenntnis. Theoretisch hat sich von allem Alfred Granowski in dem angeführten Buch mit dieser Frage und den weitgehenden Schlussfolgerungen beschäftigt. Was mich beeindruckt am Artikel von Joachim Bischoff ist, dass er genau die Tendenzen in der Praxis nachweist, die Granowski theoretisch erschließt.

Marx und Engels schrieben in „Die deutsche Ideologie“: „Jede neue Produktivkraft, sofern sie nicht eine bloße quantitative Ausdehnung der bisher schon bekannten Produktivkräfte ist …, hat eine neue Ausbildung der Teilung der Arbeit zur Folge.“3[3] Ich halte folgende Feststellungen von Bischoff für außerordentlich bedeutsam. „Die Entwicklungsrichtung der gesellschaftlichen Wertschöpfung wird von den Kapitalgesellschaften – insbesondere den Aktiengesellschaften – bestimmt. Unter dem Druck der Eigentümer und der professionellen Vermögensverwalter werden allerdings die Entwicklungspotentiale der Aktiengesellschaften eingeengt. Die Konzentration auf die Kernkompetenz und der Umbau des Unternehmensnetzes mit dem Ziel, die Eigenkapitalrendite zu steigern, schließt das Anstoßen von Kreativitätspotenzialen ein. Dies kompensieren die Großunternehmen durch einen kontinuierlichen Zukauf von kleineren Unternehmen.“ Hier wird in der Großindustrie nicht nur eine Trennung von Produktion und Erzeugnisentwicklung in gesonderte Unternehmensbereiche konstatiert, sondern die Entwicklung von Erzeugnis- und Verfahrenssoftware wird spezialisierten, völlig selbstständigen Betrieben überlassen und dort eingekauft. In die gleiche Richtung zielen nun schon seit Jahren die Bestrebungen bei Siemens in München, wo man gern hunderte von „Wissensarbeitern“ entlassen bzw. in die Selbstständigkeit drängen möchte, um erforderliche Erzeugnis- und Verfahrenssoftware dann bei ihnen einzukaufen. Granowski hat in seinem Buch zu dieser Entwicklung (S. 156) folgendes geschrieben: „Die gesellschaftliche, im Rahmen eines globalen Computerverbundsystems stattfindende Entwicklung von Erzeugnis- und Produktionssoftware, d. h. des Know-hows von Erzeugnissen und Produktionsverfahren sowie der Datenverarbeitungsprogramme für deren computergestützte Steuerung, stellt ein hocheffektive, die optimale Ausbeutung des gesellschaftlichen Forschungs- und Entwicklungspotentials ermöglichende geistige Produktionsweise dar, welche die Leistungsfähigkeit jeder anderen Form der Erzeugnis- und Produktionsverfahrensentwicklung nicht nur bei weitem übertreffen, sondern auch bestimmte Forschungen und Entwicklungen erst möglich machen wird. Die Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker werden aufgrund ihrer Verfügungsgewalt über das globale Computerverbundsystem und ihre gesellschaftliche Produktionsweise innerhalb derselben ihre gesellschaftliche sowie ökonomische Position stärken und damit eine weitgehende stabile Unabhängigkeit erlangen.“ Alfred Granowski beschreibt unter anderem die Entstehung einer neuen Klasse, die berufen sein wird, dereinst die mehr und mehr parasitär werdende Klasse der Anteilseigner oder Investoren der Großunternehmen von ihren wirtschaftlichen Machtpositionen zu verdrängen. Wie es nach den Darlegungen von Bischoff scheint, werden die von Machtverschiebungen bzw. von einem Machtwechsel in den Betrieben hin zu den Anteilseignern oder Investoren betroffenen Manager der sich neu bildenden Klasse zuneigen. Die soziale Basis dieser sich vor unseren Augen formierenden Klasse wird sich um eine weitere kompetente Wirtschaftsschicht erweitern. Das gleiche kann man bei Granowski (S. 158) und bei dem von ihm zitierten Karl Marx lesen.

1[4] Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels, Ausgewählte Werke in 6 Bänden, Bd. II, S. 503/504.

2[5] Alfred Granowski, Weg aus der Orientierungslosigkeit, Bonn 2004

3[6] Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: Marx/Engels, a.a.O., Bd. I, S. 208

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  4. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftnref2
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