„Das Kapital" und das gesellschaftliche Naturverhältnis

von Christian Stache
September 2017

Das Marx’sche „Kapital“ ist der Schlüssel zum Verständnis des gesellschaftlichen Naturverhältnisses in der gegenwärtigen historischen Phase der Zivilisationsgeschichte, der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Marx zufolge besteht „der letzte Endzweck“ (MEW 23: 15) seiner Trilogie zwar darin, „die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen“ (MEW 25: 839) und diese ebenso wie die Wissenschaft der politischen Ökonomie seiner Zeit durch seine positive Darstellung des „Bewegungsgesetzes der modernen Gesellschaft“ zu kritisieren. Aber indem Marx im „Kapital“ die historisch besondere Organisationsform der gesellschaftlichen Arbeit vom Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert bis zum Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit entfaltet, beschreibt er nicht nur die Beziehungen zwischen den Menschen. Er bestimmt auch die wesentlichen Verhältnisse zwischen Gesellschaft und Natur unter kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsbedingungen.

Jede Form gesellschaftlicher Arbeit umfasst immer die Relationen der Menschen zueinander und zur Natur. Marx verweist im ersten Band der „Kritik der politischen Ökonomie“ auf die transhistorische und wechselseitige (dialektische) Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur, die über die gesellschaftliche Arbeit vermittelt wird. Er bezeichnet den „Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur“ entsprechend zu Recht als „ewige Naturbedingung menschlichen Lebens“ (MEW 23: 198).

In der kapitalistischen Gesellschaftsformation erhält dieser Metabolismus eine besondere Form. Es entsteht ein systemimmanenter Widerspruch zwischen der Klasse der Kapitalisten auf der einen und der Arbeiterklasse sowie der Natur auf der anderen Seite. Mithilfe des Marx’schen opus magnum lässt sich – neben vielen anderen Aspekten, wie z.B. der Entstehung des ideologischen Dualismus zwischen Natur und Gesellschaft – nachvollziehen, wie es zum Antagonismus zwischen Kapital und Natur kommt, warum er notwendig in Naturzerstörungen mündet und was nötig ist, um, wie Engels es ausdrückte, eine „Versöhnung der Menschheit mit der Natur und mit sich selbst“ (MEW 1: 505) zu realisieren.

Aus der Lektüre des „Kapital“ geht zunächst hervor, dass die Menschen in der Zirkulationssphäre, d.h. auf dem Markt, keine unmittelbare Relation zur Natur eingehen. Als Teil der Gebrauchswerte der Waren ist die zumeist durch Arbeit umgeformte Natur lediglich der stoffliche Träger des Warenwerts (vgl. MEW 23: 50). „Welcher Gebrauchswert ihn trägt“, so Marx weiter, „ist dem Wert gleichgültig, aber ein Gebrauchswert muß ihn tragen.“ (MEW 23: 203)

In der Produktionssphäre hingegen wird in actu eine gesellschaftliche Beziehung zur Natur hergestellt. Die Produktionsmittelbesitzer eignen sich vermittelt über die Arbeit des Proletariats die Natur an, um Waren produzieren zu lassen. Während die Arbeiter aufgrund historischer Klassenkämpfe als Individuen nicht unmittelbar politisch vom Kapital unterdrückt werden, sie mangels eigener Produktionsmittel ihre Arbeitskraft aber an die Kapitalisten verkaufen müssen, unterliegt die Natur der direkten Herrschaft und einer grenzen- sowie (mit Ausnahme des Erschließungs- und Gewinnungsaufwands) kostenlosen Ausbeutung durch ihre Privateigentümer. Infolgedessen unterscheidet sich zwar das Verhältnis der Natur zum Kapital im Vergleich zum Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Ihre reelle und auch die formelle Subsumtion unter das Kapital sind verschieden. Natur und Lohnarbeiter werden dennoch im selben Produktionsprozess von derselben Kapitalistenklasse und im Interesse privater Profite ausgebeutet. Sie bildet gegenüber der Natur und dem Proletariat einen „wahren Freimaurerbund“ (MEW 25: 208), wie man in Anschluss an Marx’ Darstellung der Durchschnittsprofitrate im dritten Band der „Kritik der politischen Ökonomie“ sagen kann.

Um möglichst hohe Profite einzustreichen, entwickelt die herrschende Klasse die sozialen, technischen und natürlichen Produktivkräfte stetig weiter. Dadurch wird die Ausbeutung von Lohnarbeit und Natur sukzessive ausgeweitet und intensiviert. Die Produktivkräfte wandeln sich unter kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsverhältnissen tendenziell in Destruktivkräfte. Sie befördern nicht eine gerechte und nachhaltige Gesellschaft, sondern Ausbeutung und Zerstörung. Zudem erschließt das Kapital in wiederkehrenden, historisch variierenden und keineswegs ausschließlich ökonomischen Prozessen der „ursprünglichen Akkumulation“ (MEW 23: 741ff.) nicht nur neue Arbeitskräfte (Proletarisierung), sondern auch Naturräume und -elemente. Natur wird durch diversifizierte Formen des ökologischen Imperialismus beständig neu inwertgesetzt und kommodifiziert.

Die Naturausbeutung wird also beständig qualitativ und quantitativ ausgedehnt. Marx konstatiert daher im ersten Band des „Kapital“, dass die „kapitalistische Produktion (…) die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (MEW 23: 529f.) – wobei ausdrücklich unter Erde „ökonomisch alle ohne Zutat des Menschen von Natur vorhandnen Arbeitsgegenstände zu verstehn sind“ (MEW 23: 636).

Während die herrschende Klasse ihrer „leidenschaftlichen Jagd auf den Wert“ (ebd.: 168) nachgeht und Natur im qualitativ und quantitativ wachsenden Maße extensiv wie intensiv für die Warenproduktion aneignet, abstrahiert sie gleichzeitig mindestens vierfach von ihr, obwohl die Erde, wie der Ökomarxist Athanasios Karathanassis zu Recht konstatiert, „praktisch ein nahezu geschlossenes System ist“.1[1] Das Kapital sieht in der kapitalistischen Zirkulation wie in der Produktion ab von den Qualitäten der Natur, ihrer relativen Eigenständigkeit und ihren Eigengesetzlichkeiten, von den Folgen sowohl der Produktion und Zirkulation als auch der individuellen und produktiven Konsumtion der produzierten Waren für die Natur und schließlich von den zur Reproduktion der Natur nötigen natürlichen Prozessen. Ob die Kapitalisten aus leidensfähigen Wesen wie Tieren oder endlichen Ressourcen (Öl, Gas usw.) Waren herstellen lassen, ist für sie nicht von Belang, solange die Waren mit Gewinn verkauft werden. Ebenso wenig interessiert es das Kapital, ob sich Regenwälder als Ökosysteme nach der Abholzung reproduzieren können oder ob sich das Klima infolge der Treibhausgasemissionen erwärmt, die maßgeblich durch den globalen Warentransport und die industrielle Produktion hervorgebracht werden.

Die Klasse der Kapitalisten zieht einzig die Natur in ihr utilitaristisches Kalkül mit ein, wenn die Bedingungen für die Akkumulation von Profit und Reproduktion des Kapitalverhältnisses grundsätzlich gefährdet werden. Dies führt allerdings nicht zum Ende der Naturausbeutung, sondern bestenfalls zu ihrem kapitalkonformen Management.

Die sukzessive Naturaneignung durch die herrschende Klasse in der kapitalistischen Produktionsweise im Interesse der Profitmaximierung bei gleichzeitiger vierfacher Abstraktion von der Natur führt zu historisch-gesellschaftlich und räumlich verschiedenen, vielfältigen Formen der Naturzerstörung. Sie erzeugt letztlich einen, wie Marx im dritten Band des „Kapital“ schreibt und der US-Ökosozialist John Bellamy Foster beharrlich betont, „unheilbaren Riß“ (MEW 25: 821) im Stoffwechsel zwischen Gesellschaft und Natur. Die Destruktion der Natur ist also ein Systemfehler und das Kapital der größte Feind nicht nur der Menschheit, sondern auch der Natur.

Die „Moral von der Geschichte“ ist, so fasst Marx am Modell der kapitalistischen Landwirtschaft die Resultate seiner Analysen des gesellschaftlichen Naturverhältnisses im „Kapital“ zusammen, „daß das kapitalistische System einer rationellen Agrikultur widerstrebt oder die rationelle Agrikultur unverträglich ist mit dem kapitalistischen System“ (MEW 25: 131). Vielmehr müssten „die assoziierten Produzenten (…) ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln“, ihn „unter gemeinsame Kontrolle bringen“ (MEW 25: 828). Dafür sind, folgt man der Argumentation des Marx’schen Hauptwerks, der „Gemeinbesitz der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel“ (MEW 25: 791) sowie die soziale und demokratische Organisation der gesellschaftlichen Arbeit notwendige Voraussetzungen.

1[2] Athanasios Karathanassis, Naturzerstörung und kapitalistisches Wachstum. Ökosysteme im Kontext ökonomischer Entwicklungen, Hamburg 2003, S. 29.

Links:

  1. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftn1
  2. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftnref1