Editorial

September 2016

Die 2007/2008 ausgebrochene Weltwirtschafts- und Finanzmarktkrise dauert an und verändert zunehmend die politischen Verhältnisse. Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der traditionellen politischen Eliten schwindet, was in vielen europäischen Ländern rechte und chauvinistische Parteien stärkt. In Ländern des europäischen Südens gewinnen aber auch linke Kräfte an Gewicht. Auch in einigen angelsächsischen Ländern erstarken linke Strömungen.

Mit Entwicklungen in Nordamerika und dem Vereinigten Königreich (bis zum Brexit) beschäftigt sich Ingar Solty. Er diskutiert den bemerkenswerten Aufstieg linkssozialdemokratischer Tendenzen (Corbyn, Sanders) im Kontext der Krise des Mehrheitswahlrechts und der zu konstatierenden Erosion der ihm innewohnenden Zentrismus-Tendenz und wirft die Frage auf, ob und wie die Linke sich als „dritter Pol“ im Wahlsystem etablieren könne. Mit der Frage nach den Trägern möglicher Transformationsprozesse beschäftigen sich die Überlegungen von Dieter Boris zum Linkspopulismus. Wird der Populismusbegriff im Zuge der Rechtspopulismusdebatte häufig generell verworfen, so plädiert Boris für einen genaueren Blick auf mögliche Inhalte von Linkspopulismus. Klar unterscheidet er exklusive rechte von inklusiven linken Populismen. Linkspopulismus könne als Bewegung verstanden werden, „die eine Sammlung unterschiedlicher Elemente subalterner Klassen anstrebt und realisiert.“

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Transformationsdebatte – aktuelle Aspekte: Heinz Jung, langjähriger Leiter des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF), dessen Todestag sich am 19. August zum zwanzigsten Male jährte, hatte zusammen mit Jörg Huffschmid versucht, ein innovatives Konzept politischer Veränderungen zu entwickeln, das sich auf eine zeitgemäße Kapitalismusanalyse stützte. Frank Deppe erinnert an diese „Reformalternative“, die 1988 (im Kontext von Kontroversen in der DKP) vorgelegt wurde. Die Reformalternative, so Deppe, löste sich „von der klassischen Unterscheidung von Reform und Revolution“. Der „Kampf für die Demokratie sowie für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen (…), gegen Reaktion und Faschismus“ galt in diesem Rahmen als Kampf um „Veränderungen in den Eigentums- und Machtverhältnissen entwickelter kapitalistischer Gesellschaften“. Während die Reformalternative noch von der Existenz eines sozialistischen Lagers ausging, zeichnen sich in der heutigen Krisenkonstellation die Umrisse eines Blocks „sozialer, politischer und kultureller Kräfte ab, der in dieser Übergangsperiode die Kraft für eine grundlegende Veränderung der Politik des Neoliberalismus entwickeln könnte.“ Jürgen Reusch/Jörg Goldberg fragen, ob die „Reformalternative“ noch Sinnvolles zur Debatte über linke Veränderungsstrategien beitragen kann. Obwohl sich die Rahmenbedingungen grundlegend verändert haben, gäbe es doch Parallelen zur aktuellen Transformationsdebatte. Die Autoren weisen aber darauf hin, dass der der Reformalternative und auch der Transformationsdebatte zugrundeliegenden Vorstellung, eine demokratische Steuerung im Kapitalismus sei (in Grenzen) möglich, ein verbreitetes Bewusstsein der Krisenhaftigkeit und der Unregulierbarkeit der modernen Welt entgegensteht. Einen Überblick und eine positiv-kritische Prüfung der umfangreichen Transformationsliteratur bietet Michael Zander. Dabei konzentriert er sich auf die Krisendiagnose, die der Transformationsdebatte zugrunde liegt, sowie auf das Konzept eines Mitte-Unten-Bündnisses und die favorisierten Einstiegsprojekte und Reformziele. Bei allen diesen Themenfeldern sieht er Bedarf an Konkretisierung und Präzisierung. „Transformation bearbeitet das Verhältnis von Reform und Revolution“, schreibt Christina Kaindl in ihrem Beitrag zum Transformationskonzept. Transformatorische Projekte haben einen prozesshaften Charakter und verlaufen nicht linear, müssten jedoch Potenzial für grundlegende Veränderungen der Produktions- und Lebensverhältnisse haben. Luxemburgs „revolutionäre Realpolitik“ und Gramscis „Stellungskrieg“ werden als theoretische Bezugspunkte genannt.

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Postkapitalismus und Commons: Die anhaltenden Krisenerscheinungen stärken jenseits der Debatte über Reformstrategien Positionen, die von Entwicklungen innerhalb des Kapitalismus systemüberwindende Effekte erwarten. Die Beiträge zum Thema „Postkapitalismus und Commons“ eröffnet Dieter Kramer mit einer Skizze zur Geschichte des „Gemeinnutzens“. Er versteht unter Commons „gemeinschaftlich besessene, geteilte oder genutzte Ressourcen“. Heute könnten progressive Entstaatlichung und Gemeinnutzen zusammengedacht werden. Werner Goldschmidt behandelt im ersten Teil seines Literaturberichts – der zweite Teil erscheint in Z 108 – die Positionen nichtmarxistischer Autoren zur erhofften Zukunft der Commons ohne Kapitalismus. Immanuel Wallerstein betont die Schwierigkeiten des Übergangs zu einer nachkapitalistischen Gesellschaft, Wolfgang Streeck warnt, dass sich der Kapitalismus zunehmend desorganisiert, ohne dass an seine Stelle etwas Besseres tritt. Jeremy Rifkin und Paul Mason erwarten die Transformation als Folge der wachsenden Bedeutung digitalisierter Informationen, die nicht kapitalistisch verwertet werden könnten. Anders als Goldschmidt sieht Christian Fuchs in Paul Masons Thesen einen Technikdeterminismus am Werk, der aus der Informationstechnologie „Null-Grenzkosten von Information“, einen tendenziellen Fall der Profitrate und den Zusammenbruch des Kapitalismus ableitet. Fuchs erinnert an ähnliche Prognosen von Theoretikern der II. Internationale, denen zufolge der Kapitalismus an fehlenden Verwertungsmöglichkeiten scheitern würde.

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Gesellschaftstheorie: Rainer Rilling würdigt in seinem Beitrag den kürzlich verstorbenen Soziologen Hans Jürgen Krysmanski. Karl Hermann Tjaden und Margarethe Tjaden-Steinhauer erschließen den Umweltbegriff für eine materialistische Theorie der Gesellschaft im Rekurs auf den US-amerikanischen Wahrnehmungspsychologen James J. Gibson und sein Konzept der „social interaction“. Mit der viel diskutierten „integrativen Gesellschaftstheorie“ Uwe Schimanks beschäftigt sich Lothar Peter. Er würdigt einerseits, wie Schimank die in Systemtheorien tradierten Prämissen systemischer Selbstreferentialität und einer zwischen den Teilsystemen bestehenden „prästabilierten Harmonie“ überwindet. Andererseits zeigt er, wie Schimank sich in der Fokussierung auf Interessensgesetze zwischen „Leistungsproduzenten und Leistungsempfängern“, bei der dualistischen Entgegensetzung von Kapitalismus und (Sozial)Staat und schließlich im Kontext seines Fortschrittsbegriffs Probleme einhandelt.

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Marx-Engels-Forschung: Klaus Müller behandelt eine Grundfrage der Marx‘schen Politischen Ökonomie, das Verhältnis zwischen konkreter und abstrakter Arbeit. Im Kern geht es um die Frage, ob abstrakte Arbeit als wertbildende Substanz messbar ist. Müller bejaht dies, weil er sich eine sozialistische Ökonomie vorstellen kann, in der nicht der Markt darüber entscheidet, ob eine Arbeit gesellschaftlich notwendig ist: „Nur wenn wir die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit vor der Produktion ermitteln können, entfällt die Notwendigkeit, sie nachträglich durch spontane Marktprozesse suchen zu lassen.“

Weitere Beiträge: Klaus Dräger kommentiert den Kurswechsel des BVerfG, das entgegen seiner ursprünglicher Argumentation die Politik der Europäischen Zentralbank im Zusammenhang mit dem Staatsanleihen-Aufkaufprogramm (OMT) nun gebilligt hat. Néstor Kohan rekonstruiert die bisher wenig bekannte Marx-Engels-Rezeption von Ernesto „Che“ Guevara. Er kann sich dabei unter anderem auf Notizbücher Guevaras stützen, die nach dem Antritt der bolivianischen Regierung unter Evo Morales öffentlich zugänglich wurden. Er stellt Guevara als Autor einer „Einführung in Leben und Werk von Marx und Engels“ vor und als kritischen Leser des „Anti-Dühring“ und der „Dialektik der Natur“.

Im November würde der Schriftsteller Peter Weiss 100 Jahre alt. Reiner Diederich nimmt das Jubiläum zum Anlass, um auf das in der „Ästhetik des Widerstands“ entworfene Modell einer Kunstaneignung von unten zurückzukommen.

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Unter den „Zuschriften“ zu Z 106 (Juni 2016) sind kritische Kommentare von Charles Pauli und Jürgen Leibiger zu Massarrats Studie zum „Finanzmarktkapitalismus“. Heftigen Widerspruch hat Michael Zanders Besprechung des Argumenthefts „Marxismus-Feminismus“ ausgelöst (Jutta Meyer-Siebert). Regina Storch kommentiert den Brecht-Bericht von Kai Köhler zur Berliner Aufführung der „Maßnahme“ von Brecht/Eisler. Die „Berichte“ informieren über Tagungen zu Arbeiterbewegung und Intellektuellen im 1. Weltkrieg und zur „Digitalen Revolution“. Buchbesprechungen betreffen u.a. Kapitalismustheorie, Geschichte der Arbeiterbewegung und die Transformationsfrage.

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Z 108 (Dezember 2016) wird als Schwerpunktthema neue Tendenzen der Kapitalkonzentration und -zentralisation in D behandeln.