Editorial

Dezember 2018

Die Bundesrepublik ist eine kapitalistische Klassengesellschaft. Was ist heute aber anders als zum Beispiel vor 50 Jahren, als mit der 68er-Bewegung die Klassendebatte in die öffentlichen Diskurse zurückkam? Das wieder auflebende Interesse an Klassenanalyse, Klassentheorie und Klassenpolitik hängt augenscheinlich zusammen mit der zunehmenden sozialen Polarisierung, mit wachsenden Ungleichheiten in den Verteilungsverhältnissen und einem offeneren, ungenierteren „Klassenkampf von oben“. Kein Tag ohne Meldungen über zunehmende Armut und wachsenden Reichtum, Es hat auch zu tun mit dem Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen, die soziale Widersprüche ethnisierend umdeuten. Dort, wo es Ansätze zu einer neuen Klassenpolitik gibt, sehen sie sich heute konfrontiert mit großen Defiziten wissenschaftlicher Klassenanalyse. Die sozialstrukturellen Umbrüche der letzten Jahre und Jahrzehnte sind unzureichend aufgearbeitet. Umso wichtiger, dass es eine neu in Gang gekommene Klassendiskussion gibt, über die und aus der in diesem Heft berichtet werden soll.

Ausgehend von drei Elementen der Marxschen Klassentheorie – Ausbeutung, objektive und subjektive Klassenformierung sowie deren Bedeutung für die gesellschaftliche Dynamik – zeichnet Nicole Mayer-Ahuja die Geschichte von Klassenkonflikten in Deutschland nach: Kollektives Klassenbewusstsein erodierte durch die Modernisierungen des 20. Jahrhunderts, wurde vom Faschismus zerschlagen und in der alten Bundesrepublik sozialpartnerschaftlich eingehegt. Heute sei eine „Fragmentierung von Lohnarbeitserfahrungen“ zu konstatieren. André Leisewitz und John Lütten weisen darauf hin, dass die Analyse der Klassenverhältnisse sich nicht in einer Klassenstrukturanalyse erschöpfen kann, sondern die Vielfalt der sich geschichtlich entwickelnden und verändernden Vermittlungsebenen zwischen objektiven und subjektiven Momenten, zwischen sozialer Lage und sozialem Handeln erfassen muss. Sie beziehen sich auf die Entwicklung von Klassenanalyse bei Marx und Engels, zeigen den neuen Schub an sozialer Polarisierung in der BRD seit dem Bruch 1989/90 und diskutieren zu Defiziten der „neuen Klassendiskussion“ im Kontext der „linken Strategiekrise“. Klaus Dörre kritisiert kulturalistische Verkürzungen der Klassenanalyse und gibt der Erneuerung herrschaftskritischer Klassentheorien den Vorzug, die nicht nur das Trennende, sondern auch das Verbindende herausarbeiten. Klassenspaltungen, Ungleichheit, gesellschaftliche Polarisierungen und Prekarität legten es nahe, den Begriff der Lohnarbeitsklassen heute im Plural zu buchstabieren. Umso wichtiger sei es, diesen beherrschten Klassen mobilisierende, kollektive Orientierungen zu vermitteln; andernfalls setzten sich Konkurrenz und soziale Exklusion durch. Insofern sei die Schwäche der Linken mitverantwortlich für die Herausbildung einer demobilisierten Klassengesellschaft.

Ralf Krämer skizziert die „Klassenlandschaft in Deutschland 2018“. Die über 40 Millionen abhängig Beschäftigten lassen sich demnach unter anderem gruppieren nach Sozialversicherungspflicht und Prekarität, Art der Tätigkeit, Betriebsgröße und Branche. Besondere Aufmerksamkeit widmet Krämer der größtenteils von Frauen in Familien verrichteten Reproduktionsarbeit. Gründlichere Analysen empirischer Daten zur Klassenstruktur sind rar. In Frankreich ist unlängst eine empirisch gestützte Klassenanalyse erschienen, die verschiedene europäische Sozialstudien ausschöpft. Gestützt auf die Klassifikation der Erwerbsbevölkerung nach Berufsgruppen unterscheiden die französischen Autoren drei Klassen (Volksklassen, Mittelklassen, Oberklassen). Jörg Goldberg stellt die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie vor und verweist auf Schwierigkeiten, denen sich die von den Autoren geforderte europäische Klassenkampfperspektive gegenübersieht.

Jörn Böwe beklagt die in den vergangenen Jahrzehnten – nicht nur in Ostdeutschland – forcierte „Entgewerkschaftlichung von Arbeitsbeziehungen“. Beispiele für gelungene Gegenwehr sieht er in (internationalen) Organizing-Strategien oder in den Kampagnen für mehr Personal im Pflege- und Gesundheitssektor. Hans-Jürgen Urban wendet den von Boltanski und Chiapello geprägten Begriff der „Bewährungsproben“ auf die Gewerkschaften an und definiert für sie – als Klassenorganisation – vier große Herausforderungen: Sie müssen Hebel finden, um die fragmentierte Klasse der Lohnabhängigen zu gemeinsamem Handeln zu mobilisieren; sie müssen die Anforderungen transnationaler Solidarität berücksichtigen; sie müssen die ökologische Seite der Kämpfe mit der sozialen verbinden. Und sie müssen ihre Verankerung in den Betrieben verbessern, um auch außerhalb des Betriebs als politische Kraft vor allem im Sinne einer Demokratisierung Einfluss zu nehmen.

Ausgehend von aktuellen umweltpolitischen Auseinandersetzungen plädiert Christian Stache dafür, die Naturaneignung durch das Kapital als Teil der Auseinandersetzung um die Produktions- und Verteilungsverhältnisse und somit als Teil des Klassenkampfes bewusst zu machen.

Marx-Engels-Forschung: In Fortsetzung seines Aufsatzes aus Z 115 über das so genannte Maschinenfragment aus Marx‘ „Grundrissen“ zeigt Werner Goldschmidt am Beispiel der Debatten über die wissenschaftlich-technische Revolution der 1960er Jahre, wie die von Marx diskutierten Zusammenhänge zwischen Produktivkraftfortschritt und Emanzipation der Arbeit gesellschaftsverändernd fruchtbar gemacht werden können. Die Marxbiografie von Gareth Stedman Jones erfuhr 2018 das größte Medienecho. Winfried Schwarz weist ihm wesentliche Verständnismängel nach und kritisiert seine nicht belegte, aber immer wiederkehrende Behauptung grundsätzlicher Freiheitsfeindlichkeit bei Marx.

Streiks und Arbeitskämpfe: In der neuen Ausgabe des „Streikmonitor“ zeigen Dirk Müller und Juri Kilroy, dass das erste Halbjahr 2018 das konfliktträchtigste seit Beginn des Projekts 2016 war. Eine herausragende Rolle spielt hier der Tarifkampf der IG Metall. Daneben gab es zahlreiche weitere, oft kleinere, aber heftige Konflikte, zunehmend im Bereich des produzierenden Gewerbes. Aggressive Aktionen der Kapitalseite haben beträchtlich zugenommen.

Weitere Beiträge betreffen zuerst aktuelle Ereignisse: Die Wahl des faschistoiden Jair Bolsonaro zum Präsidenten Brasiliens vergleicht Dieter Boris mit einem politischen Tsunami. Er analysiert die komplexen Ursachen dieses „schleichenden Putsches“, die auch mit dem seit 2013 erkennbaren Niedergang der Linken zusammenhängen und skizziert die düsteren Perspektiven für das Land. Im Vorfeld der jetzt im Dezember stattfindenden Klimakonferenz in Katowice und in Fortsetzung der Klimapolitik-Analysen aus Z 114 gibt Wolfgang Pomrehn eine Übersicht zu den Möglichkeiten und Grenzen, mit dem Pariser Klimaschutzübereinkommen den Klimawandel auf das 1,5-Prozent-Ziel zu begrenzen. Der aktuelle IPCC-Bericht unterstreicht die Dringlichkeit dieses Ziels.

In ihrer Auseinandersetzung mit Frank Deppes Buch „1968 – Zeiten des Übergangs“ arbeitet Elisabeth Abendroth zentrale historische Wendepunkte heraus. Mit Deppe sieht sie in „1968“ die Chiffre für eine „weltweite Welle vielfältiger, systemkritischer Rebellionen“, deren Folge bis heute wirken. Die „rechte Revanche für 68“ begann mit der Regierungszeit Helmut Kohls und finde gegenwärtig ihre Fortsetzung in Pegida und der AfD. Im zweiten Teil seines Beitrags zur „Geschichte der KPD zwischen 1919 und 1924“ (Erster Teil in Z 115) hinterfragt Harald Jentsch kritisch die historische Bedeutung des „Deutschen Oktober“ von 1923. Jentsch entmystifiziert die stalinistische Lesart, im Hamburger Aufstand den lediglich gescheiterten Startschuss für eine machbare proletarische Revolution in der vermeintlichen „Endphase“ des Kapitalismus zu sehen.

Kritik an der Macht des Geldes ist eine verbreitete Form der Kapitalismuskritik. Ulrich Busch liefert eine geschichtliche Darstellung der moralischen Geldkritik und macht auf Unterschiede in den historischen Erscheinungsformen des Geldes aufmerksam: Versuche, Gesellschaftsveränderungen durch eine Neuordnung der Geldsphäre zu bewirken seien „Künsteleien“ (Marx).

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Auf den ersten Seiten dieser Ausgabe eröffnen wir mit den „Kommentaren“ eine neue Rubrik, mit der wir auf aktuelle politische Ereignisse reagieren – diesmal mit Beiträgen von Frank Deppe, Jörg Goldberg und Stefan Bollinger sowie einem redaktionellen Kommentar zu den letzten Wahlergebnissen und der Erosion wie Neuformierung der Parteienstruktur – eine Diskussion, die bei Erscheinen des Heftes Anfang Dezember mit Sicherheit neue Nahrung bekommen wird und die im März-Heft im Schwerpunkt behandelt werden wird. Bei den Berichten geht es unter anderem um das vergangene UZ-Pressefest und den Europa-Kongress von attac. Die Zeitschriftenschau berichtet über neue Debattenbeiträge zur „imperialen Lebensweise (Luxemburg) und beleuchtet kritisch Beiträge zu Marx in der Mainstream-Ökonomie (Wirtschaftsdienst) sowie in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie. Außerdem wieder zahlreiche Buchbesprechungen, die z.T. auch der neuen Klassendiskussion gewidmet sind.

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Z 117 (März 2019) wird sich im Schwerpunkt mit sozialen Bewegungen und der Krise des Parteiensystems in Deutschland und in europäischen Ländern befassen.

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Wir verweisen auf zwei Z-Veranstaltungen im Februar und März 2019. Näheres am Ende des Heftes auf S. 255.