Klassen und neue Klassendiskussion

Sind Gewerkschaften noch Klassenorganisationen?

von Hans Jürgen Urban
Dezember 2018

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Auf die Frage, ob Gewerkschaften (noch) Klassenorganisationen sind, gibt es eine kurze und eine lange Antwort. Die kurze lautet: Ja. Auch wenn sie es manchmal vergessen. Die lange ist etwas komplizierter. Um sie geht es im Folgenden.

Diese lange Antwort hängt eng zusammen mit dem theoretischen und wissenschaftlichen Wirken jenes Trierer Ökonomen und Philosophen, dessen 200. Geburtstag wir im Jahr 2018 begehen. Denn Karl Marx kann mit seinen Beiträgen zur Kapitalismusanalyse und -kritik für die Gewerkschaften auch heute noch ein wichtiger Berater sein (Urban 2017). Der einschlägige Marx-Text zum Thema Gewerkschaften, „Lohn, Preis, Profit“, enthält dazu eine berühmte und geradezu berüchtigte Schlusspassage. Die Gewerkschaften, so schreibt Marx, „tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals“, doch sie „verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems“ (Marx 1865, 152).

Marx weist den Gewerkschaften eine Doppelaufgabe zu: die der widerständigen Interessenpolitik als Tagesaufgabe, und die der systemüberwinden Transformation als Perspektivaufgabe. Wer dies heute zitiert und mit Programmatik und Politik der DGB-Gewerkschaften vergleicht, entdeckt schnell eine klare Schlagseite in Richtung der ersten Aufgabe. Und wer sich die Debatten in den (heute meist sehr kleinen) marxistischen Zirkeln vergegenwärtigt, trifft zumeist auf eine emphatische Betonung der zweiten Aufgabe. Meine These dagegen lautet: Gewerkschafter*innen wie Marxist*innen täten gut daran, beide Aufgabenbestimmungen ernst zu nehmen und keine von beiden als absolut vor- oder nachrangig zu bewerten.

Meine Argumentation geht in vier Schritten vor. Zunächst ist knapp zu skizzieren, was unter Klassen und Klassenhandeln zu verstehen ist (1). Auf dieser Grundlage diskutiere ich, warum die Gewerkschaften in Deutschland sich (wieder) als Klassenorganisationen verstehen und eine Klassenpolitik entwickeln sollten, die sich auf der Höhe des gegenwärtigen Kapitalismus befindet (2). Im dritten Teil steht die Frage im Zentrum: Was wären die zentralen Projekte und Bewährungsproben, die gewerkschaftliche Klassenpolitik heute zu bewältigen hätte (3). Abschließend soll knapp erörtert werden, wie Klassenpolitik heute mit Demokratiepolitik einhergehen muss, um den Aufgaben der Zeit gerecht werden zu können. (4).

1. Klassen im Gegenwartskapitalismus

Nachdem es in Deutschland lange Zeit um Begriffe wie Klassen und Klassenpolitik still war, verzeichnen wir seit einigen Jahren ein zunehmendes Interesse an Klassenfragen. Die „Klassen“ sind in die medialen und mitunter auch die wissenschaftlichen Diskurse zurückgekehrt, oftmals jedoch ohne Kenntnis und ohne Bezüge auf die Diskussions- und Kenntnisstände, die in früheren Jahren bereits erarbeitet worden waren. Das wiedererwachte Interesse an der Klassenkategorie hat sicherlich etwas mit der Wahrnehmung der krassen sozialen Ungleichheit zu tun, die sich sowohl in Deutschland (Tiefen-see/Spannagel 2018) als auch international (Oxfam 2017) herausgebildet hat. Aber es erwächst wohl auch aus dem Wunsch, die Defensive linker politischer und gesellschaftlicher Kräfte zu überwinden. Das gilt auch für die Gewerkschaften. Auch sie müssen im Gegenwarts-Kapitalismus aus einer Position der relativen Defensive agieren, und auch sie tun sich schwer damit, der obszönen sozialen Ungleichheit eine wirkungsmächtige Alternative entgegenzusetzen.

Auffällig ist, dass die Wiederbelebung der Klassendebatte zunächst nicht durch neu erwachte Interessen an der Arbeiter*innenklasse begann, sondern der Blick sich stärker auf die Veränderungen in der herrschenden Klasse richtete. Die Rückkehr des Klassenbegriffs in den sozialwissenschaftlichen Diskursen wurde etwa durch Nicht-Marxisten wie Ralf Dahrendorf (2000) oder Paul Windolf (2005) und andere nicht-marxistische Soziologen vorangetrieben. Sie haben vor allem eine neue globale Klasse als eine kosmopolitische Elite diagnostiziert. Windolf etwa spricht von einer „Dienstklasse des Finanzmarktkapitalismus“, die transnational agiert und als neue Funktionselite des heutigen Kapitalismus zu begreifen ist. Was dort analysiert wird, ließe sich als „Klassenpolitik von oben“ bezeichnen. Die, die sie betrieben, sind sich des Klassencharakters ihres Tuns durchaus bewusst. Man denke nur an das berühmte Zitat des Finanzspekulanten und Milliardärs Warren Buffett, der gesagt hat: There’s class warfare, all right, […] but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.”[2][2]

Das provoziert natürlich die Frage: Wird diese Klassenpolitik von oben durch eine Klassenpolitik von unten beantwortet? Die Antwort wird wohl sehr verhalten ausfallen müssen. Jedenfalls existieren in den Metropolen revolutionäre Bewegungen oder harte soziale Kämpfe kaum. Auch vorsichtige Hoffnungen, die viele von uns in den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in den lateinamerikanischen Ländern gesetzt haben mögen, sind inzwischen tiefer Ernüchterung und einem frustrierten Realismus gewichen.[3][3] Jedenfalls ist die Linke von einer organisierten und offensiven Klassenpolitik, die auf eine Überwindung der kapitalistischen Grundstrukturen zielt, weit entfernt.

Gehen wir aber noch einmal einen Schritt zurück und fragen: Was sind eigentlich Klassen? Aus Sicht einer marxistisch orientierten Klassentheorie sind es soziale Großgruppen, die sich aus Individuen zusammensetzen, deren Lebenslagen durch gemeinsame, sozio-ökonomische Strukturelemente geprägt sind. Diese Gemeinsamkeiten sind zunächst objektiver Natur, und sie bestimmen ihre Positionierung im kapitalistischen (Re-)Produktionsprozess. Diese Lebenslagen generieren gemeinsame Interessen, die sich als Klasseninteressen bezeichnen lassen. Ob daraus auch subjektive Gemeinsamkeiten im Denken und Handelns der Individuen werden, ob mit der sozialen Klassenlage ein äquivalentes „Klassenbewusstsein“ und eine entsprechende soziale Praxis korrespondieren, ist damit nicht gesagt und eine besonders zu behandelnde Frage.

Doch bleiben wir zunächst bei den objektiven Faktoren. Auch die Klassenlage der Arbeiter*innenklasse ist durch gemeinsame Strukturelemente geprägt. Zu ihnen gehören: erstens und vor allem die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, also die Tatsache, dass die Produktionsmittel in den Händen weniger Kapitalisten monopolisiert sind und die abhängig Beschäftigten lediglich Eigentümer ihrer Arbeitskraft sind; und dass sie diese Arbeitskraft als Ware an die Kapitalisten verkaufen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Das zweite Strukturelement sind bestimmte Ausbeutungs- und ungleiche Verteilungsverhältnisse. Bei der Verwertung der Arbeitskraft im Produktionsprozess entsteht ein Mehrwert, den die Kapitalisten sich aneignen. Denn der Besitz der Produktionsmittel und der Kauf der Ware Arbeitskraft ist in kapitalistischen Gesellschaften mit dem Recht verbunden, sich das anzueignen, was die Anwendung der Arbeitskraft im Arbeits- und Produktionsprozess erzeugt. Daraus folgen – als drittes Strukturelement – bestimmte Macht- und Herrschaftsverhältnisse: Die, die nur die Arbeitskraft besitzen, sind als Individuen den Besitzern der Produktionsmittel unterlegen, da sie in ihrer materiellen Reproduktion von der erfolgreichen Vermarktung ihrer Ware abhängig sind. Schließlich entstehen viertens aus dieser Verkaufsabhängigkeit Reproduktionsrisiken der abhängigen Arbeit, die immer dann besonders virulent werden, wenn es den Lohnabhängigen nicht (oder nicht ausreichend) gelingt, ihre Arbeitskraft zu einem die Reproduktion der jeweiligen Lebensgemeinschaft sichernden Preis zu verkaufen.

Diese soziale Lage schafft Gemeinsamkeiten für viele Menschen in kapitalistischen Gesellschaften und bildet die Grundlage für das, was man in der marxistischen Tradition als Arbeiterklasse oder Proletariat bezeichnet hat.[4][4] Ihre objektiven Interessen stehen in einem antagonistischen Verhältnis zu den Interessen der Kapitalbesitzer. Beide, Arbeit und Kapital, bilden die Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft. Und ich denke, es ist evident, dass diese Strukturen auch die heutige deutsche Gesellschaft prägen. So gesehen ist die deutsche Gesellschaft nach wie vor oder immer noch eine kapitalistische Klassengesellschaft – eine Einsicht, die auch in den Gewerkschaften nicht umfassend präsent ist.

Es schließt sich aber sogleich die Frage an: Handeln die Angehörigen der Arbeiter*innenklasse denn auch gemeinsam, gleichsam im eigenen Klasseninteresse? Gibt es so etwas wie Klassenhandeln? Tun sie den Schritt von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“, wie es in der Tradition der marxistischen Theorie oft genannt wurde (Marx 1847, 180f.)?

Hier bedarf es eines genaueren Blicks. Anknüpfend an das oben angeführte Marx-Zitat, dass Gewerkschaften „gute Dienste“ tun „als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals“, setze ich hier einen Akzent, der in der Debatte unter Marxist*innen zuweilen untergeht: Klassenhandeln beginnt nicht erst mit revolutionärem Handeln und sollte nicht gleichgesetzt werden mit dem Bestreben, den Kapitalismus grundsätzlich in Frage zu stellen. Die falsche Gleichung „keine revolutionären Aktionen – kein Klassenhandeln“ hat historisch oft zu Irritationen und falschen Schlussfolgerungen geführt und nicht selten einen frustrierten Abschied von jeglicher Klassenpolitik nach sich gezogen. Doch Klassenhandeln ist vielfältiger. Es muss nicht revolutionär, sondern kann auch reformistisch und auf einzelne Reformschritte gerichtet sein. Es kann sozialpartnerschaftlich-affirmativ oder gar wettbewerbs- und gegenüber anderen Klassen konkurrenzorientiert ausfallen. Es kann auf organisierte Gegenmacht aufbauen, um die eigene Verhandlungsstärke auszubauen oder den schnellen Kompromiss suchen. Aber natürlich kann Klassenhandeln auch kollektives Handeln sein, das Gegenmacht der Lohnabhängigen innerhalb des kapitalistischen Systems herstellen will, um sie in revolutionär-transformatorisches Handeln zu überführen. Kurzum, Klassenindividuen handeln nicht nur, wenn sie antikapitalistisch agieren, sie können sich auch in systemimmanenten Praxen verlieren.

Damit ist die Frage aufgeworfen, unter welchen Bedingungen objektive Klassenlagen in kollektives und schließlich sogar systemtransformierendes Handeln münden (können). Marx und Engels selbst haben unterstrichen, dass sich das „Proletariat“ „einstweilen“ etwas ganz anders vorstellen könne als das, was sein eigentliches Klasseninteresse ausmache (Marx/Engels 1845, 38). Frank Deppe hat diesen Gedanken in seinem Essay „Einheit und Spaltung der Arbeiterklasse“[5][5] (1981) aufgegriffen und gezeigt, dass die „Konstitution der Klasseneinheit“ ein komplizierter und widersprüchlicher Prozess ist (ebd., 19). Deppe verweist auf eine wichtige Passage von Marx und Engels „Die einzelnen Individuen bilden nur insofern eine Klasse, als sie einen gemeinsame Kampf gegen eine andere Klasse zu führen haben; im übrigen stehen sie einander selbst in der Konkurrenz wieder feindlich gegenüber.“ (Marx/Engels 1845/46, 54) Deppe diskutiert diese Thematik mit Bezug auf die moderne Arbeiterklasse im entwickelten Kapitalismus und kommt zu dem Schluss: „Der politische ‚Normalzustand‘ der Arbeiterklasse ist nicht der der Einheit, sondern der der Spaltung“ (Deppe 1981, 29). Klassenhandeln der Klasse „für sich“ kann insofern „nicht einfach als eine politische Übersetzung bzw. als bloß mechanischer Reflex dieses objektiven, sozialökonomischen Klassenbildungs- und Homogenisierungsprozesses begriffen werden“ (Deppe 1981, 37). Oder, um auf die gegenwärtige Debatte Bezug zu nehmen: „Klassenlagen geben keine politischen Orientierungen vor.“ (Dörre 2017) Ein „einheitliches“ kollektives Klassenhandeln der Lohnabhängigen ist immer nur Resultat von umfassenden Diskussionsprozessen, von Erfahrungen, von der Vermittlung dieser Erfahrungen, von durchgestandenen Konflikten und Kämpfen und von der intensiven Verarbeitung dieser Kämpfe.

Diese Einsicht kann auch Marxist*innen nicht nur davor bewahren, ihre Vorstellungen von der Arbeiter*innenklasse als eine Art mythologisches revolutionäres Subjekt ideologisch zu verklären. Sie mahnt zugleich zur historisch-konkreten Analyse der Klassenverhältnisse. Es kann sogar das Gegenteil eintreten: Je erfolgreicher die Arbeiter*innenbewegung den „Gewalttaten des Kapitals“ trotzt, ihre Interessen vertritt, ihre Lage verbessert, desto mehr kann das systemtransformierende Element im Klassenhandeln in den Hintergrund treten. Das zeigen nicht zuletzt die Erfahrungen der Klassenkämpfe in vielen kapitalistischen Ländern. Sobald diese Kämpfe den Lohnabhängigen ein gewisses Maß an sozialer und Arbeitsplatzsicherheit und einigermaßen auskömmliche Löhne sicherte, traten die revolutionäre Kraft und das revolutionäre Wollen der Bewegung in den Hintergrund. Klassenpolitische Erfolge befördern offenbar eher Systemintegration als revolutionäre Ambitionen.

2. Klassenpolitik im 21. Jahrhundert

Was bedeutet dies alles nun für eine Klassenpolitik im 21. Jahrhundert? Und was heißt das für die Gewerkschaften? Die Gewerkschaften sind die elementaren, die ersten Klassenorganisationen des Proletariats. Sie geraten schnell in Existenznöte, wenn sie ihre primäre Aufgabe vernachlässigen, den „Widerstand gegen die Gewalttaten des Kapitals“ zu organisieren. Denn die Gewerkschaften existieren als Selbsthilfe-, als Nothilfeorganisationen derjenigen, die alleine nicht zurechtkommen, die ihre ökonomischen Interessen nur zusammenerfolgreich vertreten können. Wenn sie diese Interessenvertretung aufgeben, verlieren sie ihre Gewerkschaftseigenschaft und die Gefahr wächst, dass sie als handlungsfähige Akteure verschwinden. Auch das ist keine graue Theorie, gerade in den kapitalistischen Zentren. Das Bild von einem Kapitalismus ohne Gewerkschaften ist leider empirisch stichhaltiger, als wir uns das vor 20, 30 Jahren vorstellen konnten.

Das bedeutet auch: Wenn Gewerkschaften ihren Haupt-Job machen, wenn sie die sozialen und ökonomischen Interessen der Lohnabhängigen verteidigen, dann mag das durchaus systemkonform sein. Aber dann sind sie doch Klassenorganisationen, weil sie auf der Basis kollektiver Interessen handeln und den Widerstand gegen die Zumutungen des kapitalistischen Systems organisieren. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die sich im Konkreten mit der Transformation der kapitalistischen Produktionsweise immer wieder verändert. Zu Recht diskutieren die Gewerkschaften heute deshalb viel darüber, was sich gegenüber der Politik der vergangenen Jahrzehnte verändern muss.

Was muss sich denn verändern? Was sollten Elemente einer neuen Klassenpolitik sein, die dem globalisierten Gegenwartskapitalismus Rechnung trägt? Dazu vier aus meiner Sicht wichtige Punkte.

Erstens: Wir müssen radikaler und konfliktorientierter werden. Im besten Wortsinne. Das ergibt sich als logische Schlussfolgerung aus dem enormen Druck des Klassenkampfes von oben. Wir erleben im globalen Finanzmarktkapitalismus eine perverse Radikalisierung der Verteilungsfrage, in Deutschland, in Europa, weltweit. Eine Handvoll von Familien besitzt mehr Vermögen als die Hälfte der Menschheit (dazu etwa Atkinson 2016). Die Missstände sind so überwältigend, dass sie unsere Vorstellungskraft übersteigen. Das ist Klassenkampf von oben, und deshalb muss eine gewerkschaftliche Klassenpolitik darauf mit einer Radikalisierung ihrer Verteilungspolitik von unten antworten. Das ist noch viel Luft nach oben.

Zweitens: Gewerkschaftliche Klassenpolitik darf sich keinesfalls auf die traditionellen Zentren der Arbeiterklasse, also die Beschäftigten in der Automobil-, Stahlindustrie, auf die Montanindustrie usw. beschränken. Für die IG Metall sind das nach wie vor die Bastionen ihrer Organisationsmacht; für gewerkschaftliche Politik sind sie von existenzieller Bedeutung und der in Mode gekommene Abschied von den Lohnabhängigen in der industriellen Wertschöpfung ist ein fataler Irrtum! Die Herausforderung besteht vielmehr darin, dass gewerkschaftliche Interessenpolitik und Organisationsmacht aller Gewerkschaften stärker in die Sektoren der neuen Erwerbsarbeit vordringen muss, in denen es deutlich weniger gewerkschaftliche Konflikterfahrung gibt. Das sind etwa die Bereiche der Wissensarbeit, der Hightech-Dienstleister, der Logistik, des Finanzwesens, überhaupt der industrienahen und unternehmensbezogenen Dienstleistungen. Dazu gehören natürlich auch die expandierenden Bereiche der Sorgearbeit, also der personenbezogenen und sozialen Dienstleistungen. Darunter sind Wirtschaftsbereiche und Branchen, die traditionell nicht mit kapitalistischer Ausbeutung assoziiert werden. Doch heute sind sie einem rasanten Ökonomisierungsdruck ausgesetzt, und der gesellschaftliche Nutzen der Sorgearbeit und ihre Bezahlung und Anerkennung stehen in einem so eklatanten Widerspruch, dass keine werttheoretische Analyse erforderlich ist, um den Ausbeutungscharakter dieser Verhältnisse feststellen zu können. Man schaue sich nur die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in Krankenhäusern und in der Altenbetreuung oder der Erzieher*innen in Kitas an.

Ein drittes Element einer zeitgemäßen Klassenpolitik ist eine kluge Verbindung von Klassenfragen und den so genannten Anerkennungs- oder Identitätsthemen. Kein Zweifel, die derzeitige Defensive der Linken ist auch durch die Vernachlässigung sozial-ökonomischer Klassenfragen zugunsten einer postmateriellen Kultur- und Anerkennungspolitik bedingt. Einflussreich für dieses Denken war eine von Intellektuellen wie Jürgen Habermas formulierte Vorstellung, der Sozialstaat habe die kapitalistischen Widersprüche suspendiert und den Kapitalismus damit sozial befriedet. Einige zogen daraus den Schluss, man könne, ja müsse sich nun von den sozialen Klassenkonflikten ab- und (alltags-)kulturellen Kommunikationskonflikten, Identitätskonflikten usw. zuwenden. Das war eine falsche Analyse, der falsche Strategieüberlegungen folgten. Falsch war vor allem die dahinter stehende Vorstellung, als gäbe es so etwas wie einen gesicherten historischen Besitzstand an „Sozialeigentum“ (R. Castel) und der Zivilisierung des Kapitalismus. Den gibt es nicht, und es wird ihn unter kapitalistischen Bedingungen auch nie geben. Denn spätestens in der nächsten Krise werden solche Errungenschaften wieder in Frage gestellt, müssen sie verteidigt oder neu erkämpft werden.

Gleichwohl ist die Debatte über die Bedeutung von Kultur- und Anerkennungsfragen richtig und notwendig und die Linke sollte nicht hinter erreichte Stände zurückfallen. Sie weist auf Dimensionen menschlicher Emanzipation hin, die mit einer politökonomisch orientierten, klassentheoretischen Analyse alleine nicht erfasst werden können. Zeitgemäße Klassenpolitik darf daher nicht nur die Arbeits- und sozialen Lebensverhältnisse, sondern muss die gesamte Lebensweise der Menschen in den Blick nehmen, die Seite der Produktion und die der Reproduktion, die der materiellen Bedürfnisse und die Bedürfnisse nach sozialer Anerkennung selbst gewählter Identitäten und Lebensformen. Die Überwindung von Geschlechterhierarchien und rassistischer Diskriminierung, der Anspruch, sexuelle Orientierungen ohne Diskriminierung ausleben zu können, sind Bedürfnisse, die zu einer emanzipierten Lebensweise gehören. Es gilt daher zu berücksichtigen, dass die „kultur- und anerkennungstheoretischen Zugänge zu Macht- und Herrschaftsfragen eine Bereicherung des kapitalismuskritischen Diskurses“ sind und elementarer Bestandteil linker Klassenpolitik sein müssen (Urban 2018b, 109). Auf eine einfache Formel gebracht: Klassenanalyse und Klassenpolitik bleiben notwendig, sind aber nicht hinreichend. Es muss gelingen, Klassenfragen mit Anerkennungs- und Identitätsfragen zu verbinden, ohne sie einfach hinzu zu addieren. Es geht um die Emanzipation des „ganzen Menschen“. Und das muss auch für eine Gewerkschaftspolitik Konsequenzen haben: Gewerkschaften, die hinter die Kämpfe für Geschlechtergerechtigkeit, gegen sexuelle Diskriminierung und Rassismus zurückfielen, fielen auch hinter die Mindeststandards einer zeitgemäßen Klassenpolitik zurück.

Der vierte und letzte Punkt lautet: Klassenpolitik ist heute stärker denn je auf politische Bündnisse und strategische Allianzen mit anderen progressiven Akteuren und Bewegungen angewiesen. Wenn zeitgemäße Klassenpolitik in ihrer ganzen Komplexität erfasst und praktiziert wird, wenn es also neben den Lohnkämpfen, neben den materiellen Kämpfen um Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit usw. auch um Forderungen nach einer nachhaltigen und diskriminierungsfreien Lebensweise geht, dann wird eine Gewerkschaftsbewegung alleine das nicht leisten können. Dann wird es Bündnisse mit feministischen, antirassistischen und anderen Organisationen und sozialen Bewegungen geben müssen. Denn auf die Kompetenzen, Erfahrungen und Energien dieser Bewegungen kann eine umfassende Klassenpolitik nicht verzichten.

Mein Zwischenfazit lautet: Gewerkschaften, die ihren Job machen, sind Klassenorganisationen, die sich in Alltagskämpfen für ein gutes Leben bewähren müssen, ob sie wollen oder nicht. Aber wenn sie ihn dauerhaft erfolgreich machen wollen, müssen sie sich dessen bewusst sein und sich eine Klassenpolitik erarbeiten, die sich auf der Höhe des Gegenwartskapitalismus befindet.

3. Bewährungsproben für die Gewerkschaften

Was zeichnet eine solche Klassenpolitik aus? Mit welchen Konflikten hat sie sich auseinanderzusetzen? Aus meiner Sicht sind vier Themen von besonderer Bedeutung. Sie benennen Bewährungsproben gewerkschaftlicher Klassenpolitik. Diesen Begriff haben Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem einflussreichen Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ (2003) geprägt und in die kapitalismustheoretische Debatte eingebracht. Ihre These lautet: Individuen, aber auch gesellschaftliche Bewegungen und Organisationen müssen aufgrund des Strukturwandels kapitalistischer Gesellschaften ihre Durchsetzungsfähigkeit immer neu erarbeiten und erkämpfen; sie sehen sich immer wieder mit alten und neuen Konflikten konfrontiert. Bestehen sie diese nicht, verlieren sie früher oder später ihre soziale Funktion und Gegenmachtfähigkeit.

Die erste Bewährungsprobe ist, neue Solidarität im Rahmen des kapitalistischen Formwandels und des sozialen Strukturwandels zu organisieren. Für die Gewerkschaften ist es heute sehr viel schwieriger, die extrem unterschiedlichen Lohnabhängigen-Gruppen zusammenzubringen, die die Vielfalt der Arbeiter*innenklasse ausmachen. Denn in dem Maße, in dem sich die objektiven Arbeits- und Lebenssituationen der Beschäftigten auseinander entwickeln, sind auch die Präferenzen für das, was man für dringlich hält, weit verstreut. Das heißt für die Gewerkschaften konkret: Wer einen Konflikt beginnt, der nur mit Hilfe eines Streiks erfolgreich beendet werden kann, tut gut daran, Interessen zu bündeln und mit Forderungen in den Konflikt zu gehen, von denen alle etwas haben. Die Erfahrung zeigt, dass gerade die Arbeitszeitpolitik ein wichtiger Hebel ist, um unterschiedliche Interessen zusammenzuführen und Zeitmodelle zu erkämpfen, die kürzere Arbeitszeiten und mehr Zeitsouveränität verbinden.

Die zweite Bewährungsprobe, der sich die Gewerkschaften stellen müssen, ist die Verteilungsdimension im globalen Maßstab. Die Gewerkschaften haben in Sachen transnationaler Solidarität weltweit bisher keine qualitativen Fortschritte vorzuweisen. Es gibt immer wieder vereinzelte Aktivitäten, es gibt Solidaritätskämpfe entlang von Wertschöpfungsketten in großen Konzernen, es gibt Solidaritätsaktionen von Menschen zwischen verschiedenen Erdteilen – das darf alles nicht gering geschätzt werden. Aber es gibt keine auch nur annähernd belastbare Struktur gewerkschaftlicher Gegenmacht, die der transnationalen Struktur des Kapitals wenigstens ansatzweise entspräche.

Die Debatte darüber wurde unter anderem durch das Buch von Uli Brandt und Markus Wissen mit dem einprägsamen Begriff der „imperialen Lebensweise“ neu entfacht (Brand/Wissen 2017). Die Autoren vertreten die These: Die Lebensweise der Menschen in den Metropolen greift nicht nur auf die eigenen Ressourcen zu, sondern auch auf die anderer Weltregionen. Schon deshalb kann sie nicht nachhaltig sein. Der Begriff der „imperialen Lebensweise“ ist aus meiner Sicht kapitalismustheoretisch und analytisch durchaus problematisch, u. a. weil er den engen Zusammenhang zwischen Klassenlagen und Lebensweise vernachlässigt (Boris 2017; Sablowski 2018; Dörre 2018). Diskurspolitisch kann er aber sehr hilfreich sein: Er weist uns darauf hin, dass Fragen einer antikapitalistischen Klassenpolitik im 21.Jahrhundert nicht mehr alleine in den nationalstaatlichen Arenen verhandelt werden können. Hier haben wir es mit einem komplexen Problem zu tun. Einerseits ist es bisher nur in den nationalstaatlichen Arenen gelungen, Zivilisierungsfortschritt gegenüber dem Kapitalismus zu realisieren. Dennoch rücken manche Linken die Verteidigung des Sozialstaats in die Nähe des Nationalismus. Ich halte das für völlig desorientierend. Der von ihnen leichtfertig verachtete nationale Wohlfahrtsstaat war immerhin der Jahrzehnte lang durchgehaltene und keineswegs erfolglose Versuch, Einflussnahme auf die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu erkämpfen und ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit für die Lohnabhängigen durchzusetzen. Heute ist dieser Wohlfahrtsstaat nach drei Jahrzehnten Neoliberalismus nur noch in Rumpfbestandteilen vorhanden. Von einem funktionalen Äquivalent auf transnationaler Ebene ist aber weit und breit nichts zu sehen. Linker Fortschritt war damit nicht verbunden.

M. E. ist es deshalb völlig falsch, die Kämpfe um die Verteidigung der wohlfahrtsstaatlichen Strukturen in den Metropolen zu denunzieren. Das eine bedingt das andere. Dringend notwendige, progressive Lösungen auf europäischer oder internationaler Ebene setzen doch gerade voraus, dass sich in den Nationalstaaten die Kräfteverhältnisse nach links verschieben lassen. Es ist daher richtig, „dass Weichenstellungen zugunsten einer demokratischen Transformation heute letztendlich nur international und global erfolgen können, jedoch in der nationalen Arena beginnen müssen“ (Dörre 2018a, 112). Darauf hinzuwirken ist auch Aufgabe der Gewerkschaften.

Die dritte Bewährungsprobe ist ebenfalls von historischer Dimension. Sie entspringt aus dem Konflikt zwischen dem kapitalistischen Wachstumsimperativ und seinen destruktiven Folgen, zwischen Wachstum und Ökologie. Klaus Dörre und Karina Becker haben dazu einen anregenden Beitrag verfasst (Dörre/Becker 2018). Ihre These: Spätestens mit den weltweiten Verwerfungen der Krise von 2007/2009 hat sich eine „Doppelkrise“ herausgebildet. Zum einen ist das herkömmliche kapitalistische Wirtschaftswachstum mit einer immer krasseren sozialen Ungleichheit verbunden; sowohl zwischen den Lohnabhängigen und den Kapitalbesitzern als auch zwischen den Gruppen der Lohnabhängigen selbst. Zum anderen stößt es auch an die Schranken der Natur und droht die Regenerationsfähigkeit der natürlichen Lebensgrundlagen zu überfordern. „Sofern Wirtschaftswachstum überhaupt noch generiert werden kann, zehren die ökologischen und sozialen Destruktionskräfte den äußerst ungleich verteilten Wohlfahrtsgewinn nicht nur auf, sondern – und das ist historisch neu – sie kumulieren sich bis zu einem Schwellenwert, an dem eine irreversible Destabilisierung der Ökosystem einsetzt“ (ebd., 38). Das heißt: Eine Politik des „Weiter so“ geht nicht mehr.

Mit dieser Erkenntnis tun sich die Gewerkschaften schwer. Traditionell sind sie Wachstumsfans (Urban 2017, 97). Das hat nachvollziehbare Gründe. „Die Steigerung der ökonomischen Wertschöpfung ging lange mit einem Abbau von Arbeitslosigkeit einher und stärkte die eigene Verhandlungsmacht. Zugleich konnte das Mehrprodukt relativ erfolgreich durch Lohn- und Arbeitszeitpolitik zugunsten der lebendigen Arbeit umverteilt werden.“ (Ebd.) So war und ist die Annäherung der Gewerkschaften an die Ökologiethematik diskontinuierlich und wurde zumeist von außen an sie herangetragen(Pickshaus/Waclawczyk 2019).Trotzdem haben die Gewerkschaften die konzeptionelle Arbeit an einem neuen Wachstumsmodell begonnen, öffnen sie sich – mit Rückschlägen und Inkonsequenzen – allmählich der Notwendigkeit einer„radikalen Wachstumskritik“ (Urban 2017, 98). Notwendig ist ein Begriff, der Wachstum klassenpolitisch neu definiert. Ich gehöre nicht zur Degrowth- oder Nie-wieder-Wachstum-Fraktion. Ich halte die Erwartung, man könne oder sollte von wirtschaftlichem Wachstum gänzlich Abschied nehmen, für nicht zielführend, ja mitunter für naiv oder anmaßend. Das Ergebnis wäre eine stagnative Gesellschaft, in der die „Konflikte um Ressourcen, Marktanteile, Profite und Konsumchancen umso härter geführt würden“ (Dörre/Becker 2018, 44) – wahrscheinlich zu meist zu Lasten der Lohnabhängigen. Notwendig ist vielmehr ein neues Verständnis eines qualitativen, eines selektiven Wachstums. Doch auch ein solches Wachstumskonzept wird schnell in Konflikt zum kapitalistischen Akkumulationsimperativ geraten und schwierig zu bestehende Konflikte hervorbringen.

Wie könnte ein solches Modell, das den kapitalistischen Wachstumszwang attackiert und in Frage gestellt, aussehen? Das ist noch längst nicht hinreichend erkundet. Eine „Ökologie der Arbeit“ ist bisher ein offenes Feld gewerkschaftlicher Politik (Urban 2018). Ich denke: In einem solchen Modell würde die Wirtschaft langsamer, nachhaltiger, qualitativer und vor allem: demokratischer wachsen (müssen) (ebd., 344f.). Doch die Realisierung einer solchen Transformation kollidiert früher oder später mit Rendite- und Machtinteressen der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Und die Kollision mit den Arbeitsplatzinteressen der Beschäftigten folgt auf dem Fuß. Vieles spricht dafür, dass hier die Stunde der Demokratie schlagen muss. Demokratie als einzig bewährte Methode, die Interessen einer Mehrheit gegenüber denen einer Minderheit zur Geltung zu bringen; und als Verfahren der Verständigung unter sozialen Gruppen, die mit jeweils legitimen Interessen zu gemeinsamen Lösungen gelangen wollen. Somit wird (Wirtschafts-)Demokratie zum archimedischen Punkt von Transformationskonzepten, die eine naturverträgliche Produktions- und Konsumtionsweise mit sozialen und Beschäftigungsinteressen und der Überwindung Shareholder-Value-Orientierung in den Unternehmen verbinden.

In einer solchen Transformationsstrategie steckt sozialer Sprengstoff, auch für die Gewerkschaften. Mehr personenorientierte Dienste oder öffentliche Güter im Bereich von Verkehr, Bildung, Gesundheit usw. dürften schnell breite Zustimmung finden. Aber wie sieht es mit der relativ energie- und emissionsstarken Produktion von Stahl aus? Und welche Zukunft sollen der Automobil- und Chemieindustrie gesellschaftlich zugestanden werden – eine Frage, die nicht nur die IG Metall selbst, sondern die gesamte Gesellschaft berührt. Ohne Interessenkollisionen und -konflikte werden die notwendigen Entscheidungen nicht zu treffen sein. Daraus folgt die Schlüsselstellung einer offensiven Demokratiepolitik für eine zeitgemäße Transformationsstrategie. Nachhaltiges Wachstum kann es nur geben, wenn die Entscheidungen über die wirtschaftliche Entwicklung nicht nach dem Prinzip der Kapitalakkumulation und der Profitmaximierung getroffen werden, wenn sie also nicht in den Händen der gesellschaftlich kleinen Schicht von Kapitaleigentümern und ihren politischen Sachwaltern verbleiben. Notwendig ist die Demokratisierung dieser Entscheidungen. Dabei dürfte an einer Vergesellschaftung zentraler Investitions- und Entwicklungsentscheidungen und wirtschaftsdemokratischen Interventionen in die Eigentumsverhältnisse kein Weg vorbeiführen. (Urban 2018, 98) Das zielt ins Zentrum der kapitalistischen Produktionsweise und erfordert ihre weitreichende Transformation.

Bei der vierten Bewährungsprobe für die Gewerkschaften geht es weniger ums Wollen als vielmehr ums Können. Die Anforderungen an eine wirtschaftsdemokratische Transformation des Gegenwartskapitalismus sind so hoch, dass sie ohne einen Ausbau von Kampfkraft und Organisationsmacht nicht zu meistern sind. Hier kann es aufschlussreich sein, sich die Reaktionen der europäischen Gewerkschaften auf die Finanzkrise 2007bis 2009 anzuschauen. Wenn wir als Gewerkschafter aus Deutschland in diesen Jahren in Europa unterwegs waren, hatten wir oftmals schlechte Karten. Mitunter wurden wir als Repräsentanten einer Gewerkschaftsbewegung wahrgenommen, die nicht in die Gänge kommt. Ringsum wurde gestreikt und gekämpft, nur die deutschen Gewerkschaften schliefen vermeintlich den Schlaf der Gerechten. Und ich will nicht verhehlen, dass auch mir bei dem einen oder anderen Generalstreik, den ich aus der Nähe erlebt habe, das Herz aufging.

Aber wenn man genauer hinschaut, ist Ernüchterung angebracht. Denn in etlichen Ländern, in denen die Gewerkschaften besonders militante Widerstandsformen auf der Straße praktizieren, taten sie das aus einer Situation der Defensive heraus und mit auffallend kleinteiligen Forderungen. Die Streiks jener Jahre in Spanien, Italien und Portugal waren vielfach Versuche der Gewerkschaften, überhaupt wieder mit den Regierungen und den Kapitalverbänden ins Gespräch zu kommen, den durch Staat und Kapital aufgekündigten Korporatismus zu reaktivieren. Da viele ihre Verankerung in den Betrieben fast völlig eingebüßt haben, mussten sie auf die Straße gehen und demonstrieren, weil sie in den Werkhallen und Büros kaum noch präsent sind. Organisationsgrade von weniger als fünf Prozent zeugen davon. Und das ist ein Problem: Eine Gewerkschaft, die nicht mehr da präsent ist, wo der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entspringt, kann eine soziale Bewegung werden, wird aber auf Dauer den Charakter als Gewerkschaft verlieren. Sie wird die Fähigkeit verlieren, über die kollektive Verweigerung von Arbeitskraft in Streiks den gewerkschaftsspezifischen Kampf zu führen.

Die deutschen Gewerkschaften setzten in der Krise eher auf sozialpartnerschaftlich-korporatistische Aushandlungen mit Kapital und Staat, um den drohenden Beschäftigungseinbruch infolge der Finanzmarktkrise zu verhindern. Nicht ohne Erfolg. Vor allem die IG Metall hat als Reaktion auf die Krise Beschäftigung sichern und sogar Mitglieder gewinnen können. Sie ist damit eine der ganz wenigen Gewerkschaften in Europa, die seit Jahren Mitgliederzuwächse verzeichnen kann. Dabei spielen bei uns wie auch bei Ver.di und anderen Gewerkschaften Organizing-Strategien eine wachsende Rolle. Dieser Kampf um die Verankerung in den Betrieben wird immer schwerer. Eine Organisation wie die IG Metall braucht jedes Jahr 110.000 Neuaufnahmen, um ihren Mitgliederstand überhaupt nur zu halten.

Dennoch: Organizing und Sicherung von Beschäftigung waren und sind auch in Zukunft unverzichtbar. Aber aus einer klassenpolitischen Sicht ist auch klar: Sie dürfen nicht zu Lasten des politischen Mandats der Gewerkschaften gehen. Rekrutierungserfolge, die mit einer Entpolitisierung erkauft würden, wären zu teuer bezahlt. Organisationsstärke durch Mitgliederzuwächse ist kein Selbstzweck, sondern notwendiges Mittel, um betriebliche, gesellschaftliche und politische Interessenkämpfe erfolgreich führen zu können. Beides, Organisationsmacht und offensive interessenpolitische Kämpfe gehören zusammen, beides bedingt einander.

4. Fazit: Autoritäre oder progressive Transformation

Also: Eine gewerkschaftliche Klassenpolitik wird sich auch zukünftig auf die Betriebs-, Tarif- und Sozialpolitik konzentrieren (müssen). Aber die Gewerkschaften müssen sich auch als Schlüsselakteure in allen Reproduktionsbereichen positionieren und bewähren. Dazu müssen sie die eigene Organisationsmacht ausbauen und zugleich Bündnisse mit anderen Bewegungen, Initiativen und Organisationen schließen, insbesondere mit zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie mit der kritischen Wissenschaft. Diese gesellschaftspolitische Bündnisbereitschaft ist auch deshalb unverzichtbar, weil ohne sie eine gesellschaftliche Bewährungsprobe nicht bestanden werden kann, vor der nicht nur, aber eben auch die Gewerkschaften stehen. Ich rede von der wachsenden Notwendigkeit, dem gesellschaftlichen und politischen Rechtsruck entgegenzutreten. Die Entwicklungen der letzten Jahre offenbaren in vielen kapitalistischen Ländern und zunehmend auch in Deutschland eine Krise der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie. Dabei ist die neoliberale Demontage der Systeme des Sozialschutzes zweifelsohne ein wichtiger Krisentreiber. Die Erfahrung lehrt: Wenn der Sozialstaat erodiert, gerät früher oder später auch die politische Demokratie unter Druck. Der Aufstieg des Rechtspopulismus ist ein Symptom dafür. Wir erleben, wie der vertraute Wohlfahrtsstaats-Kapitalismus in einen postdemokratischen, autoritären Kapitalismus transformiert wird (Deppe 2013). Die sich im politischen System festsetzende rechtspopulistische Bewegung ist in diesem Zusammenhang als „regressive und inszenierte Rebellion gegen die sozialen, politischen und kulturellen Folgeschäden des Neoliberalismus“ zu fassen (Urban 2018a, S. 104). Ihre Energie gewinnt diese Rebellion nicht zuletzt aus der krassen Ungleichheit bei Einkommen, Vermögen, Bildungs- und Lebenschancen. Die Behäbigkeit, mit der die Funktionseliten auf diese Ungleichheitsdynamiken reagierten, dürfte die Geringschätzung in der Bevölkerung gegenüber der Demokratie und ihren Spielregeln befördert haben.

In dieser Konstellation und angesichts der katastrophalen Schwäche der Linken wird deutlich, dass Transformationspolitik derzeit realistischer Weise weniger auf offensive Strukturveränderungen in Richtung einer postkapitalistischen Gesellschaft zielen kann. Klassenpolitische Transformationspolitik im Gegenwarts-Kapitalismus wird wohl eher mit der Abwehr der autoritären Transformation durch die rechte Offensive beginnen müssen. Gefragt ist hier eine demokratiepolitische Neuorientierung im Sinne einer inklusiven Klassenpolitik. Es bedarf der Aufwertung der Gefahr von rechts in den gewerkschaftlichen Strategiedebatten und vor allem in ihrer Praxis. Dabei bleibt gewerkschaftliche Klassenpolitik zur Wahrung der materiellen Reproduktionsbedingungen der abhängig Arbeitenden unverzichtbar. Die auch bei manchen Linken beliebte Entsorgung der Klassenfrage verkennt, dass kapitalistische Interessenverletzungen und die Prekarisierung sozialer Lebenslagen wesentliche Treiber von Demokratieverachtung und kulturellen Identitätskrisen sind. Das belegen auch aktuelle Studien aus der Arbeitswelt (Sauer u.a. 2018). Doch das wird nicht reichen. Ein Mehr an Statussicherheit und Verteilungsgerechtigkeit wird Rassismus und Demokratieverachtung nicht automatisch obsolet werden lassen. Unverzichtbar ist auch der Kulturkampf gegen den um sich greifenden Alltagsrassismus. Dazu gehört auch eine inklusive Klassenpolitik, die die Lohnabhängigen in solidarische Politiken und soziale Problemlösungen einbindet und sie gegenüber den Verlockungen völkisch-chauvinistischer Scheinlösungen immunisiert (Urban 2018a).

Mein Fazit lautet: Alltägliche Interessenkämpfe um Einkommen, Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit bleiben die Basis einer zeitgemäßen Klassenpolitik der Gewerkschaften. Sie müssen aber aktualisiert und ergänzt werden: um Interessenpolitik in den neuen Sektoren der Lohnarbeit, um soziale Anerkennungs- und Identitätsfragen, um gesellschaftliche Bündnisstrategien und nicht zuletzt um den Widerstand gegen die autoritäre Transformation des Kapitalismus. Eine mehr als anspruchsvolle Agenda.

Dennoch: Im Gegenwartskapitalismus herrschen nicht nur Neoliberalismus und Rechtspopulismus, auch eine Vielzahl von Kämpfen und Aktivitäten sozialer Bewegungen ist zu verzeichnen. Zu Tausenden gehen Menschen auf die Straße, um gegen Rassismus, Sexismus und Nationalismus zu demonstrieren.[6][6] Für eine inklusive Klassenpolitik der Gewerkschaften sind das wichtige Bezugspunkte. Ob daraus eine kapitalismus-transformierende Klassenpolitik wird, wie sie Marx für unverzichtbar hielt, hängt auch davon ab, wie die dabei gewonnenen Erfahrungen verarbeitet und politisch vermittelt werden. Und ob die Gewerkschaften mehr Mut zur Kapitalismuskritik aufbringen. Progressive Klassenpolitik aus einer kapitalismuskritischen Perspektive thematisiert die kapitalistischen Besitz-, Herrschafts- und Hegemonieverhältnisse als Strukturblockaden der sozialen Emanzipation aller abhängig Arbeitenden und Lebenden (Urban 2018b). Wie diese zu transformieren sind, sollte auch die Gewerkschaften wieder stärker interessieren.

Literatur

Atkinson, Anthony B. 2016: Ungleichheit. Was wir dagegen tun können, Stuttgart 2016.

Boltanski, Luc/Chiapello, Eve 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz.

Boris, Dieter 2017: Imperiale Lebensweise? Ein Kommentar (zum Buch von Uli Brand und Markus Wissen), in: Sozialismus, H. 7/8.

Brandt, Ulrich/Wissen, Markus 2017: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München.

Dahrendorf, Ralf 2000: Die globale Klasse und die neue Ungleichheit, in: Merkur, Jg. 54, H. 619, S. 1057-1068.

Deppe, Frank 1981: Einheit und Spaltung der Arbeiterklasse. Überlegungen zu einer politischen Geschichte der Arbeiterbewegung, Marburg.

Deppe, Frank 2013: Autoritärer Kapitalismus. Demokratie auf dem Prüfstand, Hamburg.

Dörre, Klaus 2017: Hoch oben, tief unten. Ungleichheit, Abstiegssorgen, Kollektividentität: Über die Bundesrepublik als Klassengesellschaft, in: Neues Deutschland, 18. 9. 2017.

Dörre, Klaus 2018:Imperiale Lebensweise – eine hoffentlich konstruktive Kritik, in: Sozialismus, H. 6 und 7/8.

Dörre, Klaus 2018a: Neo-Sozialismus oder: Acht Thesen zu einer überfälligen Diskussion, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 6, S. 105-115.

Dörre, Klaus/Becker, Karina 2018: Nach dem raschen Wachstum: Doppelkrise und große Transformation, in: Schröder, Lothar/Urban, Hans-Jürgen: Ökologie der Arbeit – Impulse für einen nachhaltigen Umbau. Jahrbuch Gute Arbeit, Frankfurt/Main 2018, S.35-58.

Marx, Karl 1847: Das Elend der Philosophie, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 4, S. 63-182.

Marx, Karl 1865: Lohn, Preis und Profit, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 16, 103-152.

Marx, Karl/Engels, Friedrich 1845: Die heilige Familie, in: MEW, Bd. 2, S. 3-223.

Marx, Karl/Engels, Friedrich 1845/46: Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, S. 9-532.

Oxfam 2017: An Economy for the 99%. It’s time to build a human economy that benefits everyone, not just the privileged few.Written by Deborah Hardoon, Oxford, https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2017-01-16-acht-milliardaere-besitzen-so-viel-aermere-haelfte[7].

Pickshaus, Klaus/Waclawczyk, Maximilian 2019: Arbeit und Ökologie in der Transformationsperspektive, in: Schröder, Lothar/Urban, Hans-Jürgen (hrsg.): Transformation der Arbeit – ein Blick zurück nach vor. Jahrbuch Gute Arbeit, Frankfurt/Main (i.E.), S. 91-103.

Sablowski, Thomas 2018: Warum die imperiale Lebensweise die Klassenfrage ausblenden muss, in: Luxemburg, H. 1, Online-Ausgabe.

Sauer, Dieter/Stöger, Ursula/Bischoff, Joachim/Detje, Richard/Müller, Bernhard 2018: Rechtspopulismus und Gewerkschaften. Eine arbeitsweltliche Spurensuche, Hamburg.

Tiefensee, Anita/Spannagel, Dorothee 2018: Ungleichheit der Einkommen und Vermögen in Deutschland, in: WSI-Mitteilungen, H. 5, S. 413-419.

Urban, Hans-Jürgen 2017: Der tote Hund als Berater. Marx-Consulting und die Gewerkschaften, in: Luxemburg, H. 2/3, 94-99.

Urban, Hans-Jürgen 2018: Ökologie der Arbeit. Ein offenes Feld gewerkschaftlicher Politik?, in: Schröder, Lothar/Urban, Hans-Jürgen (Hrsg.): Ökologie der Arbeit – Impulse für einen nachhaltigen Umbau. Jahrbuch Gute Arbeit, Frankfurt/Main 2018, S. 329-349.

Urban, Hans-Jürgen 2018a: Kampf um die Hegemonie: Gewerkschaften und die Neue Rechte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 3, S. 103-112.

Urban, Hans-Jürgen 2018b: Epochenthema Migration: Die Mosaiklinke in der Zerreißprobe?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 9, S. 101-112.

Windolf, Paul 2005 (Hrsg.): Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen. Sonderband 45 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden.

[1][8] Der Beitrag ist eine überarbeitete Fassung meines Vortrags im Rahmen der Marxistischen Studienwoche der Zeitschrift Z und der Heinz-Jung-Stiftung im April 2018 in Frankfurt, die dem Thema „Klassenfrage heute“ gewidmet war. Der Vortragcharakter wurde weitgehend beibehalten.

[2][9] „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen“; Warren Buffet im Interview mit Ben Stein, in: New York Times, 26. November 2006.

[3][10] Siehe dazu etwa den Beitrag von Dieter Boris in diesem Heft.

[4][11] Heute sprechen wir oft von der Arbeiter*innenklasse, um die Existenz von unterschiedlichen Geschlechtern in der Klasse zum Ausdruck zu bringen.

[5][12] Frank Deppes Essay steht als pdf-Datei auch zum Download auf seiner Homepage unter www.frankdeppe.de.

[6][13] So z.B. bei der Demonstration unter dem Motto „#unteilbar“ am 13. 10. 2018 in Berlin, an der sich gut 250.000 Menschen beteiligten; https://www.unteilbar.org/; Zugriff: 5.11.2018.

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  7. https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2017-01-16-acht-milliardaere-besitzen-so-viel-aermere-haelfte
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