150 Jahre „Kapital" – work in progress

„ hoffe ich, daß die Bourgeoisie ihr ganzes Leben lang an meine Karbunkeln denken wird"

Zur Entstehungsgeschichte des „Kapital" im Spiegel der Marx’schen Korrespondenz

von Marcello Musto
September 2017

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1. Der Schreibprozess und die drei Bände

Nach den „Theorien über den Mehrwert“ (1861-63) biss Marx die Zähne zusammen und trat in eine neue Arbeitsphase ein. Im Sommer des Jahres 1863 begann er die Grundlegung des Werks, das sein opus magnum[2] (Heinrich 2011) werden sollte. Bis Dezember 1865 hatte er sich den umfangreichsten Versionen der verschiedenen Unterabteilungen gewidmet, die Skizzen für den ersten Band vorbereitet und den Hauptteil des dritten (seine einzige Darstellung des kompletten Prozesses der kapitalistischen Produktion) bereits besorgt. Die ersten Entwürfe für den zweiten Teil, seine erste grundlegende Darstellung der Kapitalzirkulation, standen ebenso. In Abänderung des in seinem Vorwort zu „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ von 1859 angekündigten Sechs-Bände-Plans fügte Marx in das Konzept für Band I jetzt einige Themen wie Bodenrente und Löhne ein, die ursprünglich in Band II und III hätten behandelt werden sollen. Mitte August 1863 informierte Marx Engels über seine Fortschritte: „Mit meiner Arbeit (dem Manuskript für den Druck) geht es in einer Hinsicht gut voran. Die Sachen nehmen bei der letzten Ausarbeitung, wie es mir scheint, eine erträglich populäre Form an, einige unvermeidliche G - W und W - G abgerechnet. Andrerseits, obgleich ich den ganzen Tag schreibe, geht’s nicht so rasch vom Fleck, wie meine eigne längst auf die Geduldprobe gestellte Ungeduld wünscht. Jedenfalls wird es 100 p. c. leichter verständlich als Nr. 1.“[3] (MEW 30: 368; Marx an Engels 15.8.1863)

Marx hielt das Tempo den ganzen Herbst hin durch und widmete sich zur Gänze dem ersten Band. Doch seine Gesundheit verschlechterte sich zusehends und als Folge machte er im November Bekanntschaft mit dem, was seine Frau „die schreckliche Krankheit“ nennen sollte, mit der er den Rest seines Lebens würde kämpfen müssen. Es handelte sich um einen Fall von Karbunkeln, einer schwerwiegenden Infektion, die in Form von Abszessen und hartnäckigen Eiterbeulen auftrat, die über den ganzen Körper verteilt den Kranken lähmten und fürchterliche Schmerzen verursachten.

Als Folge eines tiefen Geschwürs musste sich Marx einer gefährlichen Operation unterziehen und bewegte sich für längere Zeit am Rande des Todes. Wie Jenny Marx später berichtete, dauerte sein kritischer Zustand „vier volle Wochen“ an und war mit heftigsten körperlichen Schmerzen verbunden. Zugleich quälten ihn „die nagendsten Sorgen, geistige[n] Foltern aller Art“[4]. Nicht zuletzt weil die Krankheit die prekäre finanzielle Situation von Marx Familie noch verschärfte.

Anfang Dezember befand sich Marx bereits auf dem Weg der Besserung und er konnte Engels berichten, dass er „mit einem Fuß unter Erde“ gestanden habe und zwei Tage später, dass seine körperliche Verfassung ein „gutes Thema für eine Novelle“ sein würde (MEW 30: 375; Marx an Engels 2.12.1863). „Vorn den Mann, der his inner man mit Port, Bordeaux, Stout und massivsten Fleischmassen regaliert. (…) Aber hinten auf dem Buckel der outer man, verdammter Karbunkel.“ (Ebd.: 378; Marx an Engels 4.12.1863)

Nachdem Marx im Herbst 1864 eine Pause wegen seiner Verpflichtungen bei der Internationale eingelegt hatte, nahm er die Arbeit am dritten Abschnitt des Dritten Bandes wieder auf unter dem Titel: „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“. Januar bis Mai 1865 widmete sich Marx Band II. Das Manuskript war in drei Kapitel eingeteilt, die später in Engels Überarbeitung von 1885 zu Abschnitten wurden: „Erster Abschnitt: Die Metamorphosen des Kapitals“, „Zweiter Abschnitt: Der Umschlag des Kapitals“ und „Dritter Abschnitt: Die Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals“. Auf diesen Seiten entwickelte Marx neue Konzepte und verband einige der theoretischen Überlegungen aus Band I und III.

Letztlich drängte ihn auch sein Vertrag mit dem Verleger dazu, die fehlenden Abschnitte so schnell wie möglich zu komplettieren. Hier war Wilhelm Strohn, ein alter Genosse aus den Tagen des Bundes der Kommunisten, der Vermittler. In dem Marx durch Strohn am 9. Februar 1865 übermittelten Vertragsentwurf über die Veröffentlichung des Werks „Das Kapital. Ein Beitrag zur Kritik der Politischen Ökonomie“ hieß es, das Werk solle ungefähr 50 Bögen[5] umfassen und in zwei Bänden erscheinen. Der Entwurf legte in §8 fest, dass das Manuskript „spätestens Ende Mai dieses Jahres“ abzuliefern sei. Marx gelang es aber in den in den weiteren Verhandlungen mit Meißner, diese Festlegung auszuhebeln, wie er Engels später mitteilte (ebd. 31: 269; Marx an Engels 17.12.1866), und einen größeren Umfang auszuhandeln (ebd. 31: 134; Marx an Engels 5.8.1865).[6]

Ende Juli 1865 teilte er Engels den Stand der Dinge mit: „Es sind noch 3 Kapitel zu schreiben, um den theoretischen Teil (die 3 ersten Bücher) fertigzumachen. Dann ist noch das 4. Buch, das historisch-literarische, zu schreiben, was mir relativ der leichteste Teil ist, da alle Fragen in den 3 ersten Büchern gelöst sind, dies letzte also mehr Repetition in historischer Form ist. Ich kann mich aber nicht entschließen, irgend etwas wegzuschicken, bevor das Ganze vor mir liegt. Whatever shortcomings they may have, das ist der Vorzug meiner Schriften, daß sie ein artistisches Ganzes sind, und das ist nur erreichbar mit meiner Weise, sie nie drucken zu lassen, bevor sie ganz vor mir liegen.“ (MEW 31: 132; Marx an Engels 31.7.1865)

Doch bald schon zwingen ihn unaufschiebbare Verzögerungen und eine Reihe unglücklicher Vorfälle, seine Arbeitsweise zu überdenken: Vielleicht, so fragte sich Marx, wäre es angebrachter, zuerst den Band I fertig zu stellen, um ihn direkt zu veröffentlichen, anstatt alle Bücher des Werkes parallel zu abzuschließen. In einem weiteren Brief an Engels schreibt er, dass es sich für ihn gerade darum drehe, ob er einen guten Teil des Manuskripts bereits zum Verleger schicken oder erst alles zu Ende schreiben solle.

Obgleich er sich in der Folge dazu entschied, zuerst Band I in Angriff zu nehmen, wollte Marx die Arbeit an Band III nicht liegen lassen. Aber nach etwa einem Jahr endete eine kurze Phase ohne finanzielle Sorgen, die Marx ein schnelles Vorankommen erlaubt hatte, und neben den pekuniären Schwierigkeiten verschlechterte sich auch sein Gesundheitszustand im Laufe des Sommers.

2. Die Fertigstellung von Band I

Zu Beginn des Jahres 1866 stürzte sich Marx in die neuen Entwürfe zum ersten Band des „Kapital“. Im Januar schrieb er Wilhelm Liebknecht über seine Fortschritte: „Unwohlsein, immer periodisch retournierend, Pech durch allerlei Zufälle, Inanspruchgenommenheit durch die ‚International Association’ usw. haben alle meine freien Momente für Reinschrift meines Manuskripts konfisziert.“ (Ebd.: 497; Marx an Wilhelm Liebknecht 15.1.1866) Dennoch wähnte sich Marx am Ende seiner Arbeit und nahm an, „Band I für den Druck dem Buchhändler selbst im März“ bringen zu können (ebd.). Weiterhin, fügte er hinzu, werde „das Ganze, die beiden Bände (…), gleichzeitig erscheinen“ (ebd.). In einem anderen Brief vom gleichen Tag an Kugelmann heißt es, „was meine Schrift angeht, so bin ich 12 Stunden per Tag mit ihrer Reinschrift beschäftigt.“ Er hoffe, sie persönlich innerhalb zweier Monate („im März“) an den Verleger nach Hamburg bringen zu können (ebd.: 496; Marx an Ludwig Kugelmann 15.1.1866)

Entgegen seinen Vorhersagen verging ein ganzes Jahr im Kampf mit den Karbunkeln. Ende Januar 1866 informierte seine Frau Jenny den alten Kampfgefährten Johann Phillip Becker, dass ihr Mann „wieder an der frühern gefährlichen und höchst schmerzhaften Krankheit“ leide (ebd.: 586; Jenny Marx an Johann Philipp Becker 29.1.1866). Diesmal sei es noch schlimmer für ihn, da es ihn von neuem bei der eben begonnenen Reinschrift seines Buches zurückgeworfen habe. Ihrer Ansicht nach resultierten die Karbunkel ausschließlich aus der Überarbeitung und den langen nächtlichen Stunden ohne Schlaf und Pause.

Nur wenige Tage später erlitt Marx den bis dato schlimmsten Anfall. Als er sich weit genug erholt hatte, um sich wieder ans Schreiben zu machen, gestand er Engels gegenüber: „Diesmal ging es um die Haut. Meine Familie wußte nicht, wie sérieux der cas war. Wenn sich das Zeug noch drei- bis viermal in derselben Form wiederholt, bin ich ein Mann des Todes. Ich bin wundervoll abgefallen und noch verdammt schwach, nicht im Kopf, sondern in Lende und Beine. Die Ärzte haben ganz recht, daß übertriebne Nachtarbeit die Hauptursache dieses Rückfalls. Aber ich kann den Herrn nicht die Ursachen mitteilen – was auch ganz zwecklos wäre, die mich zu dieser Extravaganz zwingen. In diesem Augenblick hab’ ich noch allerlei kleinen Nachwuchs am Leib, der schmerzlich, aber in keiner Art mehr gefährlich.“ (MEW 31: 174; Marx an Engels 10.2.1866)

Trotz alledem richteten sich Marx Gedanken in erster Linie auf die Aufgabe, die vor ihm lag: „Mir war das Ekelhafteste die Unterbrechung meiner Arbeit, die seit 1st January, wo mein Leberleiden verschwunden war, famos voranging. Von ‚Sitzen’ war natürlich keine Rede. (…) Aber liegend habe ich doch, wenn auch nur während kurzer Intervalle im Tag, fortgeschanzt. Mit dem eigentlich theoretischen Teil konnte ich nicht vorangehn. Dazu war das Hirn zu schwach. Ich habe daher den Abschnitt über den ‚Arbeitstag’ historisch ausgeweitet, was außer meinem ursprünglichen Plan lag.“ (Ebd.) Marx schloss den Brief mit einer Sentenz, die ganz gut als Motto über jener Periode seines Lebens stehen könnte: „meine Schreibzeit gehört ganz meinem Werk.“ (Ebd.: 175) Wie sehr sollte dies für 1866 gelten!

Engels war in höchstem Maße alarmiert. Er befürchtete das Schlimmste und bemühte sich energisch, den Freund zu überzeugen, dass er so nicht mehr weitermachen könne: „Du mußt wirklich endlich etwas Vernünftiges tun, um aus diesem Karbunkelkram herauszukommen, selbst wenn das Buch dadurch noch 3 Monate verzögert würde. Die Sache wird wahrhaftig zu ernsthaft, und wenn Dein Gehirn, wie Du selbst sagst, nicht für die theoretischen Sachen up to the mark ist, so laß es doch etwas ausruhen von der höheren Theorie. Laß das Nachtsarbeiten einige Zeit sein und führe eine etwas regelmäßigere Lebensweise.“ (Ebd.: 176; Engels an Marx 10.2.1866)

Engels erbat in Manchester umgehend Rat bei dem befreundeten Arzt Dr. Gumpert, der eine weitere Arsenik-Kur empfahl, drang jedoch gleichzeitig darauf, dass Marx von der unrealistischen Idee Abstand nehmen solle, das ganze „Kapital“ fertig zu schreiben, bevor auch nur ein Teil davon veröffentlicht sei. „Kannst Du es nicht so einrichten“, bat er Marx, „daß wenigstens der erste Band zuerst zum Druck geschickt wird und der zweite ein paar Monate später?“ Er schloss seine Überlegungen mit einer vorausschauenden Beobachtung: „Was kann es da helfen, daß vielleicht ein paar Kapitel am Ende Deines Buchs fertig sind und nicht einmal ein erster Band zum Druck kommen kann, wenn wir überrascht werden von den Ereignissen?“ (Ebd: 177)

Marx antwortete dem Freund auf alle Punkte, schwankte dabei aber zwischen ernstem und scherzhaftem Ton. In Bezug auf das Arsenik schrieb er: „Sage oder schreibe dem Gumpert, er solle mir das Rezept mit Gebrauchsanweisung schicken. Da ich das Vertrauen in ihn habe, schuldet er schon dem Besten der ‚Politischen Ökonomie’, professionelle Etikette zu übersehn und mich von Manchester aus zu behandeln.“ (Ebd. 178; Marx an Engels 13.2.1866). In Bezug auf seine Arbeit antwortete er: „Was dies ‚verdammte’ Buch betrifft, so steht es so: Es wurde fertig Ende Dezember. Die Abhandlung über die Grundrente allein, das vorletzte Kapitel, bildet beinahe, in der jetzigen Fassung, ein Buch[7]. Ich ging bei Tag aufs Museum und schrieb nachts. Die neue Agrikulturchemie in Deutschland, speziell Liebig und Schönbein, die wichtiger für diese Sache als alle Ökonomen zusammengenommen, andrerseits das enorme Material, das die Franzosen seit meiner letzten Beschäftigung mit diesem Punkt darüber geliefert hatten, mußte durchgeochst werden. Ich schloß meine theoretischen Untersuchungen über die Grundrente vor 2 Jahren. Und grade in der Zwischenzeit war vieles, übrigens ganz meine Theorie bestätigend, geleistet worden. Auch der Aufschluß von Japan (ich lese sonst im Durchschnitt, wenn nicht professionell genötigt, niemals Reisebeschreibungen) war hier wichtig. Daher das ‚shifting system’ [Schichtsystem], wie es die englischen Fabrikhunde von 1848-50 an denselben Personen anwandten, auf mich von mir selbst angewandt.“ (Ebd. 178; Marx an Engels 13.2.1866)

Um das Buch rechtzeitig fertig zu stellen legte sich Marx ein eiserneres Pensum auf: Tagsüber arbeitete er in der Bibliothek, um mit den neusten Entwicklungen und Entdeckungen Schritt zu halten, des Nachts vergrub er sich in sein Manuskript. Über die Hauptaufgabe berichtete er Engels: „Obgleich fertig, ist das Manuskript, riesig in seiner jetzigen Form, nicht herausgebbar für irgend jemand außer mir, selbst nicht für Dich.“ (Ebd.). Über die vorhergegangenen Wochen schrieb er ihm: „Ich begann die Abschreiberei und Stilisierung Punkt ersten Januar, und die Sache ging sehr flott voran, da es mir natürlich Spaß macht, das Kind glattzulecken nach so vielen Geburtswehn. Aber dann kam wieder der Karbunkel dazwischen, so daß ich bis jetzt nicht weitergehn, sondern nur tatsächlich ausfüllen konnte, was nach dem Plan schon fertig war.“ (Ebd.: 179)

Schließlich nahm er Engels Ratschlag an, den Veröffentlichungs-Plan zu modifizieren: „Im übrigen stimme ich mit Deiner Ansicht überein und bringe den ersten Band, sobald er fertig, zu Meißner. Doch muß ich zum Fertigmachen wenigstens sitzen können.“ (Ebd.)

Tatsächlich ging es Marx von Tag zu Tag schlechter. Gegen Ende Februar hatten sich zwei neue Karbunkel gebildet und er versuchte vergeblich, sie selbst zu behandeln. Engels erzählte er, dass er mit einem „scharfe[n] Rasiermesser“ den „obern“ aufgeschnitten hatte, und den „Karbunkel nun als begraben“ betrachtete, „obgleich it still wants some nursing“ (Ebd.: 182; Marx an Engels 20.2.1866). Der „untere“ wiederum entziehe sich seiner „Kontrolle“ und sollte „diese Schweinerei voran[gehen]“ müsse er natürlich seinen Arzt Allen kommen lassen da er unfähig sei „infolge des locus des Hundes“, ihn selbst zu behandeln (ebd.).

Diese grässlichen Details ließen Engels keine Ruhe; er fühlte sich genötigt, den Freund zu rügen – heftiger als er es jemals getan hatte: „… kein Mensch kann diese chronische Karbunkelgeschichte auf die Dauer aushalten, abgesehen davon, daß endlich einmal einer auftreten kann, der eine solche Gestalt annimmt, daß Du daran zum Teufel gehst. Und wo ist dann Dein Buch und Deine Familie?“ (Ebd.: 184; Engels an Marx 22.2.1866). Um Marx etwas Erleichterung zu verschaffen, versprach er für ihn jedes finanzielle Opfer zu bringen. Er bat ihn, vernünftig zu sein und die Arbeit fürs erste komplett ruhen zu lassen, bis sich sein Gesundheitszustand verbessert habe.

Schließlich überzeugte das Marx, eine Pause einzulegen. Am 15. März reiste er nach Margate, einem Kurort bei Kent und meldete am zehnten Tag an Engels: „Ich lese nichts, schreibe nichts. Schon des dreimaligen Arseniks im Tag wegen muß man Mahlzeiten und die Zeiten des Herumbummelns an der See und auf den nachbarlichen hills so einrichten, daß man ‚keine Zeit’ findet zu andern Dingen (…) Was den geselligen Verkehr hier angeht, so existiert er natürlich nicht. Ich kann singen mit dem milier of the Dee: ‚I care for nobody and nobody cares for me.’” (Ebd.: 193; Marx and Engels 24.3.1866)

Anfang April erzählte Marx seinem Freund Kugelmann, dass er sich „sehr erholt habe“. Zugleich beschwerte er sich, durch die Unterbrechung seien „wieder mehr als zwei Monate – Februar, März und Hälfte April vollständig für mich verlorengegangen, und die Fertigmachung meines Buchs wieder in die Länge geschoben!“ (Ebd.: 514; Marx an Ludwig Kugelmann 6.4.1866) Nach seiner Rückkehr nach London musste die Arbeit noch mal einige Woche ruhen, da er von Rheumatismus und anderen Beschwerden heimgesucht wurde. Auch wenn er Engels Anfang Juni berichten konnte, dass „nichts Karbunkelhaftes“ (ebd. 222; Marx an Engels 7.6.1866) mehr erschienen sei, beklagte er sich doch, dass seine Arbeit sich allein durch körperliche Gebrechen verzögert habe.

Im Juli machten sich dann wieder die drei altbekannten Feinde bemerkbar: Livius’ „periculum in mora“ („Gefahr im Verzuge“) in Form wachsender Mietrückstände, die Karbunkel, von denen sich bereits ein neuer ankündigte, und eine marodierende Leber. Im Folgemonat versicherte Marx Engels, dass er sich – trotz schwankender Gesundheit („täglich auf und ab“, ebd.: 247; Marx an Engels 7.8.1866) –, insgesamt besser fühle; das Gefühl, „wieder arbeitsfähig zu sein“, tue viel für einen Mann. Es bedrohten ihn „hier und da neue Karbunkelanfänge aber sie verschwinden immer wieder“, sie zwängen ihn allerdings, seine Arbeitsstunden „sehr within limits“ zu halten. (Ebd.: 253; Marx an Engels 23.8.1866). Am gleichen Tag noch schrieb er an Kugelmann: „[Ich] glaube […] nicht, daß ich vor Oktober das Manuskript des ersten Bands (es werden jetzt 3 Bände) nach Hamburg bringen kann. Ich kann nur sehr wenige Stunden per Tag produktiv arbeiten, ohne es gleich körperlich zu spüren…“ (Ebd.: 520; Marx an Ludwig Kugelmann 23.8.1866)

Auch diesmal war Marx viel zu optimistisch. Der andauernde Strom negativer Ereignisse, denen er täglich im Kampf ums Überleben ausgesetzt war, erwies sich abermals als Hindernis auf dem Weg zur Fertigstellung seines Textes. Darüber hinaus hatte er wertvolle Zeit verloren, weil er immer wieder zum Pfandhaus laufen musste, um dem Teufelskreis aus Schuldscheinen zu entkommen, in dem er sich verfangen hatte.

Mitte Oktober gestand Marx Kugelmann seine Angst, der langen Krankheit wegen und aufgrund all der Kosten, die diese mit sich gebracht hatte, die Schuldner nicht länger hinhalten zu können; es stehe ihm „daher Zusammenbruch des Hauses über dem Kopf bevor“ (ebd.: 533: Marx an Ludwig Kugelmann 13.10.1866). Nachdem er Kugelmann seine Lage geschildert hatte, eröffnete Marx ihm gegenüber einen Plan, den er gefasst hatte (ebd.: 534):

„Meine Umstände (körperliche und bürgerliche Unterbrechungen ohne Unterlaß) veranlassen, daß der Erste Band zuerst erscheinen muß, nicht beide auf einmal, wie ich zuerst beabsichtigte. Auch werden es jetzt wahrscheinlich 3 Bände.

Das ganze Werk zerfällt nämlich in folgende Teile:

Buch I. Produktionsprozeß des Kapitals.

Buch II. Zirkulationsprozeß des Kapitals.

Buch III. Gestaltung des Gesamtprozesses.

Buch IV. Zur Geschichte der Theorie.

Der erste Band enthält die 2 ersten Bücher.

Das 3te Buch, denke ich, wird den zweiten Band füllen, das 4te den 3.“

Indem er seine Arbeit seit „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ (1859) noch einmal Revue passieren ließ, fuhr Marx fort: „Ich habe es für nötig erachtet, in dem ersten Buch wieder ab vorn zu beginnen, d.h. meine bei Duncker erschienene Schrift in einem Kapitel über Ware und Geld zu resümieren. Ich hielt das für nötig, nicht nur der Vollständigkeit wegen, sondern weil selbst gute Köpfe die Sache nicht ganz richtig begriffen, also etwas Mangelhaftes an der ersten Darstellung sein mußte, speziell der Analyse der Ware.“ (Ebd. )

Wie der vorangegangene Monaten war der November geprägt von extremer Armut. Gegenüber Engels schilderte Marx: „Ich bin durch alles das nicht nur sehr in der Arbeit unterbrochen worden, sondern habe mir auch, da ich die bei Tag verlorene Zeit bei Nacht wieder aufmachen wollte, einen schönen Karbunkel nicht weit vom penis wieder zugezogen.“ (Ebd.: 262; Marx an Engels 8.11.1866). Zugleich bestand er darauf, dass es „in diesem Sommer und Herbst nicht die Theorie, die die Verzögerung bewirkt, sondern die körperlichen und bürgerlichen Verhältnisse“ waren, die seine Arbeit aufhielten (ebd.). Wenn er bei guter Gesundheit gewesen wäre, hätte er seine Arbeit komplettieren können. Er erinnerte Engels daran, dass es gerade drei Jahre her war, „daß der erste Karbunkel operiert wurde“ (ebd.: 263; Marx an Engels 10.11.1866), Jahre in denen er nur in „kurzen Intervallen“ frei von ihnen gewesen sei. Im Dezember fügte er in Bezug auf seinen täglichen Kampf mit der Armut hinzu: „Ich bedaure nur, daß Privatpersonen nicht mit demselben Anstand can file their bills for the Bankruptcy Court wie Kaufleute.“ (Ebd.: 266; Marx an Engels 8.12.1866)

Den ganzen Winter hindurch änderte sich kaum etwas an der Situation, so dass im späten Februar 1867 Marx seinem Freund in Manchester (der ihm nie einen Gefallen abgeschlagen hatte) schrieb: „Ich habe Sonnabend (übermorgen) Exekution im Haus von einem Grocer [Krämer], wenn ich ihm nicht wenigstens 5 £ zahle. (…) Die Arbeit wird bald fertig sein und wäre es heute, wenn ich während der letzten Zeit nicht zu sehr herumgehetzt.“ (Ebd.: 277; Marx an Engels 21.2.1866)

Gegen Ende des Monats konnte Marx endlich die erhoffte Nachricht geben: Das lang ersehnte Buch war fertig. Nun musste er es nach Deutschland bringen. Das zwang ihn erneut, Engels um Geld anzugehen, um „Kleidungsstücke und Uhr, die im Pfandhaus wohnen, herausnehmen“ zu können (ebd.: 281; Marx an Engels 2.4.1867). Andernfalls wäre es ihm nicht möglich, abzureisen.

Nach Ankunft in Hamburg diskutierte Marx mit Engels den neuen Plan, den Meißner unterbreitet hatte: „Er will jetzt, daß das Buch in 3 Bänden erscheint. Er ist nämlich dagegen, daß ich das letzte Buch (den geschichtlich-literarischen Teil) konzentriere, wie ich es vorhatte. Er sagt, buchhändlerisch und für die ‚flache’ Lesermasse rechne er grade am meisten auf diesen Teil. Ich sagte ihm, in dieser Hinsicht ihm zur Verfügung zu stehn.“ (Ebd.: 288; Marx an Engels 13.4.1866).

Wenige Tage später schrieb er ähnliches an Becker: „Das ganze Werk erscheint in 3 Bänden. Der Titel ist: „Das Kapital. Kritik der Politischen Oekonomie“, Der erste Band umfaßt das Erste Buch: „Der Produktionsprozeß des Kapitals„. Es ist sicher das furchtbarste Missile, das den Bürgern (Grundeigentümer eingeschlossen) noch an den Kopf geschleudert worden ist.“ (Ebd.: 541; Marx an Johann Phillip Becker 17.4.1866)

Nach einigen Tagen Aufenthalt in Hamburg fuhr Marx nach Hannover. Er blieb dort als Gast Kugelmanns, den er jetzt zum ersten Mal nach Jahren reiner Brieffreundschaft persönlich kennen lernte. Marx hielt sich für etwaige Hilfestellungen für Meißners Lektorat verfügbar. Er berichtete Engels, dass er sich außerordentlich erholt habe. „Keine Spur des alten Übels“ oder seiner „Leberanschläge“ seien zu entdecken. „Dazu“, so ergänzte er, „trotz schwerer Verhältnisse, guter Humor…“ (Ebd.: 291; Marx an Engels, 24.4.1867). Sein Freund antwortete aus Manchester: „Es ist mir immer so gewesen, als wenn dies verdammte Buch, an dem Du so lange getragen hast, der Grundkern von allem Deinem Pech war und Du nie heraus kommen würdest und könntest, solange dies nicht abgeschüttelt. Dies ewig unfertige Ding drückte Dich körperlich, geistig und finanziell zu Boden, und ich kann sehr gut begreifen, daß Du jetzt, nach Abschüttelung dieses Alps, Dir wie ein ganz andrer Kerl vorkommst…“ (Ebd.: 292; Engels an Marx 27.4.1867)

Marx war erpicht darauf, die kommende Veröffentlichung unter seinen Freunden bekannt zu machen. An Sigfried Meyer (1840-1872), einen deutschen Sozialisten aus der Internationalen, der in New York die Arbeiterbewegung organisierte, schrieb er: „Der Band I umfaßt den ‚Produktionsprozeß des Kapitals’. … Band II gibt Fortsetzung und Schluß der Theorie, Band III die Geschichte der Politischen Ökonomie seit Mitte des 17. Jahrhunderts.“ (Ebd.: 542f,; Marx an Sigfried Meyer 30.4.1867)

Mitte Juni wurde Engels für die Korrektur des Textes für die Drucklegung hinzugezogen. Er äußerte, dass – verglichen mit der 1859 erschienen Schrift „der Fortschritt in der Schärfe der dialektischen Entwicklung sehr bedeutend“ sei (ebd.: 303; Engels an Marx 16.7.1867). Der Autor fühlte sich durch diese Bestätigung geschmeichelt: „Deine bisherige Satisfaktion ist mir wichtiger als anything die übrige Welt may say of it.“ (Ebd.: 305; Marx an Engels 22.7.1867). Allerdings merkte Engels an, dass Marx Einführung der Wertform übermäßig abstrakt und nicht klar genug formuliert sei, um auch den in theoretischen Abhandlungen unerfahrenen Lesern verständlich zu sein; auch betrübte ihn, „daß grade der wichtige zweite Bogen unter dem Karbunkeldruck leidet.“ (Ebd.: 304; Engels an Marx 16.7.1867). In seiner Antwort verfluchte Marx noch einmal jene körperlichen Gebrechen, die ihn während des Schreibens geplagt hatten – „Jedenfalls hoffe ich, daß die Bourgeoisie ihr ganzes Leben lang an meine Karbunkeln denken wird.“ (Ebd.: 305; Marx an Engels 22.7.1867) Gleichzeitig sah er ein, dass er für ein größerer Publikum schreiben müsse und plante einen Anhang, der die Entwicklung der Wertform klarer darstellen sollte. Ende Juni war dieser Anhang fertig gestellt.

Marx vervollständigte seine Korrekturen um zwei Uhr morgens am 1. August 1867. Nur wenige Minuten später setzte er einen Brief an seinen Freund in Manchester auf: „Eben den letzten Bogen (49.) des Buchs fertig korrigiert. […]. Bloß D i r verdanke ich es, daß dies möglich war! […] I embrace you, full of thanks!“ (Ebd.: 323; Marx an Engels 24.8.1867). Ein paar Tage später präsentierte Marx in einem weiteren Brief das, was seiner Ansicht nach die zwei Hauptpfeiler des Buches ausmachten: „1. (darauf beruht alles Verständnis der facts) der gleich im Ersten Kapitel hervorgehobne Doppelcharakter der Arbeit, je nachdem sie sich in Gebrauchswert oder Tauschwert ausdrückt; 2. Die Behandlung des Mehrwerts unabhängig von seinen besondren Formen als Profit, Zins, Grundrente etc.“ (Ebd.: 326; Marx an Engels 24.8.1867)

Der Verlag startete die Auslieferung am 11. September; damit lag „Das Kapital“ in den Schaufenstern der Buchhandlungen.[8] Das Inhaltsverzeichnis sah nun nach den letzten Änderungen folgendermaßen aus:

Vorwort

1. Ware und Geld

2. Die Verwandlung von Geld in Kapital

3. Die Produktion des absoluten Mehrwert

4. Die Produktion des relativen Mehrwerts

5. Weitere Forschung zur Produktion des absoluten und relativen Mehrwerts

6. Der Akkumulationsprozess des Kapitals

7. Anhang zu Teil 1, 1. Die Wertform[9]

Trotz der langen Bearbeitung bis zur Veröffentlichung der ersten Ausgabe und der nachträglichen Einfügungen sollte die Struktur in den kommenden Jahren grundlegende Änderungen und Erweiterungen erfahren. Band I sollte also auch über seine Fertigstellung hinaus einen nicht unwesentlichen Teil von Marxens Energie in Anspruch nehmen.

3. Auf der Suche nach der „definitiven“ Version

Bereits im Oktober 1867 wandte sich Marx wieder dem zweiten Band zu. Und mit dieser Wiederaufnahme kehrten auch seine gesundheitlichen Beschwerden zurück. Dazu kamen wie immer der „Andrang from without“ und der „Hauskatzenjammer“; Mit einiger Bitterkeit stellte Marx luzide gegenüber Engels fest: „Meine Krankheit kommt immer aus dem Kopf.“ (Ebd.: 368; Marx an Engels 19.10.1867). Wie gewohnt sandte Engels alles Geld, das er entbehren konnte, und verband damit in seiner Antwort die Hoffnung, dass es die Karbunkeln vertreibe (vgl. ebd.: 372; Engels an Marx 22.10.1867). Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung. Marx schrieb Ende November, dass sein Gesundheitszustand sich „sehr verschlechtert“ habe und von Arbeiten „kaum die Rede“ sein könne (ebd.: 390; Marx an Engels 27.11.1867).

Das neue Jahr 1868 begann, wie das alte geendet hatte. Während der ersten Wochen im Januar konnte Marx nicht einmal seine Korrespondenz besorgen. Gegenüber Becker gestand Jenny, dass ihr „armer Mann … seit Wochen wieder an seinem alten, schweren, schmerzlichen und durch die stete Wiederkehr gefährlichen Leiden gefesselt“ darniederlag. (MEW 32: 691; Jenny Marx an Johann Philipp Becker nach dem 10.1.1868) Marx nahm erst Ende Januar das Schreiben wieder auf. Engels teilte er mit: „Ich werde 2-3 Wochen noch absolut nicht arbeiten…“ (ebd.: 25; Marx an Engels 25.1.1868).

Ende März äußerte er gegenüber Engels: „Mein Zustand ist derart, daß ich eigentlich alles Arbeiten und Denken für some time aufgeben müßte; aber das würde mir schwer, selbst wenn ich die Mittel zum Strolchen hätte.“ (Ebd.: 51; Marx an Engels 25.3.1868). Diese neue Arbeitsunterbrechung setzte gerade zu dem Zeitpunkt ein, als er die Arbeit an Band II wieder aufnehmen wollte – immerhin hatte sie seit 1865 für drei Jahre ruhen müssen. Über das Frühjahr hatte er die ersten zwei Kapitel fertig gestellt,[10] zusätzlich zu einigen vorbereitenden Manuskripten zum Verhältnis von Mehrwert und Profitrate, zum Profitraten-Gesetz und zum Umschlag des Kapitals. All das sollte ihn bis Ende 1868 voll in Beschlag nehmen.[11] Ende April 1868 sandte Marx Engels einen neuen Arbeitsplan, mit Fokus auf „der Entwicklungsmethode der Profitrate“.. Dabei betonte er, dass in Band II „der Zirkulationsprozeß des Kapitals unter den im I. Buch entwickelten Voraussetzungen dargestellt“ werden solle. Er nahm sich weiterhin vor – so gut es ging – die „Formbestimmungen“ des fixen wie zirkulierenden Kapitals und des Kapitalumschlags vorzunehmen. Sein Ziel dabei war die Aufdeckung der „gesellschaftliche[n] Verschlingung der verschiednen Kapitale, Kapitalteile und der Revenue (= m) miteinander.“ Band III behandle dann die „Verwandlung des Mehrwerts in seine verschiednen Formen und gegeneinander getrennten Bestandteile“. (ebd.: 70; Marx an Engels 30.4.1868).

In der zweiten Augustwoche äußerte er in einem Brief an Kugelmann seine Hoffnung, die ganze Arbeit Ende September des folgenden Jahres (1869) abschließen zu können (ebd.: 556; Marx an Kugelmann 10.8.1868). Doch im Herbst waren die Karbunkel zurück und im Frühjahr 1869, als Marx noch immer mit dem dritten Teil von Band II[12] zu Gange war, machte sich auch seine Leber wieder bemerkbar. Marx mit schrecklicher Regelmäßigkeit auftretendes Unglück wollte auch in den folgenden Jahren kein Ende nehmen und sollte ihn daran hindern, den zweiten Band des „Kapital“ jemals fertig zu stellen.

Aber es gab auch Gründe theoretischer Natur, die es Marx erschwerten, voranzukommen. Vom Herbst 1868 bis zum Frühjahr 1869 versuchte er ständig über die neusten Entwicklungen des Kapitalismus auf dem Laufenden zu bleiben und exzerpierte dazu fleißig aus Artikeln über Finanzmärkte und Währungsgeschäfte, die in Zeitschriften wie The Money Market Review, The Economist u.a. erschienen.[13] Als er z.B. im Herbst 1869 von einigen (allerdings belanglosen) Neuerscheinungen über Russland gehört hatte, entschied er sich, umgehend Russisch zu lernen, um alle neue Literatur aus erster Hand studieren zu können. Mit dem üblichen Eifer stürzte er sich in die neue Sprache und Anfang 1870 schrieb Jenny an Engels, dass Marx, statt „sich zu hegen und pflegen“, angefangen habe, „auf Mord und Brand Russisch zu studieren“. Er „ging wenig mehr aus, aß unregelmäßig und zeigte den Carbuncle unter dem Arm erst, nachdem er schon bedeutend angeschwollen und verhärtet war“. (Ebd.: 705; Jenny Marx an Engels 17.1.1870). Engels zögerte nicht, seinen Freund zum wiederholten Male zu drängen, seine Lebensweise zu ändern, „selbst im Interesse Deines 2ten Bandes“ (ebd: 426; Engels an Marx 19.1.1870). Er hielt ihm vor, dass er bei „der ewigen Wiederholung solcher Unterbrechungen“ nie mit seinem Buch fertig werden würde.

Diese Voraussage sollte sich bewahrheiten. Früh im folgenden Sommer schrieb Marx in Rückschau auf die letzten Monate an Kugelmann, dass seine Arbeit den „ganzen Winter [hindurch] durch Krankheit unterbrochen worden“ war. Zudem sei es nötig gewesen, „Russisch zu ochsen, da es bei der Behandlung der Landfrage unumgänglich geworden ist, die russischen Grundeigentumsverhältnisse in den Originalquellen zu studieren.“ (Ebd.: 686; Marx an Kugelmann 27.6.1870)

Nach all den Unterbrechungen und einer Periode intensiver politischer Aktivität für die Internationale in Folge der Ereignisse rund um die Pariser Commune wandte sich Marx erst einmal einer Neuherausgabe des Ersten Bandes zu. Von der Art und Weise unbefriedigt, wie er die Werttheorie dargelegt hatte, verbrachte er Dezember 1871 bis Januar 1872 damit, seinen 1867 geschriebenen Anhang zu überarbeiten, was schließlich zu einer Umarbeitung des ganzen ersten Kapitels führte.[14] Bei der Gelegenheit revidierte er – neben einigen kleinen Einfügungen – die ganze Struktur des Buches.[15]

Diese Änderungen und Überarbeitungen betrafen auch die Übersetzung ins Französische. Ab März 1872 war Marx mit der Korrektur der Entwürfe beschäftigt gewesen, die dann sukzessive zwischen 1872 und 1875 an die Druckerei geschickt wurden.[16] Im Laufe dieser Revisionen entschied sich Marx zu weiteren Änderungen am Text, zumeist in den Abschnitten über die Akkumulation des Kapitals. Im Nachwort zur französischen Ausgabe attestierte er dieser Ausgabe einen „wissenschaftlichen Wert unabhängig vom Original“ (MEW 23: 32).

Auch in den letzten Jahren seines Lebens arbeitete Marx weiter am „Kapital“, wenn auch nicht im gleichen Tempo wie zuvor. Zum einen forderte sein immer noch prekärer Gesundheitszustand seinen Tribut, zum anderen sah er in einigen Bereichen persönliche Wissenslücken klaffen, die er unbedingt noch schließen musste. 1875 verfasste er ein weiteres Manuskript für Band III (MEGA², Bd.. II/14, 19-150) und zwischen Oktober 1876 und Anfang 1881 saß Marx erneut über Entwürfen für Abschnitte von Band II (MEGA², Bd. II/11 S. 525-828). Wäre es ihm gelungen die Resultate seiner rastlosen Recherche einzubauen, hätte er sich auch noch an eine Überarbeitung von Band I gemacht.

Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise, die sich auf umfassende theoretische Konzepte beruft, kommt auch heute nicht an Marx „Kapital“ vorbei.

Übersetzung aus dem Englischen: Alan Ruben van Keeken

[1] Karl Marx an Friedrich Engels, London, 22. Juni 1867, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 31, S. 305.

[2] Michael Heinrich, Entstehungs- und Auflösungsgeschichte des Marxschen Kapital, in: Werner Bonefeld/Michael Heinrich (Hrg.), Kapital & Kritik. Nach der ‚neuen’ Marx-Lektüre, Hamburg 2011, S. 176-179. Heinrich vertritt hier die Ansicht, dass das Manuskript dieser Schaffensperiode nicht als die dritte Version des mit den „Grundrissen“ begonnenen Werks angesehen werden sollte, sondern als erster Entwurf des „Kapital“.

[3] Mit Nr. 1 ist Marx’ „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ von 1859 gemeint.

[4] Jenny Marx, Kurze Umrisse eines bewegten Lebens [1865], zit. nach: Gespräche mit Marx und Engels. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Erster Band, Frankfurt am Main 1973, S. 288.

[5] 50 Bögen entsprechen 800 Druckseiten.

[6] Der Vertragstext selbst ist nicht überliefert. Zum Gesamtvorgang: Ina Osobova, Wie ist der Vertrag zwischen Marx und Meißner über die Herausgabe des „Kapitals“ zu datieren? Eine Anmerkung zu MEGA2, II/5. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, NF 1994, Hamburg 1994. S. 218-221.

[7] Marx fügte später den Abschnitt über die Grundrenten als Sechsten Abschnitt unter dem Titel „Verwandlung von Surplusprofit in Grundrente“ in das Manuskript des Dritten Bandes ein.

[8] Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie. Erster Band, Hamburg 1867, in: MEGA2, Bd. II/5, Berlin 1983, S. 674.

[9] Vgl. ebd., S. 9-10.

[10] Karl Marx, Manuskripte zum zweiten Buch des ‚Kapitals‘ 1868 bis 1881, in: MEGA2, Bd. II/11, Berlin 2008.

[11] Diese Texte sind vor kurzem veröffentlicht worden: Karl Marx, Ökonomische Manuskripte 1863-1868, in: MEGA2, Bd. II/4.3, Berlin 2012, S. 78-234 und 285-363. Der letzte Teil macht den Hauptteil des Manuskripts IV von Band II aus und enthält neue Versionen des ersten Kapitels „Der Umlauf des Kapitals” und des zweiten Kapitels, „Der Umschlag des Kapitals”.

[12] Karl Marx, Manuskripte zum zweiten Buch des ‚Kapitals’ 1868 bis 1881, a.a.O., S. 340-522.

[13] Diese bisher unveröffentlichten Notizbücher finden sich im Amsterdamer Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISH), Marx-Engels Papers, B 108, B 109, B 113 und B 114.

[14] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie. Erster Band, Hamburg 1867, MEGA2, Bd. II/5, a.a.O.., S. 1-55.

[15] 1867 hatte Marx das Buch in Kapitel aufgeteilt. Daraus wurden 1872 Abschnitte, die ihrerseits detailliert in Unterabschnitte aufgeteilt wurden.

[16] Karl Marx, Le Capital, Paris 1872-1875, in : MEGA2, Bd. II/7, Berlin1989.