Editorial

Juni 2020

Wir hatten im letzten Heft (Z 121, März 2020) nach den Widerspruchs- und Konfliktfeldern gefragt, die die nächsten Jahre bestimmen werden. Kaum war das Heft erschienen, wurden wir mit einer Krise konfrontiert, ausgelöst durch die „Corona“-Pandemie, die niemand erwartet hatte, mit der aber nach allen Erfahrungen mit zurückliegenden Pandemien und den Voraussagen der Experten gerechnet werden musste. Es stellte sich rasch heraus, dass entsprechende staatliche Vorsorgepläne sang- und klanglos ad acta gelegt worden waren – auch dies Ausdruck eines gestörten Mensch-Natur-Verhältnisses. Im öffentlichen Diskurs wird diese Krise als „Ereignis von außen“, dem Einschlag eines Meteoriten vergleichbar, interpretiert – das ist sie natürlich nicht. Sie ist durch und durch eine gesellschaftliche Krise. Worin besteht ihr Charakter, welche Probleme wirft sie für die nahe Zukunft auf? Dem sind die meisten Kommentare und eine Reihe von Beiträgen aus der Redaktion, die wir in einem Artikel zusammengestellt haben, gewidmet. Die gesellschaftliche Linke muss davon ausgehen, dass sowohl ‚traditionelle‘ Verteilungsfragen als auch ökologische Zukunftsfragen ‚nach der Krise‘ stärker denn je umkämpft sein werden.

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Das vorliegende Heft ist Friedrich Engels aus Anlass seines 200. Geburtstags am 28. November gewidmet. Erste Publikationen sind erschienenen, erste Tagungen haben stattgefunden, so an der Wuppertaler Universität (s. Bericht S. 198ff). Die in Brighton geplante internationale Tagung musste dank Corona-Krise auf 2021 verschoben werden. Das letzte „Engels-Heft“ von „Z“ liegt lange zurück: Nr. 22 vom Juni 1995, anlässlich seines hundertsten Todestages, mit dem Titel „Orientierungen historisch materialistischer Theorie“. Diesmal stehen biographische und werkgeschichtliche Aspekte mit Gegenwartsbezug im Vordergrund.

Engels war Intellektueller und Kommunist, Kapitalist und Klassenverräter. Wie sich der 1820 in eine Wuppertaler Industriellenfamilie Geborene aus den religiös-ideologischen Bindungen des Restaurations-Pietismus seiner Familie und ihrem konservativen Gesellschaftsbild herausarbeitete, welche Rolle dabei Religionskritik und die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit wie der literarischen und philosophischen Debatten spielte, lässt Susanne Schunter-Kleemann mit Blick auf Engelsʼ Jugendjahre in Barmen und Elberfeld und seine Bremer Zeit Revue passieren. Über den alten (1895 verstorbenen) Engels erfahren wir bei Gerd Callesen und Georg Fülberth, dass er zwischen theoretischer Arbeit – Herausgabe von Band zwei und drei des „Kapitals“ – und parteipolitischen Interventionen „die Füße nicht stillhalten“ konnte, wenn „operativ Dringendes“ anstand. Wie er dabei in der längst internationalisierten politischen Arbeiterbewegung agierte, demonstrieren sie an seinen Interventionen zur Vorbereitung des Arbeiterkongresses 1889 in Paris. Engels als Ökonomie-Theoretiker stellt Thomas Kuczynski vor. Ob Produkte, die nicht für den Austausch produziert werden, also keine Waren sind, einen Wert haben, ist eine unter Marxisten kontrovers diskutierte Frage. Kuczynski vergleicht diesbezüglich drei ökonomische Arbeiten von Engels von 1843, 1884 und 1895. Die Frage sei eindeutig zu bejahen. Der Leser entdeckt dabei Engels als originell denkenden Ökonomen, der sich hinter Marx nicht zu verstecken braucht.

In den letzten Jahren ist die intensive Beschäftigung von Marx und Engels mit dem gesellschaftlichen Naturverhältnis wieder stärker thematisiert worden. Neben der ökologischen Krise, die diese Frage auf die Tagesordnung gebracht hat, ist hierfür auch die Arbeit an der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) verantwortlich. Mit den Editionen der Exzerpt-Abteilung zeigt sich, in welch hohem Maße dies eine Angelegenheit von beiden war (vgl. z.B. Z 121 [März 2020], Vollgraf zu MEGA IV/18; diesem Thema war u.a. auch die diesjährige „Marxistische Studienwoche“ gewidmet; Bericht auf den S. 210f.). In diesem Heft diskutiert Herbert Hörz über „Engels und die aktuelle Lösung des ökologischen Grundwiderspruchs“. Er verbindet das mit persönlichen Erfahrungen aus der theoretischen wie praktischen Auseinandersetzung um Öko-Probleme in der DDR der 1970er und 1980er Jahre, die er mit der Gegenwart konfrontiert. Ein Dauerbrenner in den Debatten um Engels ist seine „Dialektik der Natur“ – eng verbunden mit den aktuellen ökologischen Problemen. Sean Sayers entwickelt die gerade im sog. „westlichen Marxismus“ umstrittenen Grundgedanken und Argumente von Engels, die darauf abheben, dass „dialektische Prinzipien … sowohl im natürlichen als auch im menschlichen Bereich wirksam“ (S. 80) sind. Kaan Kangal versucht, Engelsʼ Konfiguration der Begriffe Dialektik, Gegensatz und Widerspruch im „Anti-Dühring“ und in der „Dialektik der Natur“ herauszuarbeiten. Er vertritt die These, dass man, je nach spezifisch zugrunde gelegter Konfiguration dialektischer Begriffe, einer Dialektik der Natur unterschiedliche Bedeutungen beimessen kann, die nicht notwendigerweise mit dem übereinstimmen müssen, was Engels darunter verstanden hätte. Dass ideologische Kontroversen der Vergangenheit auch nach hundertdreißig Jahren neue Aktualität gewinnen können, demonstriert Michael Klundt anhand von Engelsʼ Auseinandersetzung mit Eugen Dühring, der in den 1870er Jahren einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Sozialdemokratie hatte und später zu einem Wegbereiter des Rassenantisemitismus wurde. Er konfrontiert diese Auseinandersetzung (Engelsʼ „Anti-Dühring“ von 1877/78) mit den kruden rassistischen Thesen von Thilo Sarrazin, der als Sozialdemokrat zum Stichwortgeber einer aufstrebenden Rechten wurde.

Schließlich beziehen sich zwei Beiträge auf Engelsʼ gleichermaßen vieldiskutiertes Alterswerk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ von 1884. Amiya Kumar Bagchi setzt sich Engels folgend mit Frauenerwerbstätigkeit und weiblichen Eigentumsrechten im Zusammenhang mit Familienstrukturen im modernen Indien auseinander. Er geht über Engels hinaus, wenn er das (erst mit dem Privateigentum entstandene) Mitgift-System analysiert, das als wichtiger ökonomischer Faktor das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in Indien stark beeinflusse. Bagchi stellt das geltende Recht zum Schutze der Frauen dessen tatsächliche Umsetzung in der indischen Gesellschaft gegenüber. Engels hatte sich im „Ursprung“ auf den zeitgenössischen ethnologischen Kenntnisstand zur vorneolithischen, ungeschriebenen Geschichte bezogen; unmittelbarer Auslöser dafür waren die ethnologischen Exzerpthefte von Marx u.a. zu Lewis Henry Morgan, die er in Marxʼ Nachlass vorfand. André Leisewitz und Winfried Schwarz hatten in Z 120 (Dezember 2019) das Marx-Engelsʼsche Konzept der „doppelten Produktion des Lebens“ vorgestellt und Engels Auffassungen zu den Geschlechterverhältnissen in den vorneolithischen Gentilgesellschaften mit neueren ethnologischen Befunden konfrontiert. Im zweiten Teil ihres Beitrags behandeln sie mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit entstehende matri- und patrilineare Vergesellschaftungen. Offenbar datieren Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die Unterordnung von Frauen aus der Zeit vor der Entstehung des Privateigentums, aber sie stehen in Zusammenhang mit der Entstehung des Eigentums von Verwandtschaftsgruppen.

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Soziale Bewegungen: In der aktuellen Ausgabe des Streikmonitors geben Dirk Müller und Juri Kilroy einen Überblick über das Streikgeschehenen 2019. In diesem Jahr nahm die Zahl der Streikbeteiligten und -tage gegenüber dem Vorjahr ab, es wuchs aber die Anzahl der Arbeitskämpfe. Die im März/April abgeschlossene Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie geriet in den Sog der Corona-Krise. Robert Sadowsky widmet ihr eine kritische Würdigung.

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Weitere Beiträge: Zur Erinnerung an den kürzlich verstorbenen französische Marxisten Lucien Sève, der insbesondere durch seine „Theorie der Persönlichkeit“ starken Einfluss auf die marxistische Diskussion seit den 1970er Jahren genommen hatte, veröffentlichen wir ein Interview mit ihm über sein letztes Buch zur Zukunft des Kommunismus. Georg Quaas geht der Frage nach, welchen Stellenwert Dienstleistungen in der Arbeitswerttheorie haben und inwieweit sie mit Waren vergleichbar sind. Er vertritt die Auffassung, dass Dienstleistungen zwar durch einen wertbildenden Arbeitsprozess zustande kommen, aber keine Ware sind. Gert Meyer stellt umfangreiches Datenmaterial zur historischen Sozialstruktur der russischen Industriearbeiterschaft am Vorabend der russischen Revolution vor. Die Daten basieren auf Erhebungen aus dem Zarenreich und der frühen Sowjetunion. Deutlich werden das rasche Wachstum der russischen Arbeiterklasse und die starke Differenzierung ihrer internen Struktur. Meyer betont: „Struktur ist nicht Bewegung“ und wendet sich gegen unhistorisch-geradlinige Ableitungen mit Blick auf gesellschaftliches und politisches Verhalten. Das Marxsche Reproduktionsmodell und Luxemburgs Sicht darauf sind Gegenstand einer Intervention von Klaus Müller zu Alexander von Pechmanns Beitrag in Z 120.

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Aus der Redaktion: Wir danken Julian Flores (Graz), Maurice Laßhof (Darmstadt) und Katharina Schramm (Berlin) für redaktionelle Beteiligung an und Beiträge zu diesem Heft. Es ist uns eine große Freude, an dieser Stelle dem Historiker der Arbeiterbewegung und Z-Autoren Rainer Holze (Berlin) zu seinem 80. Geburtstag gratulieren zu können. Rainer hat uns als „großer Kommunikator“ in uneigennütziger, dezenter und vielfältiger Weise in den letzten beiden Jahrzehnten bei der Redaktion und Verbreitung der Zeitschrift geholfen. Herzlichen Dank dafür!

Themenfelder in Z 123 (September 2020) werden „Bilanz des Sozialismus“ sowie „Politik und subjektiver Faktor“ sein.

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