Gibt es einen Wert ohne Warenproduktion? Ansichten von Friedrich Engels

von Thomas Kuczynski
Juni 2020

[1][1]

Nicht nur in der „Neuen Marx-Lektüre“ wird die Auffassung vertreten, dass Warenproduktion Voraussetzung für die Existenz des Werts (im politökonomischen Sinne) ist.[2][2] Auch bei Autoren, die sich einer orthodoxeren Lesart verpflichtet fühlen, finden sich solche Aussagen, beispielsweise: „Werte ohne Waren gibt es nicht“, und: „Ohne Ware kein Wert“.[3][3] Dies ist insofern erstaunlich, als Marx im Unterkapitel I.4 (Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis) von Band I des „Kapitals“ Beispiele gibt, aus denen ersehen werden kann, dass seiner Ansicht nach verschiedene Produzenten bzw. Produzentengruppen Güter herstellen, die keine Warenform besitzen, demzufolge keinen Tauschwert, aber trotzdem Wert haben – Robinson auf seiner Insel, Leibeigne auf einem Fronhof, ländlich-patriarchalische Bauernfamilien, schließlich Mitglieder eines „Vereins freier Menschen“.[4][4] Jedoch, auch dies ist zu konstatieren, Marx selbst hat bedeutende Schwierigkeiten mit einer sauberen terminologischen Unterscheidung zwischen Wert und Tauschwert gehabt, und deshalb hatte ich vorgeschlagen, den offenbar zu allgemeinen Terminus Wert durch den des Arbeitswerts zu ersetzen, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Marx selbst diesen Terminus nie verwendet hat.[5][5]

Im Nachhinein habe ich jedoch feststellen müssen, dass Friedrich Engels ihn 1884 mehrmals in seinem Vorwort zur deutschen Übersetzung von Marx’ „Elend der Philosophie“ gebraucht hat. In diesem Zusammenhang erst fiel mir seine von Marx in Band I des „Kapitals“ zitierte Unterscheidung zwischen Tauschwert und Realwert ein, die er in seinem ökonomischen Erstling, den „Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie“ von 1843, getroffen hatte, und die ich mir nun genauer ansah. Die Lektüre bewog mich dazu, sein Gesamtwerk auf Aussagen zu meiner eng begrenzten Fragestellung durchzusehen, und dabei stieß ich auf seine letzte ökonomische Arbeit, den Aufsatz „Wertgesetz und Profitrate“ von 1895, in der das Problem ebenfalls eine Rolle spielt. Diese drei Arbeiten sind Gegenstand der nachfolgenden Betrachtungen. Anzumerken ist noch, dass sich das lange Schweigen nach 1843 aus der zwischen Marx und ihm vereinbarten Arbeitsteilung erklärt, das Schweigen nach 1884 wohl daraus, dass er erst den Band III des „Kapitals“ fertig stellen wollte, die Kritik an dem Band ihn jedoch zu einer Replik veranlasste, die über das im Vorwort zu dem Band schon Ausgeführte hinausging. Die Arbeiten werden in ihrer chronologischen Reihenfolge betrachtet.

1. „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ (1843)

Engels war im Allgemeinen dagegen, frühere Arbeiten von ihm neu aufzulegen.[6][6] So teilte er im April 1871 Wilhelm Liebknecht mit, er sei gegen einen Neudruck der „Umrisse“, denn sie seien „ganz veraltet und voller Unrichtigkeiten, die die Leute nur konfus machen würden.“[7][7] Im Juni 1884 schrieb er – ganz Gentleman, aber nicht minder entschieden – an Jewgenija Papritz: „Ich fühle mich außerordentlich geschmeichelt, dass Sie es für nützlich halten, meine ‚Umrisse usw.’ zu übersetzen. Obwohl ich noch immer ein bisschen stolz bin auf diese meine erste gesellschaftswissenschaftliche Arbeit, weiß ich doch nur zu gut, dass sie heute ganz und gar überholt und nicht nur voller Mängel, sondern auch voller ‚Böcke’ ist. Ich fürchte, sie wird mehr Missverständnisse verursachen als Nutzen bringen.“[8][8] Marx hingegen zählte die „Umrisse“ schon im Sommer 1844 (also vor dem Beginn seiner Freundschaft mit Engels), nach den Schriften von Wilhelm Weitling und Moses Heß, zu den „inhaltsvollen und originellen deutschen Arbeiten für diese Wissenschaft“ (die politische Ökonomie), nannte sie 1859 eine „geniale Skizze“, erinnerte Engels noch Jahre später daran, wie dieser hier „das Richtige erwidert“ und was er dort „ganz zutreffend gesagt“ habe, und zitierte sie des Öfteren im Band I des „Kapitals“.[9][9] Erst zu seinem 70. Geburtstag hat Engels einen Nachdruck erlaubt, dem Karl Kautsky einen Geburtstagsartikel voranstellte, in dem er auch die „Umrisse“ in dessen Lebenswerk eingeordnet hat.[10][10]

Nach Engels’ damaliger Auffassung ist die Nationalökonomie „als eine natürliche Folge der Ausdehnung des Handels“ entstanden; sie ist „ein ausgebildetes System des erlaubten Betrugs, eine komplette Bereicherungswissenschaft“.[11][11] Seine kritische und zugleich noch pietistisch gefärbte Sicht auf „das unsittliche Wesen des Handels“ – „der Handel ist der legale Betrug“[12][12] – führt ihn hinsichtlich des ökonomischen Werts zu einem Wertbegriff, der ein anderer ist als der, den Marx im „Kapital“ entwickelt hat: „Der Wert einer Sache ... ist das Verhältnis der Produktionskosten zur Brauchbarkeit.“ Bei diesem Verhältnis handelt es sich nicht um ein dialektisches, sondern um ein relationales, denn: „Die nächste Anwendung des Wertes ist die Entscheidung darüber, ob eine Sache überhaupt produziert werden soll, d. h., ob die Brauchbarkeit die Produktionskosten überwiegt. Dann erst kann von der Anwendung des Wertes für den Tausch die Rede sein. Die Produktionskosten zweier Dinge gleichgesetzt, wird die Brauchbarkeit das entscheidende Moment sein, um ihren vergleichungsmäßigen Wert zu bestimmen.“[13][13]

Aus dem von mir hervorgehobenen Satz ist klar ersichtlich, dass nach Engels’ Auffassung der Wert ein unabhängig von allem Austausch existierendes Verhältnis ist. Weitaus weniger klar ist allerdings, wie die Determinanten des relationalen Verhältnisses, Brauchbarkeit und Produktionskosten, in ihrer quantitativen Dimension bestimmt werden können. Eine solche Bestimmung ist jedoch notwendig für eine exakte Fassung des Werts. Zum einen kann eine Sache zwar im Vergleich mit einer andern als mehr oder weniger brauchbar angesehen werden, woraus eine Skala von Brauchbarkeiten konstruiert werden kann, aber eine solche Präferenzskala erlaubt noch keine quantitative Bestimmung des Wertes.

Zum andern, den Produktionskosten, meint Engels in seinem Erstling: „Es ist durchaus nicht zu bestimmen, wie viel der Anteil des Bodens, des Kapitals und der Arbeit an einem bestimmten Erzeugnisse betrage. Die drei Größen sind inkommensurabel. Der Boden schafft das rohe Material, aber nicht ohne Kapital und Arbeit, das Kapital setzt Boden und Arbeit voraus, und die Arbeit setzt wenigstens den Boden, meistens auch Kapital voraus. Die Verrichtungen der drei sind ganz verschiedenartig und nicht in einem vierten gemeinsamen Maße zu messen. Wenn es also bei den jetzigen Verhältnissen zur Verteilung des Ertrags unter die drei Elemente kommt, so gibt es kein inhärentes Maß, sondern ein ganz fremdes, ihnen zufälliges Maß entscheidet: die Konkurrenz oder das raffinierte Recht des Stärkeren.“[14][14] Wenn er in dem oben zitierten Brief an Papritz nicht nur von Mängeln in seiner Schrift spricht, sondern auch von „Böcken“ – hier hatte er in der Tat einen formidablen Bock geschossen und seinen eignen Erkenntnisstand weit hinter den der klassischen politischen Ökonomie zurück geschleudert.

Weiterhin meint er: „Dem Unterschiede zwischen Tausch- und Realwert liegt eine Tatsache zum Grunde – nämlich dass der Wert einer Sache verschieden ist von dem im Handel für sie gegebenen sogenannten Äquivalent, d. h., dass dies Äquivalent kein Äquivalent ist. Dies Äquivalent ist der Preis der Sache, und wäre der Ökonom ehrlich, so würde er dies Wort für den ‚Handelswert’ gebrauchen. Aber er muss doch immer noch eine Spur von Schein behalten, dass der Preis mit dem Wert irgendwie zusammenhänge, damit nicht die Unsittlichkeit des Handels zu klar ans Licht komme. Dass aber der Preis durch die Wechselwirkung der Produktionskosten und der Konkurrenz bestimmt wird, das ist ganz richtig und ein Hauptgesetz des Privateigentums. Dies war das erste, was der Ökonom fand, dies rein empirische Gesetz; und hiervon abstrahierte er dann seinen Realwert, d. h. den Preis zu der Zeit, wenn das Konkurrenzverhältnis sich balanciert, wenn Nachfrage und Zufuhr sich decken – dann bleiben natürlich die Produktionskosten übrig, und das nennt dann der Ökonom Realwert, während es nur eine Bestimmtheit des Preises ist.“[15][15]

Es ist symptomatisch, dass Marx im „Kapital“ lediglich den ersten Satz aus dem hier Zitierten anführt, also den von Engels kreierten Unterschied zwischen dem Tausch- bzw. Handelswert und dem Realwert hinsichtlich des letzteren nicht näher ausführt, und dass Marx ihn genau dort anführt, wo er konstatiert: „Da es aber unmöglich ist, aus der Zirkulation selbst die Verwandlung von Geld in Kapital, die Bildung von Mehrwert zu erklären, erscheint das Handelskapital ... nur ableitbar aus der doppelseitigen Übervorteilung der kaufenden und verkaufenden Warenproduzenten durch den sich parasitisch zwischen sie schiebenden Kaufmann.“[16][16]

Der Weg vom Wertbegriff der klassischen politischen Ökonomie, wie er in Ricardos Werk nachzulesen ist, zu dessen Weiterentwicklung erwies sich, obgleich von sozialistischen Ricardianern schon zwanzig Jahre zuvor eröffnet, als lang und schwierig; Marx benötigte weitere zwanzig, um schließlich 1867 seine eigne Version vorlegen zu können.

Ungeachtet dessen muss angemerkt werden, dass sich für Engels aus der von ihm vorgenommenen Wertbestimmung „die einzig gerechte Basis des Tausches“ ergibt, und da in ihr die Brauchbarkeit der Sache „das entscheidende Moment“ ist, stellt er zurecht die Frage, wer über diese Brauchbarkeit zu „entscheiden“ habe. In seiner Antwort geht er aus von einem „Gegensatz zwischen der wirklichen inhärenten Brauchbarkeit der Sache“ – dem, was Marx späterhin den Gebrauchswert einer Sache nennen wird – und „der Bestimmung dieser Brauchbarkeit“. Seiner Ansicht nach könne man den daraus folgenden Gegensatz „zwischen der Bestimmung der Brauchbarkeit und der Freiheit der Tauschenden nicht aufheben, ohne das Privateigentum aufzuheben; und sobald dies aufgehoben ist, kann von einem Tausch, wie er jetzt existiert, nicht mehr die Rede sein. Die praktische Anwendung des Wertbegriffs wird sich dann immer mehr auf die Entscheidung über die Produktion beschränken, und da ist seine eigentliche Sphäre.“[17][17]

Dass der Wert einer Sache lange vor jedem Austausch bestimmt ist, war seinerzeit keine neue Erkenntnis; sie war beispielsweise schon bei Le Trosne (1728-80) nachzulesen: „Es sind also nicht die Vertragspartner, die über den Wert entscheiden; er ist vor der Übereinkunft bestimmt.“[18][18] Das Interessante ist vielmehr, dass Engels die Produktion als die „eigentliche Sphäre“ des Wertes ansieht.

Nach einer weiteren Philippika gegen die „Unsittlichkeit“ des Handels – „Die ewige Schwankung der Preise, wie sie durch das Konkurrenzverhältnis geschaffen wird, entzieht dem Handel vollends die letzte Spur von Sittlichkeit. Von Wert ist keine Rede mehr ...“ – stellt er fest: „Die Wahrheit des Konkurrenzverhältnisses ist das Verhältnis der Konsumtionskraft zur Produktionskraft. In einem der Menschheit würdigen Zustande wird es keine andre Konkurrenz als diese geben. Die Gemeinde wird zu berechnen haben, was sie mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln erzeugen kann, und nach dem Verhältnis dieser Produktionskraft zur Masse des Konsumenten bestimmen, inwieweit sie die Produktion zu steigern oder nachzulassen, inwieweit sie dem Luxus nachzugeben oder ihn zu beschränken hat.“[19][19]

Dass die Gemeinde diese Entscheidungen zu treffen habe, mag angesichts der heutzutage bestehenden globalen Probleme sehr naiv klingen; allerdings war die von Marx ein Vierteljahrhundert später mit dem „Verein freier Menschen“ formulierte Entscheidungsebene wohl genauso kleinteilig gedacht. Die Dimension des heute existierenden Spannungsverhältnisses zwischen Lokalität und Globalität lag ganz außerhalb des Vorstellungsvermögens unserer Altvorderen, und sie verlangt ein anderes Herangehen an die Probleme einer gesellschaftlichen Selbstorganisation, auch im Unterschied zu dem, was von den heutigen Erbauern sozial-ökologischer Gemeinden praktiziert wird – eine Problemstellung, die hier nicht näher betrachtet werden kann.

Jedoch sei in diesem Zusammenhang noch eine sehr hellsichtige und unsere Gegenwart betreffende Beobachtung von Engels angeführt: „Alles, was nicht monopolisiert werden kann, hat keinen Wert, sagt der Ökonom... Wenn wir sagen, hat keinen Preis, so ist der Satz richtig für den auf dem Privateigentum beruhenden Zustand. Wäre der Boden so leicht zu haben wie die Luft, so würde kein Mensch Grundzins zahlen.“[20][20] Auch hier zeigt sich die Differenz zwischen Wert und Preis.

2. Vorwort zur deutschen Ausgabe von Marx’
„Elend der Philosophie“ (1884)

Marx hatte in seiner Schrift von 1847 die ökonomischen Auffassungen von Pierre-Joseph Proudhon einer scharfen Kritik unterzogen. Sie fiel so eindeutig aus, dass Engels in seinem Vorwort nur einige Bemerkungen zum weiteren Schaffen Proudhons sowie dessen Einfluss in der Arbeiterbewegung machte. Stattdessen nahm er sich aus aktuellem Anlass Schriften des 1875 verstorbenen Ökonomen Karl Rodbertus vor, der in Deutschland nach seinem Tod als Begründer des „Staatssozialismus“ auch innerhalb der Sozialdemokratie eine gewisse Bedeutung erlangt hatte, im Frühjahr 1884 gar zum „Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus“ erklärt worden war.[21][21] Die Verbindung zwischen beiden ergab sich für Engels daraus, dass sie Anhänger der – von Marx und ihm abgelehnten – Theorie des Arbeitsgeldes waren. In seiner Kritik an den Lehren von Rodbertus gebrauchte er mehrmals den Terminus Arbeitswert, auf dessen Gehalt nun einzugehen ist.[22][22] Dies erweist sich insbesondere deshalb als notwendig, da sich der Terminus im von Engels kritisierten Werk[23][23] gar nicht findet und er ihn unvermittelt, also ohne nähere Erläuterung, verwendet.

Anscheinend hat Engels ihn vor allem dort benutzt, wo er die Sicht von Rodbertus und dessen Vorgängern referiert: „...namentlich der Kleinproduzent muss sich sehnen nach einer Gesellschaft, worin der Austausch der Produkte nach ihrem Arbeitswert endlich einmal eine volle und ausnahmslose Wahrheit wird...“[24][24] „Der Übergang zur Utopie ist nun im Handumdrehen gemacht. Die ‚Vorkehrungen’, die den Warentausch nach Arbeitswert als ausnahmslose Regel sicherstellen, machen keine Schwierigkeit.“[25][25] „...Vorkehrungen, vermittelst deren die Produkte unter allen Umständen stets und nur zu ihrem Arbeitswert sich austauschen...“[26][26] „Jeder Produzent soll den vollen Arbeitswert seines Produktes erhalten.“[27][27]

Im Gegenzug verweist Engels auf die Wirkung der Konkurrenz, „...indem sie [die Konkurrenz] die nach Art oder Menge für den augenblicklichen gesellschaftlichen Bedarf unbrauchbaren Waren unter ihren Arbeitswert entwertet und es auf diesem Umwege den Produzenten fühlbar macht, dass sie entweder überhaupt unbrauchbare oder an sich brauchbare Artikel in unbrauchbarer, überflüssiger Menge hergestellt haben.“[28][28] „Nur vermittelst der Entwertung oder Überwertung der Produkte werden die einzelnen Warenproduzenten mit der Nase darauf gestoßen, was und wie viel davon die Gesellschaft braucht oder nicht braucht. Gerade diesen einzigen Regulator aber will die von Rodbertus mitvertretene Utopie abschaffen.“[29][29] An diesen beiden Stellen wird deutlich, dass Engels den im Produktionsprozess hergestellten Wert (Arbeitswert) von dem unterscheidet, der als Tauschwert bzw. Preis auf dem Markt erscheint. In diesem Sinne ist auch seine Feststellung zu verstehen, dass „die Warenpreise die Tendenz haben, vermittelst Nachfrage und Angebot sich auf den Arbeitswert zu reduzieren.“[30][30]

3. „Wertgesetz und Profitrate“[31][31] (1895)

Die im Zentrum des Aufsatzes stehende Problematik, das Verhältnis von Wertgesetz und Profitrate, soll hier nicht betrachtet werden; es geht nach wie vor allein um die Frage, ob die Existenz des Werts Austausch bzw. Handel zur unabdingbaren Voraussetzung hat oder nicht.

Engels hatte sich schon im Vorwort zu Band III des „Kapitals“ mit einem der seinerzeit schärfsten Marx-Kritiker, dem Italiener Achille Loria, auseinandergesetzt und ihn dabei als Sganarell tituliert.[32][32] In einem Entwurf zu seiner letzten ökonomischen Arbeit kam er auf ihn zurück und referierte und kommentierte dessen inzwischen erschienene Rezension des Buches: „Die Vorstellung eines Werts entsteht aus dem Austausch, so dass sobald kein Austausch mehr stattfindet, auch von Wert keine Rede mehr sein kann. Diese Vorstellung ist Sganarells würdig, ich meine dabei speziell den Sganarell von Molières Médecin volant.“[33][33] In der Endfassung seines Artikels drückte er sich zwar etwas gemäßigter aus, auch verschwand die Titulatur in einer Fußnote, sein Kommentar ist aber nicht minder eindeutig.

Engels paraphrasiert zunächst die von Loria vorgenommene Bestimmung des Werts: „Die Ökonomen, wenn sie von Wert sprechen, so sprechen sie von dem Wert, der tatsächlich im Austausch sich feststellt,“[34][34] und zitiert sodann ausführlich Lorias Marx-Kritik: „Aber sich mit einem Wert beschäftigen, zu dem die Waren weder verkauft werden noch je verkauft werden können [...], das hat kein Ökonom, der eine Spur von Verstand besitzt, je getan, noch wird er es tun... Wenn Marx behauptet, der Wert, zu dem die Waren nie verkauft werden, sei bestimmt im Verhältnis der in ihnen enthaltnen Arbeit, was tut er da anders, als in verkehrter Form den Satz der orthodoxen Ökonomen wiederholen, dass der Wert, zu dem die Waren verkauft werden, nicht im Verhältnis steht zu der auf sie verwandten Arbeit?... Es hilft auch nichts, wenn Marx sagt, trotz der Abweichung der Einzelpreise von den Einzelwerten falle der Totalpreis der sämtlichen Waren stets zusammen mit ihrem Totalwert, oder mit der in der Totalmenge der Waren enthaltnen Arbeitsquantität. Denn da der Wert nichts andres ist als das Verhältnis, worin eine Ware mit einer andren sich austauscht, ist schon die bloße Vorstellung eines Totalwerts eine Absurdität, ein Unsinn... eine contradictio in adjecto.“[35][35]

Engels’ bissiger Kommentar: „Das Verhältnis, worin zwei Waren sich austauschen, ihr Wert, ist also etwas rein Zufälliges, den Waren von außen Angeflogenes, das heute so, morgen so sein kann. Ob ein Meterzentner [= 100 kg] Weizen sich gegen ein Gramm oder gegen ein Kilogramm Gold austauscht, hängt nicht im Mindesten von Bedingungen ab, die diesem Weizen oder Gold inhärent sind, sondern von ihnen beiden totalfremden Umständen. Denn sonst müssten diese Bedingungen sich auch im Austausch geltend machen, ihn im Ganzen und Großen beherrschen, und auch abgesehn vom Austausch, so dass von einem Gesamtwert der Waren die Rede sein könnte. Das ist Unsinn, sagt der illustre Loria. In welchem Verhältnis immer zwei Waren sich austauschen mögen, das ist ihr Wert, und damit holla. Der Wert ist also identisch mit dem Preis, und jede Ware hat so viel Werte, als sie Preise erzielen kann.“[36][36] Und er fügt beispielhaft hinzu: „Im Normalzustand decken sich Nachfrage und Angebot. Teilen wir also sämtliche in der Welt vorhandne Waren in zwei Hälften, in die Gruppe der Nachfrage und die gleich große des Angebots. Nehmen wir an, jede repräsentiere einen Preis von 1000 Milliarden Mark, Franken, Pfund Sterling oder was immer. Das macht zusammen nach Adam Riese einen Preis oder Wert von 2000 Milliarden. Unsinn, absurd, sagt Herr Loria. Die beiden Gruppen mögen zusammen einen Preis von 2000 Milliarden repräsentieren. Aber mit dem Wert ist das anders. Sagen wir Preis, so sind 1000 1000 = 2000. Sagen wir aber Wert, so sind 1000 1000 = 0. Wenigstens in diesem Fall, wo es sich um die Gesamtheit der Waren handelt. Denn hier ist die Ware eines jeden von beiden nur 1000 Milliarden wert, weil jeder von beiden diese Summe für die Ware des andern geben will und kann. Vereinigen wir aber die Gesamtheit der Waren beider in der Hand eines dritten, so hat der erste keinen Wert mehr in der Hand, der andre auch nicht, und der dritte erst recht nicht – am Ende hat keiner nix.“[37][37]

Auch aus dieser zugespitzten Polemik ist zu entnehmen, dass für den alten Engels – wie für den jungen – die Existenz des Wertes nicht an die Bedingung des Austauschs, mithin der Warenproduktion, gebunden ist. Eine bemerkenswerte Kontinuität, die eingefleischten Kämpfern gegen den „Engelsismus“ sehr zupasse kommen mag. Marx und Engels hätten sich nicht daran gestört.

[1][38] In den Fußnoten beziehen sich die Kürzel MEW und MEGA auf: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Berlin 1956ff., bzw. Dieselben, Gesamtausgabe, Berlin 1975ff.; es wird nach den zurzeit gültigen Rechtschreibregeln zitiert.

[2][39] Vgl. z. B. Michael Heinrich: Wie das Marxsche „Kapital“ lesen? Teil 1, 3. Aufl., Stuttgart 2016, insbes. S. 194ff.

[3][40] Klaus Müller, in: Ders./Georg Quaas: Kontroversen über den Arbeitswert. Eine polit-ökonomische Debatte. Potsdam 2020, S. 11 u. 116.

[4][41] Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. I. Neue Textausgabe, bearb. u. hrsg. v. Th. Kuczynski, Hamburg 2017 (im Folgenden: NTA), S. 51-54, bzw. MEW, Bd. 23, S. 90-93.

[5][42] Vgl. Thomas Kuczynski: Work in progress – „Das Kapital“. Die Erstausgabe und ihre weitere Bearbeitung durch Marx. In: Marxistische Blätter, H. 5/2017, S. 62-67.

[6][43] Eine Ausnahme war wohl sein sofortiges Einverständnis mit einer zweiten Auflage der 1845 veröffentlichten „Lage der arbeitenden Klasse in England“; ihr war eine 1887 in den USA erschienene englische Übersetzung vorangegangen.

[7][44] MEW, Bd. 33, S. 208 (Engels an Wilhelm Liebknecht am 13. 4. 1871).

[8][45] MEW, Bd. 36, S. 169/70 (Engels an Jewgenija E. Papritz am 26. 6. 1884).

[9][46] Vgl. MEGA, Bd. I/2, S. 317, bzw. MEW, Bd. 40, S. 468 (Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Vorrede); MEGA, Bd. II/2, S. 101, bzw. MEW, Bd. 13, S. 10 (Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort); MEW, Bd. 30, S. 275 (Marx an Engels am 9. 8. 1862); MEW, Bd. 32, S. 12 (Marx an Engels am 8. 1. 1868). – Der am 13. 4. 1871 von Marx in Engels’ Auftrag an Liebknecht geschriebene Brief wiederholte nur dessen Sicht (vgl. MEW, Bd. 33, S. 207).

[10][47] Geburtstagsartikel und Nachdruck in: Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens (Stuttgart), Jg. 9 (1890/91), Bd. 1, Nr. 8, S. 225-35 u. 236-54; ebenso: http://library.fes.de/cgi-bin/nzpdf.pl?dok=189091a&f=225&l=272 (abgerufen am 25. 2. 2020). Die Einordnung selbst ist auch nachzulesen im Apparat zu: MEGA, Bd.I/3, S. 1114.

[11][48] MEGA, Bd. I/3, S. 467, bzw. MEW, Bd. 1, S. 499.

[12][49] MEGA, Bd. I/3, S. 473, bzw. MEW, Bd. 1, S. 503.

[13][50] MEGA, Bd. I/3, S. 477, bzw. MEW, Bd. 1, S. 507 – Hervorhebung Th. K.

[14][51] MEGA, Bd. I/3, S. 481/82, bzw. MEW, Bd. 1, S. 512.

[15][52] MEGA, Bd. I/3, S. 478, bzw. MEW, Bd. 1, S. 508.

[16][53] NTA, S. 131, bzw. MEW, Bd. 23, S. 178.

[17][54] MEGA, Bd. I/3, S. 477, bzw. MEW, Bd. 1, S. 507 – Hervorhebungen Th. K.

[18][55] Guillaume François Le Trosne: De l’interêt social par rapport à la valeur, à la circulation, à l’industrie et au commerce intérieur et extérieur. In: Physiocrates. Quesnay, Dupont de Nemours, Mercier de la Rivière, L’Abbé Baudeau, Le Trosne. Avec une introd. sur la doctrine des physiocrates, des comm. et des notices historiques, par E. Daire, Pt. 2, Paris 1846, S. 906; vgl. auch die (abweichenden) Übersetzungen in NTA, S. 125, bzw. MEW, Bd. 23, S. 172, sowie den dazu gehörigen Kommentar von Marx.

[19][56] MEGA, Bd. I/3, S. 485, bzw. MEW, Bd. 1, S. 515/16.

[20][57] MEGA, Bd. I/3, S. 479, bzw. MEW, Bd. 1, S. 509.

[21][58] Vgl. Georg Adler, Rodbertus, der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Eine sozial-ökonomische Studie. Berlin 1884 (Reprint Berlin 2013).

[22][59] Sicherheitshalber sei angemerkt, dass der Terminus heutzutage mehrdeutig ist, da er auch im Rahmen von Arbeitsbewertungen verwendet wird; vgl. den Wikipedia-Artikel Arbeitsbewertung (abgerufen am 2. 3. 2020).

[23][60] Vgl. [Johann Karl] Rodbertus-Jagetzow, Zur Erkenntniß unsrer staatswirthschaftlichen Zustände. H. 1 [mehr nicht erschienen], Neubrandenburg u. Friedland 1842.

[24][61] MEGA, Bd. I/30, S. 33, bzw. MEW, Bd. 21, S. 180.

[25][62] MEGA, Bd. I/30, S. 34, bzw. MEW, Bd. 21, S. 181.

[26][63] MEGA, Bd. I/30, S. 35, bzw. MEW, Bd. 21, S. 182.

[27][64] MEGA, Bd. I/30, S. 38, bzw. MEW, Bd. 21, S. 185.

[28][65] MEGA, Bd. I/30, S. 36, bzw. MEW, Bd. 21, S. 183.

[29][66] MEGA, Bd. I/30, S. 37, bzw. MEW, Bd. 21, S. 184.

[30][67] MEGA, Bd. I/30, S. 32, bzw. MEW, Bd. 21, S. 179.

[31][68] Wer den im Frühjahr 1895 begonnenen — zwar unvollendet gebliebenen, aber von Engels für eine Publikation in der der „Neuen Zeit“ vorgesehenen — Aufsatz in den entsprechenden Bänden von MEW und MEGA sucht, wird ihn nicht finden. Die Herausgeber der MEW haben ihn in den Anhang zu Band III des „Kapitals“ (MEW, Bd. 25, S. 898-917) platziert, die Editoren der MEGA gar in den Bd. 14 (S. 324-40) der II. Abteilung „‚Das Kapital’ und Vorarbeiten“, wohin er als eine chronologisch auf die Publikation von Band III folgende Nacharbeit nun definitiv nicht gehört.

[32][69] Vgl. MEGA, Bd. II/15, S. 21, bzw. MEW, Bd. 25, S. 28. – Wie Laura Lafargue ihm mitteilte, bezieht sich der Name „immer auf einen Mann, der getäuscht, lächerlich, schroff und eifersüchtig ist und nur seinen Phantasien gehorcht, wie der Name es ausdrückt“ (übers. nach der Erläuterung in MEGA, Bd. II/14, S. 989).

[33][70] Engels: Wertgesetz und Profitrate. Fragment I. In: MEGA, Bd. II/14, S. 318.

[34][71] MEGA, Bd. II/14, S. 324, bzw. MEW, Bd. 25, S. 898; in MEGA, Bd. II/14, S. 1010, das Originalzitat: „[...] gli economisti intendono naturalmente parlare del valore che si stabilisce di fatto nello scambio [...]“

[35][72] MEGA, Bd. II/14, S. 324, bzw. MEW, Bd. 25, S. 898 – Hervorhebungen von Engels.

[36][73] MEGA, Bd. II/14, S. 325, bzw. MEW, Bd. 25, S. 901.

[37][74] MEGA, Bd. II/14, S. 326, bzw. MEW, Bd. 25, S. 902.