Diskussion, Kritik, Zuschriften

Über die Zweckmäßigkeit der Begriffe – noch einmal zur „abstrakten Arbeit". Zu Helmut Dunkhase, Z 107

(September 2016), S. 146-160

von Klaus Müller
März 2017

„Gibt es einen Zweifel“, fragt Helmut Dunkhase in seiner Zuschrift auf meine Darlegungen über die Historizität und Messbarkeit der abstrakten Arbeit (Z 107: 146-160), „dass in allen Fällen (einer nicht Waren produzierenden Gesellschaft, K.M.) die von den Besonderheiten der verschiedenen Arbeiten abstrahierende Arbeitszeit gemeint ist?“ (Z 108: 196) Natürlich nicht. Es ist allgemein-menschliche Arbeit. Ist diese zugleich abstrakte Arbeit? Dunkhase bejaht dies. Er hält meine Auslegung des Begriffs „abstrakte Arbeit“ für tautologisch. Ich würde, ohne es zu merken, sagen, abstrakte Arbeit werde in der Warenproduktion zu abstrakter Arbeit. Dunkhases Einwand ist durchaus schlüssig. Aber eben nur auf der Basis seiner Begriffsbestimmung.

Ob ich einen Zirkelschluss begangen habe, hängt davon ab, wie wir die Begriffe deuten. Mit Begriffen verständigen wir uns darüber, wie die Realität beschaffen ist, um sie zu begreifen. Der Begriff ist nach Engels das Ergebnis der Erkenntnis eines Gegenstandes oder einer Erscheinung. Er ist das „Resultat, worin sich … Erfahrungen zusammenfassen.“ (MEW 20:14) Und er ist ein Urteil über die wesentlichen Eigenschaften eines Objekts. Begriffe ermöglichen es, die von ihnen erfassten Gegenstände von anderen, darunter von ähnlichen der jeweiligen Gattung, abzugrenzen. Sie sind unangemessen, wenn sie diese Abgrenzung behindern und den Inhalt des Objekts falsch wiedergeben. So ist zweifelsfrei, dass die sogenannten „Arbeitgeber“ keine Arbeit geben. Was sie geben, ist eine Arbeitsaufgabe, was sie nehmen, ist Arbeit. Die sogenannten „Arbeitnehmer“ nehmen keine Arbeit, sondern leisten sie. Sie erhalten (in den meisten Fällen noch) einen Arbeitsplatz und überlassen gegen Bezahlung ihre Arbeitskraft dem Kapitalisten. Das „Kauderwelsch“ der bürgerlichen Ökonomen, wie Engels die gewollte Verwechslung nannte (MEW 23:34), zeigt, wie subjektiv die Begriffsbildung ist. Aber selbst den Sinn entstellende Ausdrücke können eine Verständigung ermöglichen, wenn sie in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen sind. Mitunter werden Sachverhalte mit Begriffen versehen, die vergeben sind, ohne dass dies Probleme bereitet. Wer stört sich daran, dass die Maus des Computers keinen Speck anknabbert? Begriffe sind angemessen, wenn ihre Definition weder zu eng noch zu weit ist, und man sie widerspruchsfrei verknüpfen kann. Zu eng ist die Definition, wenn sich der Umfang des definierten Begriffs als kleiner erweist als der Umfang des zu definierenden Begriffs. „Kapital ist Geld“ ist eine zu enge Definition, weil Kapital mehr ist als Geld. Zu weit ist die Definition, wenn sich der Umfang des definierten Begriffs als größer erweist als der des zu definierenden Begriffs. Platon hatte den Menschen ein „zweibeiniges Lebewesen ohne Federn“ genannt, woraufhin Diogenes einen Hahn rupfte, in der Vorlesung frei ließ und sprach: „Hier habt ihr den Menschen Platons.“

Ich glaube, dass wir abstrakte Arbeit zu weit fassen, wenn wir sagen, dass es sie auch außerhalb der Warenproduktion gibt. Die Arbeit, die von allen konkreten Formen und Inhalten abstrahiert, ist Arbeit schlechthin, allgemeine Arbeit, reduziert auf die Verausgabung von Muskel, Nerv, Hirn, Hand. Sie ist die physiologische Grundlage aller unterschiedlichen konkreten Arbeiten. Das ist eine erste, aber keine hinreichende Bestimmung der abstrakten Arbeit. Allgemein menschliche Arbeit hat es immer gegeben und wird es immer geben. Die klassische bürgerliche Ökonomie begründete die Arbeitswerttheorie. Aber sie irrte, indem sie annahm, Arbeit erzeuge von Natur aus Gebrauchswert und Wert. Sie sah nicht den Unterschied zwischen konkreter und abstrakter Arbeit. Die Entdeckung blieb Marx vorbehalten, für den die Wert bildende Arbeit eine spezifische Form der gesellschaftlichen Arbeit ist. Gesellschaftlich ist die Arbeit in allen Produktionsweisen, die auf Arbeitsteilung beruhen. Die Männer der urgemeinschaftlichen Sippe jagten das Wild, die Frauen sammelten Beeren, Pflanzen und Wurzeln. Sie leisteten unmittelbar gesellschaftliche Arbeit, weil deren Ergebnisse von vornherein der Gemeinschaft zugedacht waren und unter ihre Angehörigen verteilt wurden. In der Warenproduktion nimmt die Arbeit einen spezifisch gesellschaftlichen Charakter an. (MEW 13:19) Dieser besteht darin, dass die Arbeit nicht mehr wie in der Urgesellschaft unmittelbar, sondern nur noch mittelbar gesellschaftlich ist. Im Austausch muss sich erweisen, ob die von privaten Produzenten verausgabte Arbeit notwendiger Bestandteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit ist. Somit wird die allgemein-menschliche Arbeit erst dann zur Kategorie der abstrakten Arbeit, wenn Menschen Produkte für den Austausch, also als Waren produzieren. Nur dann erhält die Verausgabung der Arbeit im physiologischen Sinn eine besondere, sich von der konkreten Arbeit unterscheidende Form. Abstrakte Arbeit ist die Form, in der sich in der Warenproduktion die Verausgabung gesellschaftlich notwendiger Arbeit ausdrückt. Ohne Warenproduktion gibt es keinen Wert, und wo es keinen Wert gibt, auch keine abstrakte Arbeit. Dunkhase glaubt mit dem Verweis auf die „Kritik des Gothaer Programms“, dies sei das Diktum des „Offizialmarxismus“, nicht aber das des Meisters. Doch die von Marx in der „Kritik“ getroffenen Aussagen zur Arbeit in einer genossenschaftlichen Produktion bedeuten nicht, dass es sich um abstrakte Arbeit handelt. Im Gegenteil: Marx spricht hier gerade nicht von abstrakter Arbeit, weil die Arbeit keinen Wert bildet, sofern sie unmittelbar Bestandteil der Gesamtarbeit ist. Er wirft den „besten Repräsentanten“ der klassischen bürgerlichen Ökonomie, wie Smith und Ricardo, vor, dass sie die Wertform als etwas „der Natur der Ware selbst Äußerliches“ behandelten und fährt fort: „Die Wertform des Arbeitsprodukts ist die abstrakteste, aber auch allgemeinste Form der bürgerlichen Produktion, die hierdurch als eine besondere Art gesellschaftlicher Produktion und damit zugleich historisch charakterisiert wird. Versieht man sie daher für die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion, so übersieht man notwendig auch das Spezifische der Wertform, als der Warenform, weiter entwickelt der Geldform, Kapitalform usw.“ (MEW 23:95, Fn 32)

Es gibt Analogien: So nennt Marx Ricardos Auffassung, Arbeitsmittel seien fixes Kapital „eine scholastische Bestimmung, die zu Widersprüchen und Konfusion“ führe. (MEW 24:228) Denn Arbeitsmittel sind nur dann Sachkapital, wenn die Produktion kapitalistisch ist und ihr Wert durch die konkrete Arbeit auf die Produkte übertragen wird. Außerhalb der kapitalistischen Warenproduktion sind Werkzeuge und Maschinen Arbeitsmittel, aber kein Kapital. Wir müssen das Verhältnis zwischen allgemein-menschlicher und abstrakter Arbeit ähnlich sehen: Außerhalb der Warenproduktion gibt es Gebrauchswert schaffende Arbeit und Arbeit schlechthin. So wie Arbeitsmittel erst als Elemente des Verwertungsprozesses fixes Kapital werden, wird allgemein-menschliche Arbeit erst durch ihre Verausgabung in Waren produzierenden Gesellschaften zur abstrakten Arbeit. Abstrakte Arbeit ist keine physiologische, sondern eine auf physiologischer Grundlage beruhende spezifisch gesellschaftliche Kategorie. In ihr zeigt sich ein bestimmtes Produktionsverhältnis, das Menschen unter den historischen Bedingungen der Warenproduktion eingehen. Hat die Arbeit ein Produkt geschaffen, das kein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigt, ist sie – wiewohl Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv, Hand – kein notwendiger Bestandteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, folglich keine abstrakte Arbeit und nicht Wert bildend. Daran zeigt sich, dass abstrakte Arbeit nicht nur Arbeit im physiologischen Sinn ist.

Helmut Dunkhase hält diese Begriffsbestimmung der abstrakten Arbeit für redundant und meint, abstrakte Arbeit sei keine Kategorie der Warenproduktion allein. Sie sei überhistorisch (ahistorisch, unhistorisch). Nur so kann er mir durchaus begründet vorwerfen, ich rekrutiere abstrakte Arbeit aus abstrakter Arbeit. Für seine Auffassung spricht, dass es schwer fällt, ja unlogisch erscheinen mag, das Ergebnis des Abstrahierens nicht abstrakt nennen zu dürfen. Dagegen scheint mir, dass Marx stets vom Doppelcharakter der Waren produzierenden Arbeit sprach, wenn er konkrete und abstrakte Arbeit unterschied. Das bedeutet, dass es abstrakte Arbeit nur dort gibt, wo Produkte als Waren produziert werden. Dunkhase dagegen meint offenbar, dass die abstrakte Arbeit als unhistorische Erscheinung nur unter den spezifischen historischen Bedingungen der Warenproduktion zur Wert bildenden Arbeit wird. Seine Auffassung beruht auf einer stärkeren Betonung des physiologischen gegenüber dem sozialen Inhalt der Kategorie. Anders und doch ähnlich argumentieren Ruben und Wagner, die abstrakte Arbeit und Wert ahistorisch und damit zu weit auffassen. Somit stehen sich drei Deutungen des Zusammenhangs zwischen abstrakter Arbeit und Wert gegenüber:

Abstrakte Arbeit Wert

Ruben/Wagner ahistorisch ahistorisch
Dunkhase ahistorisch historisch
Müller historisch historisch

Dunkhase und ich argumentieren ähnlich. Der Streit zwischen uns ist weniger inhaltlicher Art. Er ist ein Streit um die zweckmäßige Begriffsbildung. Können wir die Spezifik der Warenproduktion erfassen, wenn wir ihre Kategorien naturwüchsig, unhistorisch und gesellschaftlich unspezifisch deuten? Ware, Wert, Doppelcharakter der Arbeit, Geld – sollten sie nicht Begriffe bleiben, mit denen wir die Waren produzierenden Gemeinschaften darstellen? Helmut Dunkhase würde einwenden, wir verbänden abstrakte Arbeit und Wert allein deshalb mit der Warenproduktion, weil wir das so festgelegt hätten, bewegten uns also im Zirkel. Ich denke, es geht um eine angemessene Begriffsbestimmung, um die „Kunst, mit Begriffen zu operieren“, wie es Engels nennt. (MEW 20:14). Und begeht Dunkhase nicht selbst einen circulus in probando, wenn er die abstrakte Arbeit „überhistorisch“, den Wert aber eine historische Kategorie nennt? Da abstrakte Arbeit in diesem Verständnis mehr als Wert bildende Arbeit ist, läuft seine Argumentation darauf hinaus, Wert bildende Arbeit die zu nennen, die Wert bildet.

Abschließend ein anderes Problem: Wie Harvey, Graeber und andere sagt auch Helmut Dunkhase, die Marxsche Wertformenanalyse sei eine logisch schlüssige Gedankenkonstruktion, bilde aber den historischen Prozess der Geldentstehung nicht ab. Es gäbe „keine historischen Belege für die Existenz von Gemeinschaften, in denen sich über die Exklusion bestimmter Waren als Tauschmittel eine Geldware entwickelt hätte.“ (Z 108:198) Es gibt durchaus wirtschaftshistorische, ethnographische bzw. ethnologische Belege für die praktisch-historische Relevanz der Wertformenanalyse. Ich habe mich dazu ausführlich geäußert (siehe Klaus Müller, Geld – von den Anfängen bis heute, Freiburg 2015). Solange die dort begründeten Fakten und Zusammenhänge nicht widerlegt oder wenigstens entkräftet worden sind, besteht kein Grund, die Marxsche Wertformenanalyse als bloße Gedankenkonstruktion, also als ein „Hirngespinst“, abzutun. Sie widerspiegelt das Wesen der Geldwerdung prinzipiell richtig.