Krisenerfahrung und Widerspruchsbereitschaft

September 2011

Auch wenn mittlerweile Prognosen über eine zu erwartende längere Prosperitätsphase die Runde machen, ist es fraglich, ob „das Schlimmste überwunden“ ist und die Krise der Vergangenheit angehört. Über die weitere Entwicklung sind, nicht zuletzt durch die Instabilität der Währungs- und Finanzsysteme, kaum verlässliche Aussagen möglich. Trotz eines überraschend stabilen Exportbooms schließt auch im bürgerlichen Lager kaum jemand die Möglichkeit weiterer Abstürze aus. Die Gefahren sind real: Die Spekulationsmaschine läuft wieder auf vollen Touren und der Kessel steht unter Druck, weil durch die Staats-Billionen mehr Geld im Umlauf ist als vor der Krise. Die Großspekulanten stehen in den Startlöchern, um die ganze Weltökonomie in den Abgrund zu reißen.

Da die meisten politischen „Regulierungs-Initiativen“ kaum mehr als Inszenierungen waren, um eine „besorgte Öffentlichkeit“ zu beruhigen, existieren für das Finanzkapital weiterhin fast unbeschränkte Handlungs- und Destruktionsmöglichkeiten. Keine der halbherzigen Maßnahmen könnte eine Verdichtung der Spekulationsaktivitäten zur ökonomischen und sozialen Zerstörungsautomatik wirkungsvoll verhindern.

Aktuell wird mit dem Staatsgeld, das zur Verhinderung seines Zusammenbruchs in das Finanzsystem gepumpt wurde (immerhin eine Aktion bei der nach den Worten von Ökonomie-Nobelpreisträger Stieglitz historisch beispiellose Mengen „Geld von so vielen Menschen zu so wenigen umgeleitet“ wurde), gegen den Euro spekuliert. Die Wette lautet: Erneute Milliardengewinne für die finanzkapitalistischen Raubritter, gegen eine soziale und zivilisatorische Katastrophenentwicklung für einen Großteil der Welt. Und sie wissen was sie tun: Auf der Internetseite des Großspekulanten-Magazins „Gloom Boom & Doom Report“ prangte 2010 programmatisch ein mittelalterliches Totentanzbild mit seinen skelettierten Sensemännern.

Vorläufige Krisenbilanz

Aber dennoch ist es angebracht, eine Art Zwischenbilanz der bisherigen Krisenentwicklung zu ziehen. Es muss – zumindest für die Bundesrepublik – festgestellt werden, dass durch einige der politischen Maßnahmen, vor allem die Kurzarbeitsregelung und Anti-Krisenmaßnahmen („Konjunkturpakete“), für die Lohnabhängigen die Konsequenzen des ökonomischen Zusammensturzes abgemildert werden konnten. Es ist vor allem die Kurzarbeiterregelung, die es nun dem Kapital ermöglicht, übergangslos die Aufschwungstendenzen zu nutzen. Da man die qualifizierten Mitarbeiter nicht entlassen hat, stehen sie nun für neue Exportoffensiven zur Verfügung.

Die relative Abfederung der Krisenfolgen hat aber eine zusätzliche Verunsicherung der Beschäftigten nicht verhindern können. Niemand konnte ja wirklich sagen, wie es weitergeht, ob nach der Kurzarbeit nicht doch noch Arbeitslosigkeit folgen würde. Die Versuche der ideologischen Apparate, den krisenbedingten Legitimationsverlust für den Kapitalismus zu begrenzen, sind deshalb auch nicht voll durchgeschlagen: Nur gering sind die Wirkungen der Versuche, mit dem Verweis auf „gierige Banker“ die Krise als Konsequenz individuellen Fehlverhaltens darzustellen, denn in Umfragen halten mehr als 70 Prozent der Befragten das „kapitalistischen Wirtschaftssystem“ für die eigentliche Ursache der Katastrophenentwicklung.

Tiefgreifende ideologische Entlastungen des Kapitalismus sind also nicht gelungen: In einer von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebenen Erhebung aus dem Spätsommer 2010 ist nur noch jeder dritte Bundesbürger von den „Selbstheilungskräften des Marktes“ überzeugt. Und mehr noch: Eine deutliche Mehrheit wünscht sich eine „neue Wirtschaftsordnung“ und 88 Prozent der Befragten befanden, dass „das derzeitige System ... weder den ‚Schutz der Umwelt’, noch den ‚sorgsamen Umgang mit den Ressourcen’ oder den „sozialen Ausgleich in der Gesellschaft’ genügend“ berücksichtige.

Auch wenn dieser skeptische Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mit einer konsequenten Veränderungsbereitschaft gleichzusetzen ist, so ist er dennoch Ausdruck der Tatsache, dass die neoliberalistische Programmatik an Ansehen verloren hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihr Einfluss zurück gegangen ist und die ausbeutungsorientierten Umgestaltungsstrategien der Vergangenheit angehörten. Weil sie weiter vorangetrieben werden, ist trotz der ökonomischen Aufschwungstendenzen ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit verbreitet.

Für die Lohnabhängigen stellte sich der ökonomische Einbruch nur als Gipfelpunkt einer latenten Krisenentwicklung dar, die in den letzen drei Jahrzehnten soziale Bedrängnis (Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg) und zunehmend auch materieller Bedürftigkeit verallgemeinert hat: Die Krise ist für eine Mehrheit in diesen Jahren zu einer „normalen“ Lebensform geworden.

Die Permanenz der Krise

Es wird immer deutlicher, dass der langjährige Sog nach unten keine bloße Übergangserscheinung war, sondern Arbeitslosigkeit und Prekarität, Bedürftigkeitsentwicklung und zunehmende Unsicherheit die Konsequenzen gegenwärtiger Kapitalverwertungsstrategien sind. Sie sind Ausdruck einer neuen post-„sozialstaatlichen“ Entwicklungsphase mit einem deutlich reduzierten Anteil der Lohnabhängigen an der gesamtgesellschaftlichen Reichtumsproduktion. Diese Tendenz ist Ausdruck der Tatsache, dass der Risikokapitalismus zunehmenden Anteil am Sozialprodukt benötigt, um seine Reproduktionsfähigkeit sicherzustellen. Es werden nicht nur beträchtliche Kapitalmassen absorbiert, um die Reproduktion des Kapitalverhältnisses sicherzustellen (die Milliardensummen die zur Stabilisierung des Finanz- und Bankensystems aufgebracht werden müssen, sind nur ein Teil davon): Mit steigendem finanziellen Aufwand müssen auch die „Reparaturen“ eines zunehmenden humanen und natürlichen Ressourcenverschleißes bezahlt werden.

Vor allen Dingen jedoch verschlingt das kapitalistische Konkurrenzverhältnis selbst einen sich beständig vergrößernden Anteil am Sozialprodukt: Das Kapital muss, um im Wettbewerb bestehen zu können, in immer kürzeren Intervallen immer effektivere und auch teurere Maschinen einsetzen, immer neue Produkte und ästhetisierende Warenhüllen entwickeln und zur Profitrealisierung immer raffiniertere Werbefeldzüge und Imagekampagnen organisieren. Es erhöht sich der Investitionsaufwand und es reduziert sich, als Kehrseite der Medaille, die Profitmasse. Um nicht selbst zu kurz zu kommen, ist das Kapital bemüht, die Ausbeutung zu forcieren: Der Angriff auf den Lohn wird zu einem wesentlichen Faktor, um die Rentabilitätsraten zu stabilisieren und die Kapitalakkumulation sicher zu stellen.

Prekarisierung ohne Ende?

Der Druck auf die Lebensverhältnisse hat aus diesen Gründen einen permanenten Charakter angenommen. Das äußert sich darin, dass auch in der Phase eines neuen Exportbooms Beschäftigungsverhältnisse meist nur in „ungesicherter“ Form entstehen, die Strategien der sozialen Demontage weiter forciert werden: Im deutlich größeren Umfang als vor Ausbruch der Krise werden Leih- und Zeitarbeiter beschäftigt. Neueinstellungen gehen immer häufiger mit dem Abbau von „Normalarbeitsverhältnissen“ einher. Systematisch wird dadurch das durchschnittliche Einkommensniveau der Lohnabhängigen weiter abgesenkt.

In einer im Herbst 2010 veröffentlichten Studie der IG-Metall wird von alarmierenden Entwicklungen gesprochen: „Der Missbrauch der Leiharbeit nimmt rasant zu, und der Abbau der Stammbelegschaften ist im vollen Gange.“ Leiharbeit wird nun als strategisches Instrument zur Etablierung einer Billiglohnlinie genutzt. Während die Regierungsvertreter eine „deutliche Entspannung des Arbeitsmarktes“ sehen wollen, verfestigen sich durch diese Entwicklungen die gesellschaftlichen Spaltungslinien und perpetuiert sich soziale Unsicherheit. Es sieht nicht so aus, dass sich an dieser Tendenz ohne eine konfliktbereite Haltung der Beschäftigten etwas ändern wird.

Soziale Aufsplitterung

Obwohl der neoliberalistische Konfrontationskurs der letzten Jahrzehnte eine Spur sozialer Verwüstung hinterlassen hat, hat er sich für den herrschenden Block politisch als relativ harmlose Angelegenheit dargestellt, denn die Mehrheit der Betroffenen reagiert angesichts der herrschenden ideologischen Reproduktionsbedingungen eher mit sozialem Rückzug denn aktivem Aufbegehren. Weil die Krise verunsichert, wirkt sie desorientierend und disziplinierend. Besonders Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung, oft auch schon latente Bedrohungserfahrungen, beschädigen das psychische Gleichgewicht der Betroffenen. Sie lähmen ihre Handlungsbereitschaft und provozieren bei vielen soziale Rückzugsbedürfnisse. Diese fatalistischen Verarbeitungsweisen zur Kenntnis zu nehmen, bedeutet nicht, sie als unabänderlich zu akzeptieren. Eine realistische Bestandsaufnahme sollte die Frage provozieren, wie die lähmende Angst überwunden werden kann.

Eine Beschäftigung mit den individuellen Verarbeitungsweisen sozialer Widerspruchserfahrungen sollte auch in Rechnung stellen, dass die Krise nicht als große Gleichmacherin gewirkt hat, ihre Lasten und die von ihr verursachten Bedrückungen sehr unterschiedlich verteilt sind. An einigen Segmenten der Lohnabhängigenklasse ist sie fast spurlos vorbei gegangen, während die Lage von anderen Teilen sich weiter verschlechtert hat. Auch wenn gegenwärtig so viele Beschäftigungsverhältnisse wie noch nie existieren, sind sie von sehr unterschiedlicher Qualität und Auskömmlichkeit. Auch hat sich nichts an der Zahl von 7 Millionen Hartz-IV-Empfängern und den Verarmungstendenzen in der unteren Hälfte der Gesellschaftspyramide geändert.

Die Post-Krisenentwicklung führt zu einer zusätzlichen Aufsplitterung der Sozial- und unmittelbaren Interessenlage: Wer arbeitslos geworden oder geblieben ist, hat einen anderen Erwartungshorizont als die Stammbeschäftigten in einer boomenden Exportbranche. Von ihren Erwartungen sind wiederum die Hoffnungen von Leiharbeitern verschieden. Ressentiments stehen der Solidarität im Wege, auch wenn sie noch nicht rechtspopulistisch aufgegriffen und instrumentalisiert worden sind. Durch diese Differenzierungsvorgänge sind jedoch die allgemeinen Merkmale der Lohnarbeiterexistenz nicht außer Kraft gesetzt, die Determinanten Unsicherheit und Ausbeutung nicht verschwunden. Ein gemeinsamer Interessenhorizont gegenüber dem Kapital muss jedoch erarbeitet, politisch ins Bewusstsein gehoben werden.

Aufstand der Massen?

Auch wenn es angesichts der Dominanz einer selbstbeschädigenden Widerspruchsverarbeitung nicht sehr wahrscheinlich ist, dass die Prekarisierten zur Antriebskraft einer neuen Widerstandsbewegung werden, so ist eine solche Entwicklung dennoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Ganz Unrecht hatte Peter Glotz mit seiner 2005 in der FAZ veröffentlichten Warnung nicht – auch wenn sie weniger als analytischer Beitrag, denn als Weckruf für den herrschenden Block gedacht war: „Die deutsche Disziplin und Ruhe könnte trügerisch sein. Eine neue RAF ist nicht in Sicht. Aber wenn irgendwo 200 empörte Arbeiter, die entlassen werden sollen, obwohl der Konzern schwarze Zahlen schreibt, alles kurz und klein schlagen, kann ein einziger Gewaltausbruch dieser Art einen Flächenbrand auslösen“.

Zu einer progressiven politischen Wirkungsmacht dürften die Prekarisierten im Falle ihrer (Selbst-)Mobilisierung jedoch nur innerhalb eines organisatorischen Rahmens werden, der ihnen Orientierung und strukturellen Halt gibt, denn sonst bestünde die Gefahr, dass berechtigter Zorn ins Leere läuft: Ohne greifbare Ziele bleibt die Wirkung auch militanten Protests beschränkt. Auch schafft die Revolte noch kein progressives Bewusstsein. Sie kann eine Vorstufe davon sein, jedoch durch ihr Scheitern auch den Eindruck einer Vergeblichkeit von Auflehnung und Widerstand festigen.

Eine solch realistische Einschätzung fehlt der französischen Kampfschrift mit anarchistisch-„autonomem“ Hintergrund über den „Kommenden Aufstand“, die im Herbst 2010 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Eine treffende Beschreibung der gesellschaftlichen Selbstzerstörungstendenzen und der allgegenwärtigen sozialen Bedrohungserfahrungen wird mit der Hoffnung auf eine spontane Widerstandsbewegung kurzgeschlossen. Unberücksicht bleibt dabei, dass der soziale Absturz und die daraus resultierende Perspektivlosigkeit noch lange kein verlässlicher Kompass für progressive Veränderungen sind. Wenig problemangemessen wird auch die alte anarchistische Hoffnung wiederbelebt, dass aus der (Selbst-)Zerstörung der alten, automatisch eine neue, repressionslose Gesellschaftsordnung erwächst.

Die Gefahr, dass sozio-ökonomische Krisenprozesse auch zu einem Anwachsen faschistischer Kräfte führen, sollte nicht unterschätzt werden. In Teilen Europas ist das ja schon der Fall. Bei den Wahlen haben in vielen Ländern rechtsradikale und sogenannte rechtspopulistische Parteien hohe Stimmanteile auf sich vereinigen können. Nicht unwahrscheinlich ist, dass es auch in der Bundesrepublik zu einer „nachholenden“ Entwicklung, also einem neuen Zulauf für den Rechtsextremismus, kommen kann. Dies abzuwehren oder einer spontanen Bewegung ein progressives Ziel und eine politische Struktur zu vermitteln, sind die antikapitalistischen Kräfte gegenwärtig jedoch nicht stark genug.

Perspektiven der Gegenwehr

Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurde behauptet, dass die „Krise ‚unten’ noch nicht richtig angekommen“ sei. Das entsprach nicht den Tatsachen. Gegenwärtig ist es jedoch so, dass viele Lohnabhängige merken, dass sie vom „Aufschwung“ kaum profitieren. Aufgrund dieser Erfahrung verallgemeinert sich die Erkenntnis, dass ein Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Verbesserung der eigenen Lebenslage nicht mehr existiert.

Charakteristisch für die gegenwärtige Situation ist auch, dass sich die ökonomischen Trends (sowohl die Auf-, als auch die Abwärtsbewegungen) sehr unterschiedlich in den einzelnen Branchen und auf die verschiedenen Beschäftigungsformen auswirken. Selbst durch mögliche Lohnerhöhungen können die Resultate der sozialen Kahlschlagpolitik und die krisenbedingten Einkommensverluste in vielen Bereichen der Arbeitswelt kaum noch kompensiert werden.

Die Beschäftigten haben auch nicht vergessen, dass die Grundlagen für die Milliardengewinne, die sich bei Mercedes, Siemens, VW und anderen führenden Unternehmen wieder abzeichnen, nicht erst in der Krise gelegt wurden, als ihnen – zur Sicherung der Arbeitsplätze, wie gesagt wurde – vielfältige Zugeständnisse, einschließlich Lohneinbußen und unbezahlten Arbeitszeitverlängerungen abgepresst wurden. Schon vorher hat es eine lange Phase der Einkommensstagnation gegeben, die ihren Ausdruck in niedrigen Lohnstückkosten und explodierenden Unternehmergewinnen fand.

Aus den Erfahrungen schon lange „zu kurz gekommen zu sein“, resultieren jene Unruhe und Wut, die sich mittlerweile in vielen Betrieben bemerkbar machen. Als klassenpolitischer Positivposten kommt hinzu, dass vor allem in Firmen mit stabiler Auftragslage die Beschäftigten die größten Sorgen vor einem sozialen Absturz haben abstreifen können, so dass sich neue gewerkschaftliche Handlungsspielräume ergeben. In den Boombranchen reagiert das Kapital darauf mit vorgezogenen tariflichen Einkommenserhöhungen und dem Versprechen von Gewinnbeteiligungen.

In anderen Wirtschaftsbereichen bleiben jedoch die Partizipationserwartungen unerfüllt, die vom „Aufschwung“ geweckt werden. Das kann Anlass zu einer neuen Qualität der Widerspruchbereitschaft geben. Schon jetzt machen sich solche Tendenzen bemerkbar: Auf vielen Betriebsversammlungen werden wieder politische Themen angesprochen, von den Kolleginnen und Kollegen wird eine konsequente Haltung der Gewerkschaften gegenüber dem Management gefordert.

Sozialwissenschaftler der Universität Jena, die seit einigen Jahren Belegschaftsumfragen über den Zusammenhang von Soziallage, Krisenerfahrungen und Bewusstseinsentwicklungen durchführen, konnten in den letzten Monaten die Profilierung eines „regelrechten Antikapitalismus“ registrieren: Über 70 Prozent der Befragten halten beispielsweise die Aussage zumindest für teilweise richtig, dass die kapitalistische Gesellschaft keine Überlebenschance besitzt.

Aber es wurde auch festgestellt, dass dieser latente Antikapitalismus keinen Adressaten hat! Vor allem von den Gewerkschaften wird nichts Weltbewegendes erwartet – und andere Kräfte der Veränderung sind für die Mehrheit der Lohnabhängigen nicht in Sicht.

Widerspruchserfahrung und Protest

Nicht nur in den Betrieben ist eine neue Unruhe eingekehrt. Auch die „bürgerlichen“ Protestbewegungen (von denen der Widerstand gegen das Stuttgarter Bahnhofsprojekt nur die offensichtlichste Form ist) sind Ausdruck realer Widersprucherfahrungen, der Artikulationsraum von Mittelschichtangehörigen, die sozial verunsichert sind und in diesem Kontext ihr Unbehagen über das Gefühl einer zunehmenden Fremdbestimmung artikulieren: Viele erleben, dass sie in ihrem Beruf immer mehr leisten müssen, der Bewährungsdruck steigt und trotzdem im besten Fall auf der Stelle treten und sich die Sorgen um die Sicherheit ihrer Sozialposition verdichten. Weil jedoch nur die Ohnmachtserfahrungen, nicht aber die konkreten Machtstrukturen thematisiert werden, existiert keine Phantasie radikaler Veränderungen.

Das ist kein isoliertes Problem. Denn insgesamt fehlt eine antikapitalistische Bewegung mit vereinheitlichender Tendenz und einem Theoriehorizont, der das imperialistische Weltsystem grundsätzlich in Frage stellt. Es gibt zwar eine Vielzahl radikaler Bewegungen mit Transformationsansprüchen, die jedoch bisher noch kein überzeugendes Umwälzungskonzept mit globaler Ausstrahlung hervorgebracht haben: Die Krise der Linken ist deshalb auch Ausdruck des Fehlens konkreter Alternativen. Weil auch deshalb noch keine „Stimmung“ des Umbruchs existiert, hat sich ein Bewusstsein über die Zerfallsdynamik der alten Ordnung noch nicht verallgemeinert. Das wäre jedoch eine wichtige Voraussetzung zur Herausbildung einer veränderungsbereiten Widerstandshaltung jenseits subkultureller Nischen.

Politisches Mandat

Eine antikapitalistische Bewegung mit politischer Wirkungskraft kann nur durch eine gemeinsame Perspektive der Akteure in den verschiedenen Konfliktbereichen entstehen. Eine Schlüsselstellung bei der Herausbildung einer wirksamen Widerstandskultur kommt dabei immer noch den Auseinandersetzungen im Industriesystem zu. Es ist nicht nur der zentrale Ort der Ausbeutung, sondern auch ein gesellschaftliches Machtzentrum. Das Industriesystem ist die entscheidende Sphäre kapitalistischer Herrschaft. „Immer noch gilt deshalb: Hat man im industriellen Sektor das Sagen, so hat man eine gesamtgesellschaftliche Schlüsselposition inne.“ (M. Schumann)

Um den intensivierten Ausbeutungsstrategien des Kapitals einen wirksamen Gestaltungsanspruch entgegen setzen zu können, erscheint die traditionelle Trennung der Arbeiterbewegung in einen ökonomischen und einen politischen Teil immer unangemessener. Der Kampf für die unmittelbaren materiellen Interessen der Lohnabhängigen, der lange Zeit nur noch die Form der Abwehr von Angriffen auf ihren Lebensstandard hatte, kann nicht mehr von den Vorstellungen einer Umgestaltung der Gesellschaft getrennt werden.

Hoffnungen auf eine politische Antriebsrolle der Gewerkschaften greifen natürlich weit über ihren jetzigen Zustand weitgehender Lähmung und Konzeptionslosigkeit hinaus. Jedoch gibt es realistische Perspektiven der Veränderung nur, wenn die Lohnabhängigenorganisationen mit ins Kalkül gezogen werden.

Weil der Druck innerhalb der Gewerkschaften wächst, sind die Chancen einer Umorientierung so günstig wie schon lange nicht mehr. Auf der Tagesordnung steht die Formulierung eines gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsanspruchs. Dazu müssten die Gewerkschaften – so wie es übrigens das Kapital immer gemacht hat – aufs „Ganze“ gehen und die gesellschaftlichen Strukturierungs- und Organisationsprinzipien thematisieren. Notwendig ist ein neues, radikales Denken, durch dass Marktdruck und Kapitalakkumulation grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Ein naheliegendes Mobilisierungsmittel, um kollektive Lernprozesse in Gang zu setzen, ist der politische Streik. Angeschlossen werden kann an aktuelle gewerkschaftliche Aktionen. Sie könnten als „Vorübungen für politische Streiks“ (R. Münder) gestaltet werden. Erste Umsetzungsvorstellungen werden mittlerweile auch in einigen Führungsetagen von Gewerkschaften thematisiert: Möglichst viele Personal- und Betriebsversammlungen sollen, so ver.di-Chef Bsirske, am selben Tag und zur selben Zeit stattfinden und an einem gemeinsamen Treffpunkt ihren Abschluss finden.

Aber auch die Anwendung konsequenter Kampfformen wird nicht ausreichen, wenn sich die Klassenorganisationen als gesellschaftliche Gegenmacht profilieren wollen. Eine gesellschaftsverändernde Bereitschaft wird nur entstehen, wenn plausible Alternativvorstellungen in den politischen Auseinandersetzungen wieder eine Rolle spielen, die auch in alltagspraktischer Perspektive einen nachvollziehbaren Charakter besitzen. Treffend auch für die Gegenwart ist ein Marx-Wort aus einer fernen Vergangenheit: „Denn wenn auch keine Zweifel über das ‚Woher‘, so herrscht desto mehr Confusion über das ‚Wohin‘. Nicht nur, dass eine allgemeine Anarchie unter den Reformern angebrochen ist, so wird jeder sich selbst gestehen müssen, dass er keine exacte Anschauung von dem hat, was werden soll.“ (Marx)