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Der Kapitalismus und der globale Süden

Anmerkungen zu Brand/Wissen und Lessenich

von Andreas Fisahn
September 2018

Der globale Süden, der längst nicht mehr nur im Süden liegt, die Dritte Welt − oder ist sie nach dem Zusammenbruch der UdSSR zur Zweiten geworden? − die Entwicklungsländer oder die unterentwickelt gehaltenen Länder, deren Entwicklungsrichtung allerdings höchst umstritten ist, die sich jedenfalls nicht so entwickeln sollen wie der kapitalistische Nordwesten – also der globale Süden, für den gegenwärtig ein angemessener Begriff fehlt, ist wieder zum Gegenstand politischer, medialer oder theoretischer Betrachtungen geworden. In der „Süddeutschen Zeitung“ vom 16.6.2018 diagnostizierte Silvia Liebrich: „Der kleinere Teil der Menschheit lebt seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse: Er verbraucht viel mehr Ressourcen, als ihm zusteht und verträglich ist, er beutet Natur und Meere gnadenlos aus, verursacht irreparable Schäden – zulasten künftiger Generationen. … Was die Gesellschaft braucht, sind verbindliche Regeln, um dem zerstörerischen Konsumverhalten Grenzen zu setzen. Sie braucht Anreize zum Maßhalten und für einen verantwortungsvollen Lebensstil. Mit Verboten allein, etwa von klimaschädlichen Dieselautos, ist es da nicht getan.“ Deshalb müsse in der Ökonomie mit dem Wachstumsdogma gebrochen werden. Die Schlussfolgerungen: „Zerstörerischer Konsumwahn: Auf freiwilligen Verzicht zu setzen, ist naiv und fahrlässig“, dann kommen die Konzessionen an den wirtschaftsliberalen Flügel in der SZ: „Ratlose Unternehmen: Die Bereitschaft zu Veränderung ist da, doch es fehlen Regeln; Nötiger Wandel: Die Politik muss stärker eingreifen, nicht nur mit Verboten, sondern als Planer, Vermittler und Entscheider.“ Interessant ist, dass sich die Perspektive von einem emphatischen Blick auf Armut, Elend und Hunger oder Wassermangel im globalen Süden auf die ökologischen Nebenwirkungen des ökonomischen Wachstums verschoben haben, die eben nicht mehr in den Süden ausgelagert werden können, sondern längst auf den Norden zurückschlagen.

In diese Richtung argumentiert auch die kritische Soziologie mit Stefan Lessenichs „Neben uns die Sintflut“[1][1] und die Politologie mit der „Imperialen Lebensweise“[2][2] von Ulrich Brandt und Markus Wissen.[3][3] Aber was so ein richtiger Soziologe ist, der konstatiert nicht einfach die katastrophalen Folgewirkungen des Industrialismus und Konsumismus im Süden, sondern er deutet gleich die ganze Gesellschaft unter dieser Perspektive. Der Risiko-, der Versicherungs-, der Abstiegs-, der Fun-, der Instantgesellschaft, der pausenlosen und granularen Gesellschaft oder der Gesellschaft der Singularitäten fügt Lessenich die „Externalisierungsgesellschaft“ hinzu. Mein Unbehagen: Der gute alte Kapitalismus dankt so ab, eine seiner Facetten wird − das ist sich ein guter Soziologe schuldig − zum bestimmenden Merkmal der gesamten Gesellschaft. Allerdings muss man einräumen, dass Lessenich die Kritik der Externalisierung als Teil der Kritik der politischen Ökonomie begreift. Trotzdem bleibt die Analyse der politischen Ökonomie als Bedingung der Externalisierung eher unterbelichtet.

Doch zunächst zu den Stärken des Buches: Lessenich führt die unterschiedlichen Aspekte der ökologischen Zerstörung im Süden und die Verantwortung des „entwickelten“ Kapitalismus für diese Nebenwirkungen ausführlich und empirisch gut belegt vor. Einige Beispiele: In Indien wurden im Jahr 2014 6,75 Millionen Tonnen Baumwolle geerntet, das ist „etwa ein Viertel der in den letzten drei Jahrzehnten insgesamt um 20 Prozent gestiegenen Weltproduktion. Auch in diesem Fall besteht selbige heute beinahe vollständig aus genetisch modifizierter Baumwolle, auch hier sind Monsanto ‚Roundup’ und Glyphosat mit im Spiel − mehr als ein Zehntel der weltweit eingesetzten Agrochemikalien werden im Baumwollanbau verwendet. Für diesen und für die Weiterverarbeitung in der Wertschöpfungskette Textil werden Unmengen an Wasser – Grund-, Oberflächen- und Regenwasser – verbraucht, in Indien 21,6 Millionen Liter für jede Tonne Baumwolle. Wir erinnern uns: weltweit prominentestes Opfer dieses Wasserbedarfs ist der Aralsee, der binnen eines halben Jahrhunderts fast vollständig ausgetrocknet ist. In Indien ist es allerdings eher die Wasserverschmutzung, die den Betroffenen zu schaffen macht – neben den Arbeitsbedingungen in der lokalen Bekleidungsindustrie, die immer mal wieder auch in den hiesigen Medien zum Thema werden.“ (Lessenich, S. 91)

Ein anderes Beispiel: „Zwei Wochen All-inclusive-Urlaub an den karibischen Stränden von Cancún, Mexiko, zum Beispiel kosten – neben dem individuell zu entrichtenden Preis für das Gesamtpaket – den Rest der Welt 7218 kg CO2 pro Person: 90% davon gehen auf den Flug, aber auch das vollklimatisierte Hotel, die große Gartenanlage mit grünem Rasen (den es in der Region ansonsten nicht gibt) und die eine oder andere Stunde auf dem Jetski sind Ressourcenfresser; da fallen die praktischen, kleinen, eisgekühlten Wasserflaschen (anders als die Einheimischen müssen sich die Zugereisten in diesen Gegenden ja das Trinken von Leitungswasser nicht zumuten) und das in Plastikbechern abgepackte, mundgerechte gestückelte Frischobst kaum mehr ins Gewicht.“ (Lessenich, S. 133 f)

Bei Brandt/Wissen geht es auch um die ökologischen Folgewirkungen kapitalistischer Produktion, aber die empirische Basis ist deutlich dünner. Trotzdem sei hier ein Beispiel zitiert, auch wenn es etwas umständlich formuliert ist, so dass man über die Rechnung zweimal nachdenken muss: „Heute wird weltweit doppelt so viel Fleisch wie zwei Generationen zuvor konsumiert, wobei sich innerhalb dieser Zeitspanne auch die Weltbevölkerung mehr als verdoppelt hat: 1961 konsumierten 3 Milliarden Menschen im Durchschnitt 23 kg Fleisch pro Kopf, während 2011 etwa 7 Milliarden Menschen durchschnittlich 43 kg Fleisch konsumierten. Damit hat sich die weltweite Fleischproduktion von 71 auf 297 Millionen t mehr als vervierfacht.“ (Brandt/Wissen, S. 101)

„Externalisierung“ und „imperiale Lebensweise“ –
Reichweite der Begriffe

Verlassen wir die Ebene der beschreibenden Empirie. Lessenich bezeichnet das Verhältnis Nord/Süd als Externalisierung. Warum? Er begründet dies über die geschilderte Form der Arbeitsteilung und Zerstörung und unter Rückgriff auf das Konzept des ökologischen Fußabdrucks. Er konstatiert: Obwohl „die Länder des globalen Nordens typischerweise einen größeren ökologischen Fußabdruck aufweisen, also durch ihren Konsum einen hohen Bedarf an biologisch nutzbaren Flächen – Acker- und Weideland, Waldgebiete und Fischgründe – haben, sind die innerhalb ihrer Grenzen anfallenden Umweltbelastungen erstaunlicherweise relativ gering. In den ‚unterentwickelten’ Ländern des globalen Südens stellt sich dies hingegen genau umgekehrt dar: ein zumeist deutlich niedrigeres Konsumniveau und damit verbunden auch ein geringerer Flächenverbrauch geht hier in der Regel mit massiven Schädigungen der natürlichen Umwelt einher.“ (Lessenich, S. 96) Zweifel, ob die Umweltbelastungen im Norden relativ gering ausfallen, sind angebracht. Dies aber unterstellt, stellt sich die Frage: Wie kommt das? Die Antwort liegt nahe: durch die Externalisierung der ökologischen Folgen intensiver Ressourcennutzung in den Süden. Lessenich resümiert: „Während die ärmeren Gesellschaften mit irreversiblen Umweltschäden und sozialen Verwerfungen leben müssen, die wahlweise dem Soja-, Palmöl- oder Tabakanbau, der Baumwoll-, Sand- oder Garnelenproduktion geschuldet sind, werden ihnen zugleich systematisch Konsumchancen vorenthalten. Letztlich profitieren die reichen Gesellschaften also auch noch von dem geringeren ökologischen Fußabdruck, den das von ihnen dominierte System ungleichen Tauschs den armen Nationen beschert“ (Lessenich, S. 99). Etwas abstrakter wird dann die Externalisierungsgesellschaft so definiert: „Die reichen hochindustrialisierten Gesellschaften dieser Welt lagern die negativen Effekte ihres Handelns auf Länder und Menschen in ärmeren weniger ‚entwickelten’ Weltregionen aus.“ (Lessenich, S. 24)

Brandt/Wissen subsumieren die gleichen Phänomene einem anderen Begriff, nämlich dem der „imperialen Lebensweise“, der allerdings mit der Externalisierungsgesellschaft kompatibel ist – weil ihr Buch später erschienen ist, beziehen sie sich in einem Kapitel ausdrücklich auf Lessenich. Was ist nun unter imperialer Lebensweise zu verstehen? Sie definieren: „Der von uns vorgeschlagene Begriff der ‚imperialen Lebensweise’ verweist auf Produktions-, Distributions- und Konsumnormen, die tief in die politischen, ökonomischen und kulturellen Alltagsstrukturen und -praxen der Bevölkerung im globalen Norden und zunehmend auch in den Schwellenländern des globalen Südens eingelassen sind.“ (Brandt/ Wissen, S. 44) Sie wollen damit zum Ausdruck bringen, dass die Struktur der Produktion und Konsumtion im globalen Norden verantwortlich ist für das ökologische und ökonomische Desaster im Süden. Die Struktur wird beständig beschworen als rassistisch, patriarchal, kapitalistisch usw. usw., aber sie wird eben nicht analysiert und schon gar nicht werden die Zusammenhänge verdeutlicht – so bleiben Duftmarken, die gesetzt werden, aber die imperiale Lebensweise nicht erklären.

Im Text finden sich weitere Definitionen der imperialen Lebensweise. Sie sei – so ihre „zentrale Überlegung – eine Art Kompromiss zwischen den Interessen der Herrschenden und den Forderungen und Wünschen der Subalternen, wobei wichtige Voraussetzungen der Herstellung der Lebensbedingungen und die negativen Folgen teilweise externalisiert werden: das ist die imperiale Dimension der Lebensweise.“ (Brandt/ Wissen, S. 70) Oder: „Über die Produktions- und Konsumnorm wird die Reproduktion der individuellen zu einem konstitutiven Moment der imperialen Lebensweise, zu deren Voraussetzung und Ergebnis.“ (Brandt/ Wissen, S. 54)

Die imperiale Lebensweise wird zweimal über Normen definiert, die gleichzeitig als Klassenkompromiss zu verstehen sind. Das ist die Argumentationsfigur, die Wolfgang Abendroth − unter Bezug auf Weimarer Diskussionen etwa von Kirchheimer − für die Normen des Grundgesetzes vertreten hat. Dort lässt sich der Kompromiss exakt nachzeichnen und man weiß auch, von welchen Normen gesprochen wird. Aber welche Normen gibt die „imperiale Lebensweise“ vor? Brandt/Wissen sprechen von „Produktions-, Distributions- und Konsumnormen“. Aber woher kommen die, wie lassen sie sich beschreiben? Insbesondere mit Blick auf die Produktion und Distribution denkt man doch eher an ökonomische Gesetzmäßigkeiten und strukturelle Zwänge als an Normen. Bei Konsumnormen kann man eher assoziieren, etwa mit der Macht der Werbung usw. − aber es wird eben nicht erklärt, um welche Art von Normen es sich handeln soll und wie sie denn wirken. Auch in einem längeren Kapitel, das einen Abriss der Geschichte der Nord-Süd Beziehungen enthält, lässt sich nicht ermitteln, wie sich diese Geschichte − vielleicht über Diskurse (?) − in konkrete Normen umgesetzt hat und welche Wandlungen mit der historischen Entwicklung möglicherweise in den Beziehungen und Normen eingetreten sind. So bleibt nicht viel mehr als die Weisheit der katholischen Jugend aus den 1970ern oder die Einsicht von Papst Franziskus: „Wir leben auf Kosten der ‚Dritten Welt’ – unser Wohlstand ist mit deren Armut erkauft.“

Luxemburg und Lenin reloaded

Nun lässt sich über die imperiale Lebensweise möglicherweise die Zustimmung der Bevölkerung im Norden zu einem System der Ungleichheit, Ausbeutung und ökologischen Zerstörung, also zum Kapitalismus erklären. Brandt/Wissen schreiben denn auch: „Der Kerngedanke des Begriffs ist, dass das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren wesentlich über die Gestaltung der Gesellschaft und der Naturverhältnisse andernorts ermöglicht wird: über den im Prinzip unbegrenzten Zugriff auf das Arbeitsvermögen, die natürlichen Ressourcen und die Senken … im globalen Maßstab.“ (Brandt/Wissen, S. 43) Die Externalisierung ist gleichsam im Begriff der imperialen Lebensweise enthalten. Bei der imperialen Lebensweise handele „es sich um ein Paradoxon, dass im Epizentrum verschiedener Krisenphänomene angesiedelt ist: Sie wirkt … in vielen Teilen der Welt verschärfend auf Krisenphänomene wie den Klimawandel, die Vernichtung von Ökosystemen, die soziale Polarisierung, die Verarmung vieler Menschen, die Zerstörung lokaler Ökonomien oder die geopolitischen Spannungen. … Gleichzeitig trägt sie aber dort, wo sich ihr Nutzen konzentriert, zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse bei. … Ihrem Wesen nach beinhaltet sie die Möglichkeit eines überproportionalen Zugriffs auf Natur und Arbeitskraft – mit anderen Worten: auf ein ‚Außen’ – im globalen Maßstab. Sie setzt also voraus, dass andere auf ihren proportionalen Anteil verzichten.“ (Brandt/Wissen, S. 13 f) Kurz: Die imperiale Lebensweise wirkt zerstörerisch im Süden, aber stabilisiert die politischen Verhältnisse im Norden. Oder in der Diktion der katholischen Jugend von 1970: „Weil wir auf Kosten der Dritten Welt leben, geht es uns (wer immer das auch ist) vergleichsweise gut.“ Konsequenz: große Mehrheiten sind mit dem Zustand, wie er ist, einverstanden. Die Widersprüche, die aus der Ungleichheit auch im Norden entspringen, werden mit dem Begriff der imperialen Lebensweise von vornherein nivelliert. Auch das ist eher der katholische als ein kritischer Ansatz.

Bei Brandt/Wissen hört sich das streckenweise an wie Lenins Diktum von der Arbeiteraristokratie in den kapitalistischen Zentren, die nur deshalb der Revolution in Russland nicht folgt, weil sie von der Bourgeoisie bestochen wurde. Lenin schrieb: „Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich und eigentlich kaum möglich, dafür aber kann jede imperialistische ‚Groß’macht kleinere (als in England 1848-1868) Schichten der ‚Arbeiteraristokratie’ bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die ‚bürgerliche Arbeiterpartei’, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die ‚bürgerliche Arbeiterparteiunvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder …“ Dabei „haben Bourgeoisie und Opportunisten die Tendenz, das Häuflein der reichsten und privilegierten Nationen in ‚ewige’ Schmarotzer am Körper der übrigen Menschheit zu verwandeln, ‚auf den Lorbeeren’ der Ausbeutung der Neger, Inder usw. ‚auszuruhen’ und diese Völker mit Hilfe des modernen Militarismus, der mit einer großartigen Vernichtungstechnik ausgestattet ist, in Botmäßigkeit zu halten.“[4][4] Brandt/Wissen zitieren Lenin, wenn auch eine andere Stelle. So wundert es nicht, dass die imperiale Lebensweise sehr der Arbeiteraristokratie ähnelt. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: die Akzeptanz der Arbeiteraristokratie wird bei Lenin mehr oder weniger bewusst erzeugt, eben durch Bestechung, während sich die Prozesse der Produktion und Reproduktion der imperialen Lebensweise eher im Dunkeln vollziehen, im Unbewussten oder Vorbewussten – was Brandt/Wissen aber begrifflich nicht differenzieren, weil sie Bourdieus Konzept des Habitus folgen.

Die imperiale Lebensweise wird – Brandt/Wissen lehnen sich an Bourdieu an − zum Habitus, sie wird Körper, schreibt sich „in die Art und Weise des Bewegens, des Empfindens und des Geschmacks ein“ (Brandt/ Wissen, S. 59). Daraus folgt: weder bestechen die einen noch werden die anderen bestochen. Weiter basiert die Zustimmung nicht auf einem rationalen Kalkül, das etwa so beschrieben werden könnte: „Meine Reisen in den Süden haben mir gezeigt, dass es ‚uns’ verdammt gut geht, warum sollte ich für eine Änderung sein, so profitiere ich vom Kapitalismus, auch wenn ich in meiner Gesellschaft ein armer Hund bin.“ Lessenich argumentiert in diese Richtung: „Letztlich ist ohne weiteres nachvollziehbar, dass große gesellschaftliche Mehrheiten in den Externalisierungsgesellschaften Verlustängste haben. Deswegen wollen sie, dass alles so bleiben möge wie bisher – und die anderen dort, wo sie sind.“ (Lessenich, S. 28) Auch Brandt/ Wissen sehen ein solches subjektives Kalkül, die rational folgerichtige Zustimmung zur eigenen Ausbeutung: „Für viele Menschen bedeutet die imperiale Lebensweise die Möglichkeit eines subjektiv erfüllten Lebens: die ungleiche Aneignung von Arbeitskraft und Natur ermöglicht die Einkommen schaffende Produktion ebenso wie den Erwerb von Produkten (Haushaltsgeräte, Autos, Smartphones … ), die den Alltag erleichtern können bzw. lebenswerter zu gestalten helfen.“ (Brandt/Wissen, S. 55) Wenn dem so ist, muss man ja strukturell konservativ werden. Der Unterschied zwischen eingeschriebenem Habitus, zwischen unbewusster Aneignung und bewusstem Kalkül wird offensichtlich für die Diskussion der Perspektiven und der Chancen zur Überwindung von Ungleichheit relevant, aber bei Brandt/Wissen nicht aufgelöst.

Vorher aber ein weiterer Bezugspunkt der Diskussion. Beide Bücher verweisen implizit oder explizit auf Rosa Luxemburg. Rosa Luxemburg analysiert Marx’ Überlegungen im „Kapital“ zur erweiterten Reproduktion − das ist der Kauf von neuen Maschinen und Arbeitskraft, um mehr Produkte herzustellen und mehr Gewinn zu erzielen − und sie kommt zu folgendem Ergebnis: Für Waren, die für das konstante Kapital (Maschinen, Gebäude usw.) und für das variable Kapital (Arbeitskraft) notwendig sind, finden sich ebenso Käufer wie für den Anteil des produzierten Mehrwertes, den die Kapitalisten verzehren. Was aber, fragt sie, ist mit dem Anteil des Mehrwertes, der zur Akkumulation und erweiterten Reproduktion genutzt werden soll? Der existiert zunächst in Form von Waren, die aber keine Abnehmer finden, weil sie für die einfache Reproduktion, die Wiederherstellung von konstantem und variablem Kapital nicht notwendig sind. Wird der Konsum der Kapitalisten oder der Arbeiter durch höhere Löhne gesteigert, wird kein Kapital akkumuliert, ist die erweiterte Reproduktion nicht möglich, das Unternehmen verschwindet über kurz oder lang vom Markt. Luxemburg schreibt: „Die Schwierigkeit war ja die folgende: Für Zwecke der Akkumulation wird ein Teil des Mehrwertes nicht von den Kapitalisten verzehrt, sondern zum Kapital geschlagen behufs Erweiterung der Produktion. Es fragt sich nun: Wo sind die Käufer für dieses zuschüssige Produkt, das die Kapitalisten selbst nicht verzehren und das die Arbeiter noch weniger verzehren können, da ihre Konsumtion durch den Betrag des jeweiligen variablen Kapitals total gedeckt ist? Wo ist die Nachfrage für den akkumulierten Mehrwert, oder, wie Marx formuliert: Wo kommt das Geld her, um den akkumulierten Mehrwert zu bezahlen?“[5][5]

Luxemburgs Lösung lautet: Der für die Akkumulation notwendige Mehrwert, der zunächst der Schatzbildung dient, kann nur realisiert werden, d.h. die Waren, in denen dieser Mehrwert steckt, können nur verkauft werden, wenn nichtkapitalistische Dritte die „überschüssigen“ Produkte abnehmen oder ein „Außen“ existiert. Bei Luxemburg heißt es: „Der Akkumulationsprozeß des Kapitals ist durch alle seine Wertbeziehungen und Sachbeziehungen: konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert an nichtkapitalistische Produktionsformen gebunden. Letztere bilden das gegebene historische Milieu jenes Prozesses. Die Kapitalakkumulation kann so wenig unter der Voraussetzung der ausschließlichen und absoluten Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt werden, daß sie vielmehr ohne das nichtkapitalistische Milieu in jeder Hinsicht undenkbar ist. … Anders die Realisierung des Mehrwerts. Diese ist von vornherein an nichtkapitalistische Produzenten und Konsumenten als solche gebunden. Die Existenz nichtkapitalistischer Abnehmer des Mehrwerts ist also direkte Lebensbedingung für das Kapital und seine Akkumulation, insofern also der entscheidende Punkt im Problem der Kapitalakkumulation.“[6][6]

Diese von Luxemburg konstatierte Notwendigkeit, auf ein nichtkapitalistisches Milieu zurückzugreifen, wird im linken Diskurs als „Landnahme“ bezeichnet. Lessenich wie Brandt/Wissen beziehen sich auf die theoretischen Überlegungen und verwenden den Begriff der „Landnahme“ (Lessenich, S. 41). Bei Brandt/Wissen heißt es: „Inwertsetzung beziehungsweise Landnahme bezeichnet jenes Moment in der Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise, das sich im Verhältnis zwischen dem Kapitalismus und seinem Außen, den nicht-kapitalistischen Milieus, beobachten lässt.“ (Brandt/Wissen, S. 52) Das ist beinahe Luxemburg wörtlich. Auch Lessenich bezieht sich auf Luxemburgs Schlussfolgerung: Der Kapitalismus muss sich, „um auf Dauer bestehen zu können, in seinem Wirkungsbereich immer weiter ausbreiten, auf stets neue gesellschaftliche Bereiche, Felder und Räume. Wirtschaften nach dem Prinzip des rentablen Kapitaleinsatzes hat einen eingebauten Verallgemeinerungsanspruch, ja Vollkommenheitsanspruch: tendenziell die ‚ganze Welt’ wird zu seinem Revier, prinzipiell ‚alles’ gerät ihm zum Objekt der ökonomischen Verwertung, letztlich ‚alle’ werden in den Sog der kapitalistischen Warenwelt gezogen.“ (Lessenich, S. 32) Oder: „Der Kapitalismus kann sich eben nicht aus sich selbst heraus erhalten. Er lebt von der Existenz eines ‚Außen’, das er sich einverleiben kann.“ (Lessenich, S. 41)

Nun kann man die Schlussfolgerung nicht nutzen, ohne zu überlegen, ob denn die Prämisse stimmt[7][7] oder noch stimmt. Luxemburg hat ihre Überlegungen 1912 abgeschlossen, in der Hochphase des „Zeitalter des Imperialismus“, als die Europäer weltweit um Kolonien kämpften, die in der Tat durch nichtkapitalistische Produktionsweisen zu charakterisieren sind. Da hatten ihre Überlegungen eine gewisse Plausibilität. Ein Blick auf die Welt heute lässt doch gewisse Zweifel aufkommen, ob die kläglichen Reste globaler, nichtkapitalistischer Milieus ausreichen, um den kapitalistischen Zentren ihren gewaltigen Mehrwert abzunehmen. Nun ist das für Brandt/Wissen wie für Lessenich − wie erläutert − nicht das Hauptproblem, sie müssten erklären, wieso es sich der Süden gefallen lässt, dass verheerende Auswirkungen auf die natürliche Umwelt mit niedrigerem Konsum verbunden sind. Das aber lässt sich schlechterdings nicht mit Luxemburgs Theorem erklären. Oder: Der niedrige Konsum als Zeichen ökonomischer Unterlegenheit könnte Vorbedingung für die Hinnahme ökologischer Zerstörung sein, müsste also irgendwie erklärt werden. Schauen wir uns also die Strukturanalyse in beiden Büchern an.

Ursachen und Strukturen

Brandt/Wissen beziehen sich zwar beständig auf Strukturen, eben von race, gender, capitalism und was sonst noch so zum linken Chic gehört, sie setzen sie aber gleichsam voraus, definieren sie nicht mal, geschweige denn, dass Ursachen, Produktion, Wechsel-Wirkungen oder auch nur Bedingungen der Reproduktion geklärt werden. Nur die Reproduktion des Habitus „imperiale Lebensweise“ wird ausführlicher diskutiert. Ihr geschichtlicher Rückblick über die Nord-Süd-Beziehungen, vom „Kolonialismus und Frühkapitalismus“ über den „liberalen Kapitalismus, Neokolonialismus und Imperialismus im 19. Jahrhundert“ zum „Fordismus“ als „Verallgemeinerung der imperialen Lebensweise in den Zentren“ und dem Neoliberalismus als Vertiefung der imperialen Lebensweise liefert keine Erklärung. Sie argumentieren eher beschreibend und unterstellen Strukturen der Ausbeutung, sie analysieren diese aber nicht, erklären nicht Ursache und Wirkung.

Lessenich nimmt immerhin implizit die Dependenztheorie auf und führt Ausbeutung, soziale Ungleichheit und ökologische Verwüstungen auf ungleiche Machtverhältnisse zurück. Ausbeutung finde, so Lessenich, „immer dann statt, wenn Menschen über eine Ressource verfügen bzw. über diese in einer Weise verfügen können, die sie dazu befähigt, andere Menschen zur Produktion eines Mehrwerts zu bringen, von dessen Genuss die Produzierenden selbst wiederum ganz oder teilweise ausgeschlossen bleiben“ (Lessenich, S. 58). Warum können sie ausgeschlossen bleiben, warum lassen sie sich auschließen? Lessenich rekurriert auf globale Machtasymmetrien: „Die für Ungleichheitsbeziehungen charakteristische Asymmetrie kommt durch die unterschiedlichen sozialen Positionen ins Spiel, welche die miteinander in Interaktion tretenden Akteure einnehmen: der eine verfügt von vorneherein über mehr, vor allem über machtvollere Ressourcen als die andere. Darüber hinaus aber verstärkt sich diese ursprüngliche Asymmetrie im Zuge fortgesetzter Interaktion, insofern die Vorteile derselben systemisch auf einer – und zwar stets der machtvolleren – Seite der Beziehung kumulieren.“ (Lessenich, S. 56)

Die Machtasymmetrien lassen sich historisch zurückführen auf die militärische Überlegenheit Europas, überlegt Lessenich, wenn er schreibt: „Die Möglichkeit, ungleiche Tauschverhältnisse im Weltmaßstab durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, beruhte historisch auf dem Aufstieg des zentralisierten Verwaltungsstaats, dem Angriff der europäischen Mächte auf Territorien und Bevölkerungen im Rest der Welt, schließlich auf der Anwendung militärischer Gewalt zur Sicherung der Position der europäischen Staaten – und des Wohlstands ihrer Nationen – im Weltsystem. Dessen Geschichte lässt sich als eine der zyklischen Abfolge verschiedener globaler Hegemone, ihres Aufstiegs und ihres Falls erzählen. … Globalhistorisch angemessener sind aber wohl komplexere Geschichten von multipolaren Machtverhältnissen.“ (Lessenich, S. 38 f)

Nun muss man kein Schwarzseher sein um zu erkennen, dass militärische Gewalt und Kriege im globalen Maßstab keineswegs zurückgegangen sind. Aber die direkte Ausbeutung der Kolonien unterscheidet sich doch von den Nord-Süd-Beziehungen im neoliberalen Kapitalismus des Freihandels. Auch dort existieren Machtbeziehungen, die man aber genauer analysieren müsste, um die spezifischen Formen zu untersuchen, über die der Norden sich Vorteile sichert. Dazu gehört etwa die Subventionierung der Landwirtschaft in der EU, deren Produkte − und das knüpft nur sehr mittelbar an Luxemburgs Überlegungen an − über bilaterale Freihandelsabkommen in den Süden verkauft werden und dort die heimische, bäuerliche Landwirtschaft in den Ruin treiben, wenn diese nicht auf Exportgüter umstellt. Es wird Armut produziert, allerdings ohne dass sich der Norden den Mehrwert des Südens aneignet. Die Machtbeziehungen beruhen nur gelegentlich auf unmittelbarer Gewalt, ihre Funktionsweise oder Struktur müsste also geklärt werden.

Ebenso unspezifisch wie die Feststellung von Machtbeziehungen ist die Annahme von ungleichen Tauschbeziehungen. Dazu ein Beispiel, welches das Problem verdeutlichen könnte. Lessenich konstatiert den Rückgang der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Deutschland. Da diese aber nicht mit einer Verringerung der Lebensmittelproduktion verbunden ist, folgert er, dass Deutschland seinen landwirtschaftlichen Flächenbedarf in den Süden „exportiert“, also in „echte“ Agrargesellschaften. Deutschland habe „in den 2000er Jahren durch Agrarhandel kontinuierlich über 5 Millionen Hektar Land außerhalb des Territoriums der Europäischen Union in Anspruch genommen, die EU insgesamt über 25 Millionen, in der Spitze sogar mehr als 35 Millionen Hektar. Einen guten Teil davon nimmt der virtuelle Flächenhandel durch die Sojaimporte aus Südamerika ein: für Deutschland entsprachen die im Durchschnitt der Jahre 2008 bis 2010 importierten gut 5,3 Millionen Soja und Sojaäquivalente einem ausgelagerten Flächenbedarf von 2,2 Millionen Hektar – ein Gebiet etwa der Größe Hessens.“ (Lessenich, S. 84) Nun könnte man mit der gleichen Berechtigung feststellen, dass der Bestand an Smartphones in Südamerika in den letzten Jahren enorm gestiegen ist, aber kein einziges auf dem südamerikanischen Kontinent produziert wird. Anders gesagt: die Südamerikaner haben ihre Smartphoneproduktion nach Nordamerika oder China externalisiert. Hört sich ziemlich seltsam an, ist aber genau die Logik, der die Freihandelstheorie seit Ricardo folgt. Jedes Land produziert das, was es am besten kann und importiert aus anderen Ländern Produkte, die dort billiger hergestellt werden können. So entsteht die internationale Arbeitsteilung. Aber damit ist nicht erklärt, warum dieser Handel zur Ausbeutung führt, wie sich also die einen den Mehrwert der anderen aneignen. Erklärt ist nicht, dass und wie zu ungleichen Bedingungen getauscht wird, was weder die klassische, noch die marxistisch inspirierte Ökonomie annimmt. Ausgetauscht werden auf dem Markt − nach diesen Theorieansätzen − annähernde Äquivalente. Der Austausch und Handel erklärt nicht die Armut, die dazu zwingt, den Müll des Nordens − beinahe wörtlich − zu schlucken.

Um das zu klären, müsste man beispielsweise das unterschiedliche Kostenniveau für Waren und Arbeitskraft und die Verbindung zum Finanzsystem, insbesondere das System der Wechselkurse ebenso analysieren wie den Abfluss von Gewinnen internationaler Konzerne aus dem Süden in den Norden und vieles mehr. Solche Ansätze findet man weder bei Lessenich noch bei Brandt/Wissen, man findet nicht einmal Verweise auf aktuelle, fremde Analyseansätze, auf die sich die Autoren berufen könnten, um ungleiche Tauschbeziehungen oder Ausbeutung zu erklären. So bleibt man auf der Ebene der Phänomene.

Strukturen überwinden – aber wie?

Nahezu selbstverständlich plädieren Lessenich und Brandt/Wissen für eine andere Politik, für internationale Solidarität, Beendung der Ausbeutung und eine ökologische Entwicklung des Südens und des Nordens. Zunächst sind sich die Autoren darin einig, dass ein grüner Kapitalismus, d.h. beständiges Wachstum, ein Essential des Kapitalismus, ohne zunehmenden Ressourcenverbrauch nicht funktioniert. Eine kapitalistische Green Economy, der grüne Kapitalismus, müsse eine Illusion bleiben, „denn es gibt kein Wachstum ohne wachsenden Rohstoff- und Energieverbrauch – und damit auch ohne weitergehende Zerstörung von Natur und Lebensraum“ (Lessenich, S. 119). Brandt/Wissen erklären, dass Konzeptionen eines grünen Kapitalismus unzureichend seien, weil sie versprächen, „die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sowie die vorherrschende Produktions- und Konsumnorm so zu transformieren, dass grundlegende Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht infrage gestellt werden“ (Brandt/Wissen, S. 160). Das grundlegende Problem in den Transformationsdebatten und den Konzeptionen eines grünen Kapitalismus sei „das Fehlen eines Begriffs von Staat und kapitalistischer Gesellschaft. Kein Gedanke wird daran verschwendet, dass es sich bei Markt und Staat nicht um neutrale Institutionen handelt“ (Brandt/Wissen, S. 153). Dies unterstellt müsste man fragen, ob es im Interesse des „ideellen Gesamtkapitalisten“, also des Staates, der die gemeinschaftlichen Interessen des Kapitals vertritt, ist, dass Umwelt zerstört wird – der Staat müsste also gar nicht neutral sein, um ökologische Politik zu betreiben − auch hier müsste man dickere Bretter bohren. Trotzdem kann man der Schlussfolgerung zustimmen.

Die drei Autoren sind sich auch darin einig, dass keine Erfolge darüber zu erzielen sind, dass individuelle Verhaltensweisen umgestellt werden, also über den Appell an Maßhalten, Bescheidenheit, ökologische Verantwortung und was es da noch so gibt − das ist ein entscheidender Unterschied zur katholischen Jugend der 1970er. Lessenich schreibt: „Mit dem Verweis auf die weltwirtschaftliche Strukturiertheit der Externalisierung, auf ihre Strukturbedingtheit durch die über lange historische Zeiträume gewachsene und auf institutionalisierter Macht basierende Einrichtung des kapitalistischen Weltsystems, ist eines zugleich klar: Diese Externalisierungsstruktur wird durch individuelles Handeln allein, in welcher guten oder gar besten Absicht auch immer vollzogen, nicht gebrochen werden können.“ (Lessenich, S. 108) Aber er verknüpft Subjekt und Struktur: „Und doch sollte für uns externalisierungsgesellschaftlich Privilegierte auch das Moralprinzip gelten, uns an die eigene Nase zu fassen und unseren persönlichen Beitrag zum effektiven Erhalt unseres Privilegiertenstatus zu reflektieren. Vor allem aber müsste aus einer Moral- eine Strukturkritik des Systems werden. Dann nämlich könnte man nicht länger auf marktwirtschaftliche Instrumente setzen, um der Folgeeffekte des kapitalistischen Strukturprinzips ungleichen Tausches Herr zu werden.“ (Lessenich, S. 115 f)

Schwieriger wird die Situation allerdings bei Brandt/Wissen: Wenn die Ursache des Elends in der Lebensweise zu suchen ist, müsste doch nur jede Einzelne ihre Lebensweise umstellen und die Sache ginge klar, die Verhältnisse würden besser. Dagegen verweisen Brandt/ Wissen immer wieder − das wurde schon mehrfach angesprochen − auf Strukturen und Normen, aus denen der Einzelne nicht so einfach ausbrechen, die er nicht schlicht ignorieren könne. Die imperiale Lebensweise ist für sie in den Habitus eingeschrieben, Ergebnis von Sozialisierungsprozessen oder sie ist Körper und erzeugt so Zustimmung zu den bestehenden Verhältnissen. Oben wurde darauf hingewiesen, dass sowohl das rationale Kalkül als auch die unbewusste Eingliederung, das Einschreiben in den Habitus als Argumentationsmuster auftauchen. Gegen ersteres helfen möglicherweise moralische Appelle, Überzeugungsarbeit, rationale Diskurse.

Aber wie ist es mit der in den Körper eingeschriebenen Lebensweise? Kommt man da wieder raus oder ist eine einmal eingeübte Lebensweise ein für allemal festgelegt? Anders gesagt: Kann sich der Habitus ändern oder nicht? In der Tat wurde gegen Bourdieu der Vorwurf erhoben, er argumentiere strukturdeterministisch, d.h. die Struktur wird reproduziert, aber könne nicht intentional verändert werden. Dieser Vorwurf erscheint insoweit berechtigt, als der reflexiv-intentionale Bezug auf die Praxis bei Bourdieu zwar nicht völlig verschwindet, aber unterbelichtet bleibt. Bei Bourdieu bleibt der reflexive Bezug auf Handlungen auf der Ebene der dem Habitus immanenten Strategiewahl und der praktischen Rationalisierung einzelner Handlungen verhaftet. Damit gerät seine Theorie nicht zu einem Strukturdeterminismus, da die unterschiedlichen Strategien auf die Struktur zurückwirken und diese – nicht-intentional – verändern, nicht nur reproduzieren, sondern aus Interessenskonflikten neue Kräfteparallelogramme erzeugen, die wiederum Reaktionen im Habitus hervorrufen müssen. Das bedeutet, dass durch die Strategiewahl unterschiedlicher Akteure in einem Feld − durchaus nach den Spielregeln des Feldes − dieses selbst verändert wird, was dann wieder auf den Habitus zurückwirken muss, da dieser dem Habitat angepasst bleiben muss. Das Feld wird aber bei Bourdieu nicht zum Gegenstand politischer, bewusster Entscheidungen und Veränderungen.[8][8]

Um also aus der „imperialen Lebensweise“ auszubrechen müssten Brandt/Wissen zeigen, wie man aus der eingeübten Lebensweise ausbrechen kann. Man könne sie möglicherweise überwinden, argumentieren Brandt/Wissen, „wenn die Versprechen der imperialen Lebensweise für immer mehr Menschen unerreichbar werden bzw. wenn der – Unbehagen und Leid erzeugende – Zwang zum Konsum die möglichen Distinktionsgewinne überlagert … Über Bourdieu hinausgedacht kann das Unbehagen am Habitus auch zur Politisierung der bestehenden Verhältnisse und zur praktischen Suche nach Alternativen führen.“ (Brandt/Wissen, S. 60) Wieso sollte jemand ein Unbehagen am eigenen Habitus entwickeln, fragt man sich. Und selbst dann bleibt nur eine schwache Hoffnung, denn der Habitus hält ja auch an, wenn es keinen Grund mehr für ihn gibt, wenn die Lebensweise in Wirklichkeit prekär geworden ist. Der Habitus reproduziert Strukturen und verändert sich mit diesen – so recht kann man da nicht sehen, wie dort das Unbehagen reinpasst und welche Auswirkungen es auf Struktur und Habitus haben könnte.

Am Ende kehren sie zu den Machtverhältnissen zurück: „Warum also gelingt eine Transformation zur Nachhaltigkeit bislang erst in Ansätzen und ist nicht in der Lage, andere, nicht-nachhaltige Dynamiken einzuhegen oder gar umzukehren? Wie gesagt, dagegen stehen starke wirtschaftliche Interessen. … Der Konsens der wirtschaftlichen und politischen Eliten besteht darin, dass ihre während der neoliberalen Phase gestärkte Machtposition nicht infrage gestellt wird.“ (Brandt/Wissen, S. 41) Das könnte der Fibel für den kleinen Marxisten entnommen sein – dann braucht man aber die imperiale Lebensweise nicht. Alternativen wollen Brandt/Wissen deshalb als Suchprozess verstehen, für eine „solidarische Lebensweise und anderes, nämlich gerechtes, demokratisches, friedliches und ökologisch wirklich nachhaltiges Wohlstandsmodell jenseits kapitalistischer, patriarchaler und rassistischer Zumutungen und solcher der Unterwerfung und Ausbeutung der Natur“ (Brandt/ Wissen, S. 174). Sie hoffen auf alternative Bewegungen in den Zentren, unterscheiden zwischen diesen aber nicht, so dass alles gut Gemeinte auch gut ist. Sie propagieren keine Mosaik-Linke, die unterschiedliche Ansätze, Theorien und Strategien akzeptiert, sondern Beliebigkeit. Und nicht alles, was sich links fühlt, wirkt auch so, ändert die Verhältnisse zum Besseren. Eine Orientierung in einer unübersichtlichen Welt, wo eben nicht alle politischen Strategien zueinander passen, bleiben sie schuldig.

Lessenich setzt dagegen an existierenden Widersprüchen an: „Die Externalisierungsgesellschaft wird zunehmend von ihren eigenen Effekten eingeholt und selbst mit ihren negativen Externalitäten konfrontiert. … Auch der Müllkreislauf, den wir veranstalten, um die zumindest unansehnlichen, zumeist aber obendrein umweltschädlichen Überbleibsel unseres Lebenswandels loszuwerden, schlägt mehr und mehr auf uns zurück: der Kreis schließt sich, die Schlinge zieht sich zu, die Einschläge kommen näher.“ (Lessenich, S. 116) Das exemplifiziert er am Beispiel der Verschmutzung der Meere durch Mikroplastik. Der „ideelle Gesamtkapitalist“ ist möglicherweise eben nicht an einer fortschreitenden Umweltzerstörung interessiert. So folgert Lessenich: „Es ist das aufgeklärte Eigeninteresse, das uns am Prinzip der Externalisierung zweifeln lassen sollte – und uns dazu bringen sollte, von ihm abzulassen.“ (Lessenich, S. 188) Eine solche Umkehr reiche: „von einer mit den Privilegien der Zentrumsökonomien brechenden Revision des Welthandelsregimes, einer effektiven Besteuerung weltweiter Finanztransaktionen und einem Umbau der reichen Volkswirtschaften in Postwachstumsökonomien bis hin zu einem globalen Sozialvertrag zur Verzögerung des Klimawandels bzw. der egalitären Bewältigung seiner Folgen und einer transnationalen Rechtspolitik, die globale soziale Rechte wirkungsvoll verankert. Auf einen gemeinsamen Nenner gebracht liefe eine solche Reform auf eine konsequente Politik der doppelten Umverteilung hinaus: … Diese Mammutaufgabe aber lässt sich nicht allein mit solidarökonomischen Nischenprojekten oder konsumethischem Avantgardehandeln bewältigen – und sie wird uns auch nicht durch den technologischen Wandel, durch Digitalisierung und der Wissensökonomie abgenommen werden“ (Lessenich, S. 195). Mit Letzterem dürfte er recht haben. Ob das Eigeninteresse auch wirklich aufgeklärt werden kann, ob gegen die Einzelinteressen an der Nutzung natürlicher Ressourcen ein aufgeklärtes Gesamtinteresse durchzusetzen ist, kann man nur hoffen, ohne dabei die Skepsis zu verlieren.

[1][9] Vgl. auch die Besprechungen von Isabell Fannrich, Unser Reichtum und die Armut der anderen, Deutschlandfunk – https://www.deutschlandfunk.de/soziologie-unser-reichtum-und-die-armut-der-anderen.1310.de.html?dram:article_id=371837; Cornelius Pollmer, In Schieflage, in: SZ – http://www.sueddeutsche.de/kultur/soziologie-in-schieflage-1.3203681; Sacha Rufer, Buch Neben uns die Sintflut, https://www.umweltnetz-schweiz.ch/b%C3%BCcher/2338-buch-%C2%ABneben-uns-die-sintflut%C2%BB.html.

[2][10] Vgl. auch die Besprechungen von Dieter Boris, Imperiale Lebensweise? In: Informationsbrief Weltwirtschaft und Entwicklung, 05/2017, und Klaus Dörre, Imperiale Lebensweise – eine hoffentlich konstruktive Kritik, in: Sozialismus Nr. 6 und 7-8, 2018, 45. Jahrgang; Jens Berger, Unsere Imperiale Lebensweise – Rezension, Nachdenkseiten, https://www.nachdenkseiten.de/?p=41496.

[3][11] Ulrich Brand, Markus Wissen, Imperiale Lebensweise – zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus (München 2017); Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut – Die Externalisierungsgesellschaft und ihre Praxis (München 2016).

[4][12] W. I. Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in: W.I. Lenin, Werke, Bd. 23, S. 102-118, hier: S. 113/114.

[5][13] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, in: dies., Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin 1985, S. 111.

[6][14] Ebd., S. 314.

[7][15] Man könnte allerdings auch sagen: die Schatzbildung, die notwendig ist, bevor neu investiert wird, erfolgt bei den verschiedenen Kapitalisten nicht gleichzeitig; so fragen die einen neue Produktionsmittel aus vorherigem, akkumuliertem Mehrwert nach, während die anderen noch sparen, also akkumulieren und Waren verkaufen müssen, die sie selbst eben nicht direkt nachfragen. Die ersteren, die in Erweiterungen investieren, sind außerdem möglicherweise auf Kredite angewiesen, schaffen also Nachfrage nach Maschinen, Rohstoffen usw. über das vorher akkumulierte Kapital hinaus und werden so zu Käufern der Waren, in denen der „überschüssige“ Mehrwert steckt. Aber es geht hier nicht darum, Luxemburgs Analyse zu verifizieren oder zu falsifizieren.

[8][16] Vgl. ausführlich: Andreas Fisahn, Natur – Mensch – Recht. Elemente einer Theorie der Rechtsbefolgung, Berlin 1999, S. 268 ff.

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