Hunger und Nahrungsmittelkrise der Dritten Welt

Hunger und Überproduktion: Gensoja in Brasilien

Dezember 2008

Schon seit längerer Zeit wird von interessierter Seite die Steigerung der Produktivität bei der Nahrungsmittelerzeugung als wichtigstes Mittel der Hungerbekämpfung bezeichnet. Das Szenario steigender Bevölkerungszahlen und von immer mehr an Hunger leidenden Menschen wird als Rechtfertigung für die Einführung „technischer Fortschritte” in der Landwirtschaft dargestellt. Nach dieser Vorstellung schafft die herkömmliche Landwirtschaft es nicht, genügend Nahrungsmittel für eine bis 2050 auf 9,37 Milliarden Menschen geschätzte Weltbevölkerung zu erzeugen (Deak 2003). Die Gentechnik wird als Ausweg propagiert, damit besonders arme Länder ihre Lebensmittelproduktion nicht nur steigern, sondern auch qualitativ verbessern können. Stimmt dieses Konzept und inwieweit kann die technische Entwicklung der Landwirtschaft zur Hungerbekämpfung beitragen? Die Marxsche Gesellschaftstheorie und das in ihrem Rahmen entwickelte Konzept der Familienlandwirtschaft von Tschajanow dient hier als theoretische Grundlage. Die brasilianische Sojaproduktion mit Einsatz der Gentechnik wird als empirische Basis zur Analyse kapitalistischer Landwirtschaft genommen.

1. Hunger und Überproduktion – ein Merkmal kapitalistischer Landwirtschaft

Überlebte die Menschheit in früheren Zeiten mit einer sehr geringen Produktion von Nahrungsmitteln und mussten während Mangelperioden, vor allem durch Naturkatastrophen, viele Menschen sterben, so sind wir heutzutage mit einer ganz anderen Situation konfrontiert: Der Überproduktion. Es wird eigentlich zu viel produziert; Nahrungsmittel werden beim Transport verschwendet und verderben in den Lagern; Prämien zur Stilllegung landwirtschaftlicher Betriebe wurden in den Industrieländern eingesetzt und große Mengen an Nahrungsmitteln werden absichtlich zerstört, damit die Preise nicht sinken. Aber trotzdem steigt der Hunger weltweit: Nach den aktuellen Berichten der UN-Welternährungsorganisation FAO betrifft der Hunger ca. 42 Millionen Menschen mehr als vor 20 Jahren, obwohl die Nahrungsmittelproduktion in der selben Zeit um 15% gestiegen ist: Es hungern weltweit 842 Millionen Menschen, wovon 798 Millionen in den „Entwicklungsländern“ leben und 70% Bauern und Landlose sind (FAO 2003).

Hungerbekämpfung kein technisches Problem

Nach offiziellen Angaben der FAO könnten jeden Tag 2.800 Kalorien pro Kopf verbraucht werden, gäbe es eine gerechte Verteilung der Nahrungsmittelproduktion (1.900 Kalorien benötigt ein Mensch pro Tag, so die FAO). „Es könnten zwei kg Nahrung täglich pro Mensch zur Verfügung stehen, davon 1,1kg Getreide, 450g Fleisch, Milch und Eier und außerdem noch 450g Früchte und Gemüse.“ (Londres 2003: 6) Eine zu niedrige Nahrungsmittelproduktion kann also überhaupt nicht mehr als Ursache des Hungers angegeben werden, was im Übrigen auch der Prognose von Thomas Malthus aus dem 19. Jahrhundert über das Risiko einer zunehmenden Weltbevölkerung mit unzureichender Verfügung an Lebensmitteln widerspricht[1][1], denn mindestens seit 1961 übersteigt die Menge verfügbarer Nahrungsmittel pro Kopf den entsprechenden menschlichen Bedarf, was bedeutet, dass seit 1961 niemand mehr an Hunger oder Unterernährung hätte leiden müssen, würde die produzierte Menge entsprechend dem Bedarf verteilt (Bogner 1981).

Das Problem des Hungers ist deshalb kein technisches Problem und es hängt auch nicht mehr von einer unzureichenden Produktionsmenge ab. Es ist auch kein Problem der Überbevölkerung, denn es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen Hunger und Bevölkerung: Vom Hunger betroffen sind sowohl Länder mit einer großen Bevölkerungsdichte wie Bangladesch und Haiti, aber auch Länder mit einer geringen Bevölkerungsdichte wie Brasilien und Indonesien. Es ist auch nicht so, dass physische Ressourcen oder Naturkatastrophen allein dafür verantwortlich gemacht werden können, sondern es handelt sich um ein Problem der Verteilung. Viele Naturkatastrophen werden auch durch die Art menschlicher Eingriffe in das Ökosystem verursacht bzw. verstärkt; dies gilt u.a. auch für die auf hoher Produktivität basierende Landwirtschaft (Abholzung von Wäldern, langjähriger Anbau von Monokulturen, Auslaugung und Erosion des Bodens, Einsatz von Chemikalien usw.).

Landkonzentration und Hunger in Brasilien

Wenn von Ressourcen die Rede ist, stellt Eigentumskonzentration in vielen Ländern ein wichtiges Problem dar, wie z.B. in Brasilien, wo eigentlich nur ein Teil des verfügbaren landwirtschaftlichen Bodens bewirtschaftet wird und circa 100 Millionen Hektar brachliegen (Marques 1999). Würden diese Ressourcen nachhaltig genutzt, könnte die Bevölkerung sich sogar verdoppeln, ohne dass es zu Problemen bei den Produktionsmengen käme. Aber von den 180 Millionen Brasilianern leiden trotzdem 44 Millionen an qualitativer Unterernährung. Wegen der Landkonzentration und der auf Export basierenden Landwirtschaft in Brasilien ist es ein Paradox, dass gerade auf dem Land 15 Millionen Menschen an Hunger leiden (Fome Zero 2002). Es ist wieder ein politisches Problem, das nicht so einfach durch die Förderung oder Stärkung der Landwirtschaft gelöst werden kann. Im Gegenteil; die Förderung der auf Export basierenden Landwirtschaft hat dazu beigetragen, dass die Nahrungsmittelproduktion zugunsten der Monokulturen reduziert wurde (Kageyama/Silva 1983).

Gentechnik keine Alternative

Wenn das Hungerproblem nicht durch technische Fortschritte gelöst werden kann, dann stellt die Gentechnik auch keine Alternative zur Hungerbekämpfung dar. So wie die „Modernisierung“ der Landwirtschaft ab den fünfziger Jahren das Versprechen der Hungerbekämpfung nicht einlösen konnte, so wird die arme Bevölkerung heute auch nicht von der Gentechnik profitieren, sondern profitieren werden große Unternehmen wie Monsanto, die mit der Kontrolle über das Saatgut und die Chemikalien verdienen. Durch die Kontrolle über das Saatgut werden die Konzerne auch die Nahrungsmittelproduktion kontrollieren können: Was angebaut wird, welche Betriebsmittel eingesetzt und wo die Produkte verkauft werden (Vgl. Mooney 1987: 51). Deswegen ist auch damit zu rechnen, dass durch das Monopol an Saatgut und die Zahlung von Lizenzgebühren die landwirtschaftliche Produktion teurer und der Zugang zur Nahrung für die Armen noch schwieriger wird. Außerdem sind die bisher angebauten transgenen Pflanzen für den Export in die Industrieländer bestimmt. Diese Pflanzen sind nicht ertragreicher als die konventionellen, sondern auf Herbizid- und Insektentoleranz entwickelt worden, so dass sie nicht zu der angeblich als Lösung angekündigten Ertragssteigerung beitragen können. Die Ursachen des Hungers wie Armut, soziale Ungleichheit und fehlender Zugang zu den Produktionsmitteln werden durch den Einsatz gentechnisch veränderter Pflanzen nicht gelöst, sondern wahrscheinlich noch verschärft, denn er kann zu einer noch größeren Landkonzentration, zu Landflucht, sozialer Ausgrenzung und Abhängigkeit vieler Kleinbauern führen.

2. Familienlandwirtschaft und die Ansicht Tschajanows

Die Familienlandwirtschaft, die sowohl den Grundbesitz wie die Arbeit an die Familie bindet, kann einerseits als Hindernis der Entfaltung des Kapitalismus gesehen werden und von daher als aussterbende Organisationsform der Produktion; sie spielt aber andererseits in vielen Ländern noch eine wichtige Rolle bei der Versorgung mit preiswerten Lebensmitteln und zum Transfer von Mehrwert an die Agrarindustrie, was sie vorteilhaft für das gesamte System macht. Da die Familienlandwirtschaft keinen Arbeitslohn und keinen Profit im klassischen Sinne kennt, kann sie als eine Produktionsform innerhalb des Kapitalismus bezeichnet werden, die gleichzeitig eine große Widerstandskraft und eine Fähigkeit zur Selbstausbeutung besitzt, Eigenschaften, die ihr bisheriges Überleben erklären helfen. Dennoch ist die Familienlandwirtschaft abhängig von der Produktionslogik der kapitalistischen Gesellschaft, deren Veränderungen an den Produktivkräften die Produktionsverhältnisse innerhalb der Familie ständig beeinflussen. Die zunehmende Integration der Familienlandwirtschaft in die kapitalistische Marktwirtschaft fordert ihre Anpassung und die Notwendigkeit, konkurrenzfähig zu werden, indem sie dem technischen Fortschritt „moderner“ Landwirtschaft folgt, wodurch wiederum die widersprüchlichen Elemente von Koexistenz und Auflösung deutlich werden.

Tschajanows These

Nach Ansicht des sowjetischen Agrarwissenschaftlers Alexander Tschajanow (1888-1937) ist der Übergang traditioneller bäuerlicher Landwirtschaft zu moderneren Methoden eine Folge der Logik ihrer eigenen Organisationsweise. Das Bauerntum existiere als eine soziale Notwendigkeit und deshalb sei es wichtig, seine inneren Eigenschaften zu entdecken, um seine gesamte Produktionsform zu verstehen. Tschajanow sieht in seiner 1923 veröffentlichten „Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft“ die Möglichkeit einer Koexistenz zwischen verschiedenen Formen von Landwirtschaft im Kapitalismus und von daher die Möglichkeit des Überlebens der bäuerlichen Produktionsform. „Die gegenwärtige Weltwirtschaft ist ein Konglomerat wirtschaftlicher Bildungen, in welchem sich kapitalistische Formen mit allerlei mischen. (...) Fast überall sind neben Wirtschaften, die ganz auf eigener Arbeit beruhen, auch unzweifelhaft kapitalistische Gebilde zu verzeichnen.“ (Tschajanow 1987: 131, 103). Weil die bäuerliche Landwirtschaft nicht dazu tendiere, die zunehmenden ökonomischen Ungleichheiten und Klassenantagonismen der kapitalistischen Industriegesellschaft zu reproduzieren, sei sie in der Lage, noch eine Weile zu überleben. Mit der Tatsache konfrontiert, dass das Aussterben von Kleinbauern viel langsamer stattfand, als von vielen Autoren prognostiziert, geht Tschajanow auf die Frage ein, welche Transformationen das Bauerntum durch seine fortschreitende Integration in die Marktwirtschaft erlebt.

Die klassischen marxistischen Autoren zum Thema Landwirtschaft sind sich mit den liberalen Autoren darin einig, dass die Familienlandwirtschaft aus eigener Kraft nicht in der Lage ist, der „Modernisierung“ im Agrarbereich zu folgen. Es handele sich um die Tendenz zur kapitalistischen Differenzierung in der Landwirtschaft, worüber sich im Großen und Ganzen sowohl Marx, Engels, Lenin und Kautsky als auch Tschajanow einig sind. Wichtige Aspekte der kapitalistischen Differenzierung sind die Kostenstruktur und die internationale Konkurrenz landwirtschaftlicher Produkte, wodurch sich die Konkurrenz zwischen den Bauern selbst vertieft. Außerdem zwinge der tendenzielle Fall der Profitrate in der kapitalistischen Wirtschaft die Bauern zu einer ständigen Erhöhung der Produktion (Marx, 1983).

Abhängigkeit der Familienlandwirtschaft

Tschajanows Theorie unterscheidet sich jedoch von den klassischen marxistischen Agrartheoretikern insoweit, als er den Blickwinkel ändert, d.h. er geht von den Besonderheiten der von ihm so bezeichneten bäuerlichen Familienwirtschaft aus, um wichtige Veränderungen und Anpassungsstrategien einzuschätzen. Dabei stützt er sich weder auf die Erhaltung der bäuerlichen Landwirtschaft in ihrer traditionellen Form noch auf einen irreversiblen Zerfall ihrer Produktionsform. Er opponiert gegen die Idee „je größer, um so effizienter“ und schlägt einen Übergang für die Familienlandwirtschaft vor, der endogen aus dem konkret existierenden Stand ihrer Entwicklung von unten betrieben werden sollte. Die Methode lehnt die Maximierung ab und setzt ihre Kraft auf eine Optimierung der Produktion, auf eine progressive Verbesserung der Organisation landwirtschaftlicher Produktion. Die wichtigste Auseinandersetzung Tschajanows mit den Marxisten seiner Zeit – und damit über den agrarpolitischen Kurs der jungen sowjetischen Regierung – war angeblich die Betrachtung der Familienlandwirtschaft als eigenständiges Wirtschaftssystem. Tschajanow behauptet aber nicht, dass die Familienwirtschaft außerhalb der kapitalistischen Produktionsweise existiert, sondern dass sie mit ihr verflochten ist und von ihr ausgebeutet wird. Das Aussterben der Kleinbauernschaft ist Folge seiner kapitalistischen Durchdringung und nicht nur Ergebnis seiner Differenzierung in kapitalistische Lohnarbeiterbetriebe und besitzlose Landarbeiter, wie vor allem Kautsky und im Anschluss an ihn Lenin es sahen. Tschajanows Analyse der Ausbeutung des bäuerlichen Familienbetriebes durch den kapitalistischen Handel kann unseres Erachtens deshalb durchaus in Verbindung mit der Marxschen Analyse der Landwirtschaft im Kapitalismus und seinen Prognosen für ihre Zukunft betrachtet werden.

3. Familienlandwirtschaft, Agrobusiness und Sojaproduktion in Brasilien

In Brasilien hat die im 20. Jahrhundert begonnene kapitalistische Modernisierung ähnlich wie in anderen Ländern nicht die ungleiche Wirtschaftsstruktur der Gesellschaft aufgelöst. Im Gegenteil, sie basiert auf der Strategie der Exportorientierung, um internationale Devisen zu erlangen und dadurch die Industrialisierung des Landes voranzutreiben.

Sojaproduktion für den Export

Insbesondere ab den 1950er Jahren wird neben den bekannten Monokulturen eine aus Asien stammenden Pflanze angebaut, die schrittweise zum inzwischen wichtigsten Exportprodukt Brasiliens wurde: die Sojabohne. Riesige internationale Kredite wurden aufgenommen, um die Sojamonokultur einzuführen und diese den Bauern durch ein von der Regierung neu errichtetes Genossenschaftssystem subventioniert zur Verfügung zu stellen. Doch durch die Krise der Sojamonokultur in den achtziger Jahren wurden die negativen Auswirkungen der „Modernisierung“ der Landwirtschaft deutlich. Der bis in die fünfziger Jahre noch große Anteil an Urwald und die diversifizierte Landwirtschaft wurden durch die Ausbreitung der Sojamonokultur weitgehend zerstört. Immer größere Anbauflächen wurden benötigt, was die Schwierigkeiten der Kleinbauern in dem Maße vergrößerte, dass viele gezwungen wurden, ihre Produktion aufzugeben. Die sinkenden Preise für Soja und die Notwendigkeit zunehmender Investitionen zur Ertragssteigerung und/oder zum Kauf weiterer Anbauflächen führten im Zusammenhang mit dem Ende der subventionierten Kredite und der Erhöhung der Zinsen ab den achtziger Jahren in eine wirtschaftliche Sackgasse, deren sichtbarste Folgen die Landflucht und die Verarmung von Kleinbauern sind.

Stabilisierung der Abhängigkeit des Südens

Die Sojaproduktion für den Agrarexport mit ihren Auswirkungen ist ein gutes Beispiel für die sogenannte Globalisierung der Landwirtschaft, denn spätestens seit Ende der neunziger Jahre gilt Soja als der billigste Eiweißträger für die Massentierhaltung in Europa, was zur rasanten Erhöhung der Nachfrage führte. Damit große Flächen mit Soja zu geringen Kosten angebaut werden können, wird stark auf den Einsatz der Gentechnik gesetzt. Die Vertiefung der Abhängigkeit des Südens vom Norden spielt dabei eine entscheidende politische Rolle, denn bei der Gentechnologie ist die transnationale Bioindustrie des Nordens an der Vielfalt genetischer Ressourcen des Südens interessiert. Die u.a. von Wallerstein (1979) beschriebene internationale Arbeitsteilung, in der Entwicklungsländer sich auf den Export von Rohstoffen und die Industrieländer sich auf Fertigprodukte konzentrieren, bleibt dabei erhalten und wird vertieft. Den Agrarkonzernen geht es im Grunde darum, die bisher noch nicht „inwertgesetzten“ Naturressourcen und deren Wirtschaftspotenziale in die kapitalistische Marktwirtschaft zu integrieren und zur privaten Kapitalakkumulation zu nutzen.

Es besteht also weiter die schon länger bekannte Agrarstruktur, in der der Süden Rohstoffe liefert und die wirtschaftlichen Gewinne und die wirtschaftliche Macht im Norden bleiben. „Über 90% der weltweiten Biodiversität sind in den Ländern des Südens zu finden, aber Unternehmen aus Industriestaaten besitzen 97% aller geistigen Eigentumsrechte.“ (Mayer et al. 2002: 14) Daraus folgt, dass Agrarkonzerne aus dem Norden durch Patentrechte ermächtigt sind, sich Lebewesen und traditionelles Wissen aus dem Süden anzueignen, daraus Produkte zu entwickeln und diese den selben Ländern als Erfindung anzubieten und die Zahlung von Lizenzgebühren für deren Nutzung zu fordern. Es handelt sich um die Ausbeutung der Entwicklungsländer mit anderen Mitteln, wobei Währungskrisen und die Verschuldung der ärmsten Länder sie in eine Sackgasse führen und die Abhängigkeit der Peripherie von den wirtschaftlichen Zentren zunimmt. In der „globalisierten“ Weltwirtschaft werden die schon bestehenden Asymmetrien zwischen armen und reichen Ländern vertieft, indem der hohe Lebensstandard der Industrieländer auf der Externalisierung von sozialen und ökologischen Kosten in den Entwicklungsländern basiert (Massarat 1999). Dies führt zu neuen Abhängigkeiten und zur Vertiefung der Machtungleichheit, sowohl zwischen den Ländern als auch zwischen den Akteuren in den Entwicklungsländern selbst bezüglich des ungleichen Zugangs zu Produktionsmitteln und lebenswichtigen Ressourcen. Die „Schuldenfalle“ und die daraus folgende finanzielle Abhängigkeit von Ländern spielt dabei eine zentrale Rolle bezüglich der Unterwerfung und zunehmenden Verwundbarkeit der Wirtschaft und des Nationalstaats in den Entwicklungsländern.

Das Argument von Seiten der Industriestaaten und internationalen Organisationen wie der Weltbank und des IWF lautet, Entwicklungsländer hätten gerade aufgrund ihrer Vielfalt an genetischen Ressourcen die Chance, Investitionen anzuziehen und ihre Exporte zu steigern, damit sie ihre Handelsbilanz verbessern und der Zahlung von Auslandschulden gerecht werden könnten. Soja ist für Brasilien das wichtigste Exportprodukt und trägt stark dazu bei, dass das Land mittlerweile seine Handelsbilanz verbessern konnte. Der Sojaexport brachte dem Land Devisen, was von Seiten der Regierung als entscheidend zur Stabilisierung der Außenhandelsbilanz eingeschätzt wird. Die positive Handelsbilanz Brasiliens ist – im Rahmen neoliberaler Orientierungen[2][2] - wichtig zur Bedienung der Auslandsschulden.

Förderung der Familienlandwirtschaft als Alternative

In einem Land, in dem 44 Millionen Menschen an Hunger leiden[3][3], viele Grundnahrungsmittel auf Grund der auf Export ausgerichteten Agrarpolitik importiert werden müssen und die Familienlandwirtschaft hinsichtlich der Erhaltung einer diversifizierten Produktion für den größten Teil der Nahrungsmittelproduktion zuständig ist, könnte eine Umkehrung der Prioritäten zugunsten der Familienlandwirtschaft eine riesige Chance bieten. Eine Veränderung der Agrarpolitik zugunsten einer regionalen Nahrungsmittelproduktion würde die Selbstversorgung der ärmsten Bauern mit Nahrungsmitteln verbessern und deren Abhängigkeit von der paradoxen Lebensmittelversorgung durch die Regierungen verringern. Zugleich wird die Zunahme der Nahrungsmittelproduktion zur Verbesserung der regionalen Versorgung beitragen, wenn in erster Linie Familienbetriebe unterstützt werden (Andrioli 2007).

Nach Angaben des brasilianischen Ministeriums für Agrarentwicklung entfallen auf die 4.139.369 noch existierenden landwirtschaftlichen Familienbetriebe (85% der brasilianischen Bauern) 10% des Bruttoinlandprodukts, 77% der ländlichen Arbeitsplätze und der größte Teil der Nahrungsmittelproduktion, also 67% der schwarzen Bohnen, 84% des Manioks, 49% des Mais, 54% der Milch, 58% der Schweine und 40% des Geflügels und der Eier (MDA 2004). Auch 1/3 des sogenannten Agrobusiness und 32% der brasilianischen Sojaexporte werden in Familienbetrieben erzeugt, die daher keineswegs als Subsistenzwirtschaft bezeichnet werden können (Rosseto 2005). Auf diesem Hintergrund kann die Förderung der Nahrungsmittelproduktion in Familienbetrieben als Teil eines staatlich geförderten Entwicklungsmodells in Brasilien angesehen werden, indem sie mit weiteren Programmen wie zum Beispiel der Agrarreform verbunden wird und sich folgende Ziele setzt: a) Umverteilung und Armutsbekämpfung; b) Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen; c) Ankurbelung des Binnenmarkts; d) Demokratisierung des Zugangs zum Land; e) Förderung der Nahrungssouveränität und des Umweltschutzes.

Ein solches Konzept politisch durchzusetzen scheint in Brasilien jedoch sehr schwierig zu sein, da die Interessen des auf Export basierenden Agrobusiness größtenteils das Handeln der Regierungen bestimmen, stark im Parlament und in der Judikative vertreten sind und einen erheblichen Einfluß auf die Gesellschaft insbesondere durch die Medien ausüben. Gensoja wird als Chance gesehen, riesige Ländereien mit geringem Arbeitseinsatz zu bewirtschaften. Die großbäuerlichen Sojaproduzenten stützen vielfach die Regierungen, was wiederum mit deren Bestreben übereinstimmt, die politische Regierungsfähigkeit zu erhalten und auszubauen. Gensojaanbau beschleunigt jedoch das Aussterben von Kleinbauern, da es deren Abhängigkeit von teuren Inputs erhöht und die Zerstörung natürlicher Ressourcen zur Folge hat. Die Familienlandwirtschaft tendiert dazu, sich an die kapitalistisch geprägte Technikentwicklung anzupassen und dadurch zerstört zu werden, was wiederum das Potential des Landes zur Selbstversorgung verringert und die Zahl der hungernden Menschen erhöht, die mehrheitlich auf dem Lande leben und durch die kapitalistische Entwicklung nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu ernähren.

Literatur

Andrioli, A. I. (2007): Biosoja versus Gensoja: Eine Studie über Technik und Familienlandwirtschaft im nordwestlichen Grenzgebiet des Bundeslandes Rio Grande do Sul (Brasilien). Frankfurt am Main

Andrioli, A. I./Schmalz, S. (2005): Brasilien: politische Wende oder Fortsetzung neoliberaler Politik? In: Boris, D./Schmalz, S./Tittor, A.: Lateinamerika: Verfall neoliberaler Hegemonie? Hamburg

Bogner, A./Franke, M. (1981): Die Hungerproduzenten: Die europäische Landwirtschaftspolitik fördert Hungersnöte in der „Dritten Welt“. Wien, München

Deak, A. (2003): As raízes do problema. Revista Novae, São Paulo, 03.07.2003. <http: //www.novae.inf.br[4]> (03.07.2003).

FAO. (2003): The State of Food Insecurity in the World 2003. Monitoring progress towards the World Food Summit and Millennium Development Goals. Rom

Fome Zero. (2002): Report of the Joint FAO/IDB/WB/Transition Team Working Group. <http://www.fomezero.gov.br/downoload/FinalReport.doc[5]> (05.12.2003).

Kageyama, Â. A./ Silva, J. G. (1983): Os resultados da modernização agrícola dos anos 70. Revista Estudos Econômicos. Campinas

Londres, F. (2003): Transgênicos no Brasil: as verdadeiras conseqüências. Rio de Janeiro

Malthus, T. (1986): An essay on the principle of population as it affects the future improvement of society: with remarks on the speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet and other writers. Düsseldorf

Marques, H. (1999): Governo cancela cadastros de 3.065 latifúndios. O Estado de São Paulo, São Paulo, 17.09.1999.

Marx, K. (1983): Das Kapital. Band III. MEW 25. Berlin

Massarat, M. (1999): Nachhaltige Entwicklung durch Kostenexternalisierung. Theorieansätze zur Analyse und Reform globaler Strukturen. In: Thiel, R. (Hrsg.) Neue Ansätze zur Entwicklungstheorie. Bonn

Mayer, C./Frein, M./Reichert, T. (2002): Globale Handelspolitik – Motor oder Bremse nachhaltiger Entwicklung? Eine Zwischenbilanz zehn Jahre nach Rio. Bonn (Forum Umwelt & Entwicklung/EED)

MDA – Ministério do Desenvolvimento Agrário. (2004). http://www.mda.gov.br

Mooney, P. R. (1987): O Escândalo das sementes: o domínio na produção de alimentos. São Paulo

Rossetto, M. S. (2005): Agricultura familiar tem peso econômico. Brasília

Tschajanow, A. (1987): Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft: Versuch einer Theorie der Familienlandwirtschaft im Landbau. Frankfurt am Main

Wallerstein, I. (1979): Aufstieg und künftiger Niedergang des kapitalistischen Weltsystems. In: Senghaas, D. Kapitalistische Weltökonomie. Kontroversen über ihren Ursprung und ihre Entwicklungsdynamik. Frankfurt am Main

[1][6] Vgl. Malthus 1986.

[2][7] Vgl. Andrioli/Schmalz 2005.

[3][8] Fome Zero 2002.

Links:

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