Buchbesprechungen

Marx und die neuen Themen/Alle Buchbesprechungen

von Jörg Goldberg zu Hans Jürgen Krysmanski
Dezember 2014

Marx und die neuen Themen

Hans Jürgen Krysmanski, Die letzte Reise des Karl Marx, Westend Verlag, Frankfurt/M. 2014, 110 S., 10.- Euro

Der Marx, den Krysmanski dem Leser vorstellt, ist ungewohnt: Glattrasiert und im Fassonschnitt, diskutierend über Feminismus und Kasinokapitalismus, durchblasen vom afrikanischen Scirocco am Rande der algerischen Wüste, ein weiser alter Mann, der verunsichert die Bewunderung einer jungen Frau genießt.

Tatsächlich unternahm Marx, seiner angeschlagenen Gesundheit zuliebe, zwischen Februar und September 1882 eine ausgedehnte Kurreise, die ihn an einige der angesagtesten Kurorte der englischen Oberschicht, darunter Algier und Monte Carlo, führte. Dies war notwendig, weil Marx in vielen Ländern polizeilich gesucht wurde. Zum ersten und einzigen Mal verlässt Marx Europa. Krysmanski schöpft die vorhandenen Quellen aus, insbesondere den Briefwechsel mit seinen Töchtern und mit Engels, der es erlaubt, die Erlebnisse dieser Monate nachzuvollziehen. Marx macht Bekanntschaft mit dem französischen Kolonialismus und bestimmten Vertretern der Bourgeoisie, die das Leben in den großen Hotels und Spielkasinos der besuchten Kurorte prägen. Gleichzeitig erlebt der Leser, wie kompliziert und widersprüchlich, teilweise tragisch, das Familienleben der ‚Großfamilie‘ Marx, mit Töchtern, Schwiegersöhnen und Enkeln, gewesen sein muss.

Krysmanski, der Teile des Textes ursprünglich als Ideensammlung für einen Spielfilm verfasst hat, behauptet: „Dieses Buch … spielt mit den Elementen späterer Horizonterweiterung und bleibt zugleich – kleine Freiheiten ausgenommen – auf dem Boden der historischen Tatsachen.“ (9). Das stimmt, auch wenn einige der „kleinen“ Freiheiten doch, wie der Autor einräumt, „vollkommen fiktional“ sind, aber gerade deshalb „vielleicht am dichtesten an der Realität.“ (9)

Marx Gedanken kreisen auf dieser Reise vor allem um zwei ‚neue‘ Themenkomplexe. Der eine ist sein „blinder Fleck“, (46) die Frauenfrage. Sah er das selber so? Nicht unmöglich: Es ist bekannt, dass Marx in seinem privaten Leben eher ein Patriarch war, der ‚seinen‘ Frauen nicht allzu viel Spielraum ließ und ihnen einiges zumutete. Dachte er in seinen letzten Lebensmonaten darüber nach? Er musste den Tod seiner Frau und seiner ältesten Tochter verwinden, mit der Männerwahl seiner Töchter war er nicht besonders zufrieden, womit er im Familienkreis nicht hinter dem Berg hielt. Bebels Buch, ‚Die Frau und der Sozialismus‘, war 1879 erschienen – bei Krysmanski schenkt er es einer jungen, gebildeten und selbstbewussten Frau, die er auf der Reise kennenlernt und der er in seinen letzten Monaten sehr nahe kommt.

Ein anderes ‚neues‘ Thema ist die Rolle der Börse, des Finanzkapitals, im modernen Kapitalismus. Hat Marx, angeregt durch einen Besuch im Spielkasino in Monte Carlo (wo er 200 Francs verliert, 66) wirklich den Begriff ‚Kasinokapitalismus‘ (64) geprägt? Und hat er tatsächlich in amerikanischen Stahl- und Eisenbahnaktien spekuliert (mit Hilfe einer für die Reise gedachten Überweisung Engels) und dabei die gewaltige Summe von viertausend englischen Pfund (67) gewonnen? Eher unwahrscheinlich, denn damit wäre er 1882 ein reicher Mann gewesen; zudem dürfte Engels Reisegeld nicht so hoch gewesen sein, dass man damit derartige Summen erspekulieren konnte. Aber: Dass die beiden sich gelegentlich an der Börse versucht haben ist belegt (66/67 bzw. 102). Und belegt ist auch, dass sich zumindest Engels (1895) bewusst war, dass seit den Arbeiten am ‚Kapital‘ (1865) die Börse erheblich an Bedeutung gewonnen hat (102). Bei beiden Themen wird der Leser angeregt, die zitierten Quellen selbst nachzulesen, denn Wirklichkeit und Möglichkeit stehen bekanntlich in einem engen Wechselverhältnis.

Krysmanski ist ein liebenswertes und anregendes kleines Buch gelungen, das dem Leser den Menschen Marx näher bringt, indem er ihn in ungewohnter Umgebung und unter ungewohnten Verhältnissen zeigt.

Jörg Goldberg

Neues aus der Marx-Engels-Forschung

Marx und Russland. Beiträge zur Marx-Engels-Forschung Neue Folge 2012, Argument, Hamburg 2014, 228 S., 14,90 Euro

Zehn der insgesamt fünfzehn Beiträge des vorliegenden Bandes gehen zurück auf eine Tagung vom 23. und 24. September 2011 in Berlin, an der WissenschaftlerInnen aus Russland, Italien, Finnland und Deutschland teilnahmen (5). Russland, seine Politik und Wirtschaft, waren bei Marx und Engels ein ständiges Thema. Bekanntermaßen hatten die beiden Kontakt zu russischen Persönlichkeiten aus den Reihen der Volkstümler. Das Thema ‚Marx und Russland‘ hat seit Lenin „Tradition“ (ebd.) und ist bis heute Gegenstand von Diskussionen. Der Band will hier ausdrücklich nicht intervenieren und gibt keinen „umfassenden Kommentar“ zur Frage des Verhältnisses von Marx/Engels zu Russland (6). Wie von den vorhergehenden Bänden gewohnt, umfasst auch dieser Band thematisch vielfältige Beiträge.

Paolo Dalvit schildert Marx und Engels anhand ihrer journalistischen Arbeiten und Auszügen aus ihren Briefen als kritische Kommentatoren des Krimkrieges sowie der russischen Politik überhaupt (9-19; Vorabdruck in Z 88, Dez. 2011).

Wolfgang Eckhardt beschäftigt sich mit dem Konflikt zwischen Marx und Engels und Bakunin. Er bewertet ihn „nicht als Rivalität zweier Konkurrenten oder als eine von persönlichen Ressentiments geprägte Privatfehde“. Vielmehr habe es sich im Kern um die Auseinandersetzung zwischen den „ihre Autonomie verteidigenden Landesföderationen“ der Internationalen Arbeiterassoziation und der von Marx und Engels gegen die Mehrheiten vorangetriebenen „zentralistische[n] Organisationsformen“ gehandelt (38).

Vesa Oittinen betrachtet die divergierenden Reaktionen von Marx/Engels und Dostoevskij auf die russischen Bakunismus- und Terroristen-Affären in den 1880er Jahren. Marx und Engels hätten der Frage des „moralischen Nihilismus“ nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt und seien zu Unrecht der Meinung gewesen, es handle sich, wie beim Terrorismus, um ein „historisch vorübergehende[s] Phänomen[…]“ (50).

Ernst-Ulrich Knaudt stellt die fünf „Briefe ohne Adresse“ von Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski vor, dem Autoren des Romans Was tun? Über „zwei nie publizierte[n] Schriften“ Engels, in denen er sich mit der „Geschichte der slawischen Völker“ (83) auseinandersetzt, berichtet Hanno Strauß. Dabei erinnert er an die Einleitung „zu einer nie ausgeführten Geschichte der Diplomatie“ von Marx. Beide Arbeiten sind Mitte der 1850er Jahren entstanden.

Svetlana Gavrilcenko porträtiert V. V. Bervi (1829-1914), der vor allem unter dem Pseudonym N. Flerovskij bekannt wurde und dessen Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in Russland „von Marx hoch geschätzt wurde“ (105). Bervis Schriften gehörten zu den meist gelesenen in Russland während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; er gilt als Vordenker der revolutionären Volkstümler. Valerij Fomicev widmet sich dem Marxschen Exzerpt zu einem Werk von S. A. Podolinsky, dem Marx und Engels auch persönlich begegnet sind (113). Podolinsky vertrat die Idee, dass „physiologische und physische Arbeit des Menschen grundsätzlich miteinander verbunden und in energetischen Einheiten messbar sind“ (120).

In einem Auszug aus dem 1967 erschienenen Buch Das Werk, das die Jahrhunderte überdauert von Anna V. Uroeva (1900-1983) geht es um Fragen der Übersetzung des Kapitals ins Russische im Vorfeld der tatsächlichen Erstveröffentlichung. Mit der „relativ schnellen Übersetzung“ des „Kapital“ ins Russische von Nikolaj F. Daniel’son (im März 1872 erschienenen) beschäftigt sich Rolf Hecker.

Der David-Rjazanov-Preisträger Philipp Mattern veröffentlicht mit seinem Artikel Oberfläche und Bewusstsein. Fetischismuskonzeption und Ideologietheorie bei Marx einen theoretischen Beitrag außerhalb des eigentlichen Schwerpunktes. Er richtet sich gegen Positionen, die die zentralen Marxschen Begriffe Ideologie und Fetischismus „beide aufeinander reduzier[en], voneinander ableite[n]“, einen der beiden theoretisch verabschieden oder gar nicht erst erwähnen (148). Ferner werde seiner Meinung nach mit den Begriffen weder „das gleiche Phänomen lediglich verschieden benannt“ noch löse „das Fetischismuskonzept die Ideologietheorie ab“ (ebd.).

Biographische Beiträge betreffen Johanna Lahr (1867-1904) und die Socialist League 1884/1885 (Gerd Callesen) sowie eine Würdigung des 2012 verstorbenen sowjetischen Marx-Forschers Viktor Alekseevic Vazjulin von Gudrun Havemann und Ilka John. Dazu gehört die Erstveröffentlichung in deutscher Sprache eines Textes von Vazjulin über das Problem der dialektischen Aufhebung der klassischen Form des Marxismus (182-206). Den Band beschließt ein Literaturbericht über „in den letzten zehn Jahren in Russland veröffentlichte Monografien, Dokumenteneditionen und Werksausgaben […], die für die Erschließung der Geschichte der russischen politischen Parteien und ihrer Funktionäre […] von Bedeutung sind“ (215), verfasst von Wladislav Hedeler.

Für Marx-ForscherInnen und historisch am Marxismus interessierte LeserInnen bietet der Band wie seine Vorgänger detailliertes Wissen und Erkenntnis.

Sebastian Klauke

Ungewollt das Geschäft der Kriegspartei erledigt

Heiner Karuscheit, Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg, VSA Verlag, Hamburg 2014, 252 S., 19,80

Der Titel des Buches führt in die Irre. Von „Deutschland 1914“ ist erst auf den letzten fünfzehn Seiten die Rede. Zuvor vollzieht man eine tour d’horizon durch die deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte seit 1848. Insbesondere dem wechselvollen Verhältnis von Bourgeoisie und Adel in Preußen bzw. Preußen-Deutschland gilt das Interesse des Autors. Er verweilt mit guten Gründen lange beim Preußischen Heeres- und Verfassungskonflikt, stellt mit großer Ausführlichkeit Bismarcks Spiel mit unterschiedlichen klassen- und parteipolitischen Konstellationen dar, spürt den ökonomischen Ursachen der Fraktionierungen innerhalb der Klassen nach, schildert ihre wechselnden Koalitionen mit- und gegeneinander und gelangt schließlich zu der Anschauung, dass der Steuerkonflikt zwischen den im „Bülowblock“ agierenden Nationalliberalen, Linksliberalen und Konservativen im Jahre 1909 einen irreparablen Bruch des Bündnisses zwischen Adel und Bourgeoisie bedeutete. Neues hat Karuscheit bei alledem kaum zu bieten; seine Darstellung ist aber eine außerordentlich nützliche und detailreiche Zusammenfassung dessen, was zu dieser Thematik in Handbüchern und Standardwerken nachlesbar ist.

Kommen wir auf das Jahr 1914 zu sprechen. Heiner Karuscheit und sein Verlag fahren bereits auf der vierten Umschlagseite schweres Geschütz auf. Hier lesen wir die nicht eben zurückhaltend formulierte Aussage, der Autor „widerlegt die gängige Geschichtsschreibung, der zufolge der Krieg durch die außenpolitische Lage verursacht wurde“. Seine These hierzu lautet: „Nicht die Eigengesetzlichkeit der äußeren Lage diktierte den Weg in den Krieg – es waren die wechselseitigen Beziehungen der innergesellschaftlichen Kräfte, die sich auf den Umgang mit der Außenpolitik auswirkten und den Kanzler (Bethmann Hollweg – R.Z.) zu einer tragischen Gestalt werden ließen, die ungewollt das Geschäft der Kriegspartei erledigte.“ (244). Und weiter: „Die historische Forschung hat festgestellt, dass keiner der beteiligten Staaten 1914 definitiv kriegsentschlossen war, deshalb hat sich die Auffassung eingebürgert, Deutschland und mit ihm ganz Europa sei in den Krieg ‚hineingeschlittert’.“ (Ebd.)

Tatsächlich hat der Autor Recht, wenn er von „eingebürgert“ schreibt. Seit dem Ende des Krieges war dies die Anschauung der bürgerlichen, vor allem konservativen Geschichtsschreibung, die anlässlich des 100. Jahrestages der Entfesselung des Weltkrieges fröhliche Wiederauferstehung feiert. Im Gegensatz zu dieser aus durchsichtigen Motiven verbreiteten Auffassung hatte die Kriegspartei in Berlin, assistiert von ihrem Pendant in Wien, seit Jahren zielgerichtet darauf hingearbeitet, die erste sich bietende Chance zu nutzen, um die außenpolitischen Ziele – im Minimum ein von Deutschland dominiertes „Mitteleuropa“ und ein groß dimensioniertes Kolonialreich in Afrika – mit kriegerischen Mitteln zu realisieren. Dabei schreckte man vor einem Präventivkrieg nicht zurück. Der Autor kennt offenbar nicht die einschlägigen Quellen oder blendet sie aus, weil sie seinen Thesen widersprechen. Bereits die Lektüre der Memoiren des österreichischen Generalstabschefs von Hötzendorf, der Aufzeichnungen seines deutschen Kollegen von Moltke und des deutschen Botschafters in London Fürst Lichnowsky, ja selbst der vier Bände der „Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch“, hätten vielleicht zu etwas mehr Sachkenntnis geführt.

Und Bethmann Hollweg? Seine England-Politik war keineswegs grundsätzlich „friedliebend“, sondern taktisch bis in die Julikrise hineinreichend auf das Ziel ausgerichtet, im Falle des Krieges mit Russland und Frankreich das Inselreich nicht auf der Seite der Gegner zu wissen. Dem Reichskanzler zu attestieren, sein „erklärtes Ziel“ sei „die Sicherung des europäischen Friedens“ gewesen (8) stellt die Dinge in grotesker Weise auf den Kopf. Die Lektüre der Werke Fritz Fischers, ja selbst seines Kontrahenten Egmont Zechlin, der Bethmann-Hollweg-Biographie Willibald Gutsches (dessen marxistische Arbeiten man im Literaturverzeichnis vermisst – wie vieles andere Wichtige aus der DDR und von angelsächsischen Autoren), aber auch des Riezler-Tagebuches, hätten vor solchen Absurditäten schützen können. Bethmann war ein klügerer Taktiker als die meisten seiner Kollegen in Regierungsämtern, unter den Diplomaten und in der militärischen Führung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Ein Wort zu den vom Autor zitierten Quellentexten: Sie werden den Lesern vornehmlich nach ihrer Wiedergabe in der Sekundärliteratur, so z.B. aus Lothar Galls Bismarck-Biographie oder Thomas Nipperdeys Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert, zur Kenntnis gebracht. Vielleicht wäre es für kommende Publikationen des Autors hilfreich, zumindest gelegentlich einen Blick in die leicht zugänglichen, gedruckten Quellen zu werfen; vom Gang in die Archive sei geschwiegen.

Reiner Zilkenat

Das Rote Berlin

Axel Weipert, Das Rote Berlin. Eine Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung 1830-1934, BWV Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2013, 251 S., 29,00 Euro

Dies ist ein gelungenes, klar und verständlich geschriebenes Lesebuch über die Geschichte des Roten Berlins. Deshalb ist nicht in erster Linie danach zu fragen, was es dem versierten Historiker zu bieten hat, sondern wie hier Geschichte für ein interessiertes Publikum erzählt wird. Und dies geschieht in beeindruckender Weise.

In dem von Weipert behandelten Zeitraum hat sich Berlin politisch, ökonomisch, sozial und kulturell permanent verändert. Aus der preußischen Residenzstadt wurde die Reichshauptstadt einer internationalen Großmacht und eine Industriemetropole von Weltrang. Damit war die Berliner Arbeiterbewegung auf einen welthistorischen Boden gestellt und die in ihr ausgetragenen Auseinandersetzungen erlangten eine weit über das Lokale beziehungsweise Regionale hinausragende Dimension. Diese Dimension ist von Weipert nicht ausgeschritten worden, aber das sollte dem Autor, der sich der Begrenztheit seines Anliegens bewusst ist, auch nicht abverlangt werden.

Der rasante Aufstieg Berlins schlug sich auch in seiner territorialen Ausdehnung nieder. Insofern ist es sinnvoll, wenn das später eingemeindete Umfeld der Stadt von Anfang an mit ins Blickfeld genommen wird. Berlin – keineswegs die Wiege der deutschen Arbeiterbewegung – wuchs dennoch im Laufe der Jahre dank starker Partei- und Gewerkschaftsorganisationen und beispielloser Wahlerfolge zur Welthauptstadt der sozialistischen Arbeiterbewegung heran. Folgerichtig trat hier auch der Widerspruch zwischen der enormen Organisationsstärke und bei wichtigen Anlässen bewiesener Mobilisierungsfähigkeit einerseits und der Ohnmacht gegenüber der eskalierenden Politik des deutschen und internationalen Imperialismus stärker als anderswo hervor. Klangen Programmatik und Rhetorik revolutionär, erwies sich die Praxis zunehmend als reformistisch.

Mehr als in manch vergleichbaren Publikationen wird von Weipert die Fokussierung auf die politische Arbeiterbewegung durchbrochen. Spontane Aktionen von den Kartoffelrevolten des Vormärz bis zu Rebellionen von Arbeitslosen im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts finden die gebührende Beachtung. Dabei wird deutlich, wie sich der verbürokratisierende Apparat von Partei und Gewerkschaften zunehmend von solchen Aktionen der Unterschichten distanzierte. Erstaunlich ist, wie viele Parallelen sowohl die Proteste und damit verbundene Ausschreitungen als auch das Vorgehen von Polizei und Justiz zu Zusammenstößen zwischen Ausgegrenzten und Etablierten in unserer Zeit aufweisen. Auch auf die Frauenbewegung wird wiederholt eingegangen, hingegen taucht die Jugendbewegung mit Rückblick auf ihre Entstehung erst in der Weimarer Republik auf. Allerdings erscheint bis zur Reichsgründung die Berliner Bewegung zu isoliert, so dass ein etwas oberflächliches Bild vom Bund der Kommunisten, dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und der Eisenacher Partei entsteht.

Auch in den Kapiteln über den ersten Weltkrieg und über die Novemberrevolution (hier ausgedehnt bis zur Niederschlagung des Kapp-Putsches) wird der elementaren Arbeiterbewegung besondere Aufmerksamkeit geschenkt, wobei es Frauen waren, die den Protest gegen das Völkermorden als erste auf die Straße trugen. Die tiefer liegenden Ursachen der Spaltung der Arbeiterbewegung werden angesprochen, doch zugleich herausgearbeitet, dass die Kluft weniger die Massen als die Führungen trennte. Weipert konstatiert das paradoxe Ergebnis, dass innerhalb der Arbeiterbewegung „jene, die eine Revolution nicht gewollt hatten, am meisten von ihr profitierten“. (144) Gerade in diesen Kapiteln ist ablesbar, was von der offiziellen Erinnerungskultur alles verdrängt wird, während wir mit vergleichsweise Belanglosem der DDR-Geschichte permanent konfrontiert werden.

Besondere Anerkennung verdienen die auf die Weimarer Republik konzentrierten, aber auf die Vorgeschichte zurückgreifenden Ausführungen über das Arbeitermilieu, seine Aktionsfelder und organisatorischen Strukturen. Hier wäre auch ein Verweis auf das Entstehen der Agitprop-Bewegung angebracht gewesen. In der Endphase der Weimarer Republik finden wir neben den überall herausgehobenen Hauptereignissen wie „Blutmai“ 1929 oder BVG-Streik Verweise auf wenig beachtete Bereiche der Arbeiterbewegung wie die „Wilden Cliquen“ und den Kampf um die „roten Kieze“. Mit einer einprägsamen Schilderung der Naziterrors nach Errichtung der faschistischen Herrschaft und den ersten Widerstandaktionen, die große Opfer, aber wenig Erfolge zeitigten, endet dieser Streifzug durch die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung.

Obwohl in diesem Buch vor allem Geschichte lebendig erzählt werden soll, war der Autor bemüht, an Schnittpunkten des Geschehens auch den Ursachen von Erfolgen und Misserfolgen nachzugehen oder nach Alternativen zu fragen, und zwar ohne den leserfreundlichen Stil des Gesamtwerkes aufzugeben und ohne in verselbständigte Exkurse abzugleiten. Natürlich wäre eine Synthese von Epochenanalyse und narrativer Historiographie wünschenswert. Aber da dies erwiesenermaßen schwer auf allgemeinverständliche Weise zu machen ist, sind sich ergänzende Publikationen auch ein echter Gewinn.

Günter Benser

NS-Geschichte im Saarland

Die Nazis aus der Nähe. Im Mikrokosmos der Hitler-Diktatur – Spurensuche im St. Wendeler Land. Hg. von Klaus Brill, Bernhard W. Planz, Inge Plettenberg, Klaus Zimmer, Edition schaumberg, Marpingen 2014, 480 S., 39,90 Euro

War bisher die Spurensuche nach den jüdischen Landgemeinden im Saarland ein Schwerpunkt der hier versammelten Autoren (Historiker, Soziologen, Psychologen, Theologen sowie Journalisten und Regionalforscher), so werfen sie in diesem umfangreichen Werk in zahlreichen Einzelbeiträgen einen Blick auf die Täter. Am Beispiel des Landkreises St. Wendel werden in den ersten vier Kapiteln zunächst die Vorgeschichte (42-84), das lokale NS-System (85-206), das alltägliche Leben in der Diktatur (207-361) und die Zeit des Weltkriegs (362-438) untersucht, um dann im Schlusskapitel eine Bilanz des Schreckens (438-453) zu ziehen. An konkreten Beispielen werden die Verschleppung politischer Gegner in Konzentrationslager, die Vernichtung der Juden, die Ermordung Behinderter, die Kriegsgeschehnisse, die Versklavung der Zwangsarbeiter, aber auch der Druck auf Schulen (der Zeitzeugenbericht auf S. 39f. zeigt allerdings, dass Lehrkräfte dem willfährig nachkamen) und Kirchen mit Originaldokumenten, Zeitzeugenberichten und zahlreichen beeindruckenden Fotos sowie Karten und Graphiken (meist erstmals veröffentlicht) belegt.

Dass diese Nahsicht auf den Faschismus vor Ort keineswegs überflüssig ist, schon um z.B. Götz Alys Gleichmacherei aller Menschen unter dem dem Faschismus Konkretes entgegen zu setzen, betont die saarländische Ministerpräsidentin in ihrem Geleitwort, wenn sie von der bleibenden Aufgabe schreibt: „Wie funktionierte das System vor Ort in den Städten, Dörfern und Gemeinden? Wie konnte es sich in so kurzer Zeit etablieren? Wer waren die Funktionsträger ‚ganz unten‘, wo kamen sie her und was taten sie vorher (und nachher, muss man hinzufügen, F.S.)? Wer half ihnen bei ihrem unmenschlichen Treiben? Welche Folgen hatte dies auf die überschaubare Lebenswelt auf dem Land? Wer leistete Widerstand auf welche Art? Wer schaute hin und verweigerte sich? Wer schaute weg und verdrängte?“ (10)

Im Saarrevier, das zunächst noch durch die sog. „Bergmannsbauern“ (48) gekennzeichnet war, wo „die Mentalitätsstrukturen und Verhaltensdispositionen der ländlich-bäuerlichen Lebenswelt“ (47) dominierten, blieb die katholische Zentrumspartei von 1920 bis 1935 die stärkste Partei. Bei der so geprägten Industriearbeiterschaft standen die sog. Christlichen Gewerkschaften zunächst deutlich vor dem ADGB. 1933, als das Saarland noch nicht zum deutschen Reichsgebiet gehörte und damit die Möglichkeit hatte, sich Hitler-Deutschland zu entziehen, liefen jedoch bürgerlich-liberale und nationale Gruppierungen und schließlich auch das katholische Zentrum zur NSDAP-Saar über und bildeten gemeinsam die ‚Deutsche Front‘. SPD-Saar und KPD-Saar schlossen sich 1934 zu einer Einheitsfront zusammen. Daneben existierten noch Zentrums-Dissidenten um den späteren Ministerpräsidenten Johannes Hofmann. Die Auseinandersetzungen um den Anschluss ans Deutsche Reich im Jahr 1935 ging jedoch – unterstützt von allen rechten, nationalen und bürgerlichen Kreisen – mit einem eindeutigen Ergebnis zu Ende: 90,76 Prozent entschieden sich für die Wiederangliederung. Bernhard W. Planz sucht in seinem Beitrag darauf eine Antwort zu finden und belegt anhand der regionalen Abstimmungsergebnisse, dass bei allen Gruppierungen der ‚Deutschen Front‘ die nationale Frage „alle anderen Fragen politischer oder gesellschaftlicher Art“ (59) überlagerte. Er zeigt aber auch, dass die nationalen Urinstinkte leicht zu mobilisieren waren, wenn selbst die Bischöfe vehement für den Anschluss plädierten.

Dieter Wolfanger (78ff.) nimmt sich Hitlers Vollstreckern an der Saar an und stellt zunächst den Gauleiter und Reichsstatthalter in vielen seiner verbrecherischen Facetten vor, später dann die Kreisleiter der Partei (158ff.). Dem folgt Hans Kirsch mit einer Analyse des Gebietes „auf dem Weg ins Dritte Reich“ (85ff.) Klaus Brill (99ff.) stellt umfassend die faschistischen Organisationen der Gleichschaltung vor Ort dar, während Hans Kirsch und Klaus Zimmer die lokalen NSDAP-Gruppen untersuchen (120ff.). Letzterer nennt Namen und Funktionen der Nazi-Funktionäre im Landkreis; über die Zeit nach 1945 teilt er dann mit: „Alle Ortsgruppenleiter wurden nach dem Krieg verhaftet und bis zu drei Jahren lang in Lagern (…) interniert. Danach wurden sie im Rahmen von Entnazifizierungsverfahren bestraft, wobei ihnen meist die Lagerhaft angerechnet wurde. Die Zellen- und Blockleiter kamen weitgehend ungeschoren davon.“ (150) Klaus Brill stellt die Lebenswege regionaler Nazigrößen im Kapitel „Der Giftzwerg von Hermeskeil“ (164ff.) vor; dieser Gauleiter tauchte nach 1945 (bis immerhin 1981) zunächst unter falschem, bald aber unter seinem richtigen Namen in Bayern unter, bevor er 1981 nach Kanada emigrierte. Ein anderer, seit 1935 Landrat in St. Wendel, entging der Entnazifizierung fast ungeschoren und konnte „erneut Karriere im Staatsdienst machen“ (176).

Von den weiteren eindrucksvollen Einzeldarstellungen seien die Darstellung des Massenmordes an Behinderten und die Zwangssterilisierung von Männern und Frauen im Untersuchungsgebiet durch Michael Landau (250 ff.), der akribisch Namen, Zahlen und Daten erforscht hat, sowie Eva Tigmanns Artikel über die Vertreibung und Ermordung der Juden im St. Wendeler Land (263ff.) genannt.

Die Schilderung von vielen Einzelschicksalen aus der Kriegszeit und weitere exakte Untersuchungen, z.B. des Konzentrationslagers Hinzert oder der Verfolgung von Sinti und Roma, bilden ein Kaleidoskop dieser Zeit und zeigen, dass zum Faschismus durchaus noch Vieles aufzuarbeiten ist. Das Buch schließt mit einer „Bilanz des Schreckens“ (440ff.) und einem Blick auf die sog. Entnazifizierungsverfahren nach 1945 (442ff.), die zunächst ernsthaft begonnen hatten, 1948 jedoch in der ‚Saarlandamnestie‘ abgeschwächt und 1950 schließlich beendet wurden. „Die Sanktionen gegen Mitläufer und Minderbelastete wurden aufgehoben und weitere Verfahren eingestellt.“ (448)

Friedrich Sendelbeck

Historische Streifzüge durch Österreich

Hans Hautmann, Von der Permanenz des Klassenkampfes und den Schurkereien der Mächtigen. Aufsätze und Referate für die Alfred Klahr Gesellschaft, Verlag der Alfred Klahr Gesellschaft, Wien 2013, 405 Seiten, 20,00 €

Claudia Kuretsidis-Haider/Manfred Mugrauer (Hrsg.), Geschichtsschreibung als herrschaftskritische Aufgabe. Festschrift für Hans Hautmann zum 70. Geburtstag, StudienVerlag, Innsbruck 2013, 350 Seiten, 34,90 Euro

Der Österreichwerbung ist es sogar im Gedenkjahr 2014 gelungen, dass für Touristen wie Einheimische geschaffene süßliche Bild von der schönen Kaiserin Sissi und dem gütigen Kaiser Franz Joseph fleckenlos aufrecht zu erhalten. Dabei war das Habsburgerreich der Auslöser des ersten Weltkrieges, da ein militärisches Abenteuer den Herrschenden eine sinnvolle Option gegen den schleichenden Zerfall ihres Vielvölkerstaates schien. In seinen Arbeiten zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert erinnert Hautmann an die aggressive Politik Wiens und auch an die zahlreichen Kriegsverbrechen, die damals im Gegensatz zu den deutschen wenig internationale Aufmerksamkeit fanden und bis heute selbst in Österreich kaum bekannt sind. Weil die Opfer Slawen waren? Er macht deutlich, dass die übliche Erklärung des Zerfalls der k.u.k.-Monarchie, die Abspaltung der nicht-deutschen Völker zu kurz greift, da die Streiks und Massendemonstrationen der österreichischen Arbeiter mit zum Sturz der Monarchie beitrugen. Wie in anderen europäischen Staaten kam es nach der Februarrevolution in Russland zu Streikbewegungen. Sie markieren „nichts weniger als den Beginn der revolutionären Krise, die … bis zum Sommer 1920 anhielt.“ (160) Der Höhepunkt der Klassenauseinandersetzung waren die 10 Tage des Januarstreiks 1918, da – so Hautmann – „die objektiven Bedingungen für eine revolutionäre Veränderung vollständig herangereift“ (211) waren. Hautmann zeigt jedoch an mehreren Beispielen, „dass die österreichische Sozialdemokratie während des Krieges nie auch nur einen Zentimeter über den von den Machthabern abgesteckten Handlungsspielraum hinausging“. (180) Stand für die SPÖ die Frage des Kampfes um die Staatsmacht also nicht zur Diskussion, so waren die Linksradikalen „zahlenmäßig zu schwach und politisch zu wenig geschult und erfahren“. (198) Dass dann auch die im November 1918 gegründete KPÖ relativ erfolglos in der „österreichischen Revolution“ (Otto Bauer) 1918/19 agierte, erklärt Hautmann mit der Spezifik des Reformismus der SPÖ: „Die Sozialdemokratie hat den Werktätigen … versprochen, sie zum Sozialismus zu führen. … Zudem versicherte sie, dass ihr Weg zum Sozialismus sicherer, bedachter, realistischer sei und viel weniger Opfer abfordern würde als der von den Kommunisten vorgezeichnete. Dass das nicht nur Gerede war, dass Austromarxisten wie Otto Bauer, Max Adler, Friedrich Adler und andere den Sozialismus wollten und fest von der Richtigkeit ihres Konzepts überzeugt gewesen sind, kann ebenso wenig bestritten werden wie die Tatsache, dass jede Revolution Wagnisse und Risiken in sich birgt. Hier liegt die tiefste massenpsychologische Wurzel für den Erfolg des Reformismus und für das Scheitern der Bemühungen der KPÖ, zu einer Räterepublik zu gelangen.“ (224)

Hervorzuheben ist Hautmanns Studie über die Moskauer Deklaration (1943) und ihre Bedeutung für Österreichs Gegenwart. Dieses Dokument ist „das eigentliche Fundament der österreichischen Staatlichkeit der 2. Republik, auf der sowohl die Unabhängigkeitserklärung vom 27.4.1945 als auch der Staatsvertrag vom 15.5.1955 … aufbauen“ (253). Österreich wird von den Alliierten zwar als erstes Opfer der Aggressionspolitik Hitlers bezeichnet, den Österreichern wird jedoch auch gesagt, dass sie für ihre Haltung während des Krieges eine Verantwortung tragen, „der sie nicht entrinnen können“. Deshalb wurde das Land nach seiner Befreiung durch die Alliierten besetzt und als eigener, feindlicher Staat behandelt. Die Eigenstaatlichkeit war unter den österreichischen Politikern keineswegs Konsens. Die SPÖ orientierte sich bis 1943 am sogenannten Nationalitätenprogramm der Linken, das 1918 den Anschluss des deutschsprachigen Habsburgergebiets an Deutschland gefordert hatte. Christlich-Konservative liebäugelten hingegen mit der Idee Churchills von einer Donaukonföderation. Die einzige politische Kraft die seit dem „Anschluss“ 1938 konsequent für „ein freies, unabhängiges Österreich“ kämpfte war die KPÖ. Die „erste Opfer“-Formulierung musste angesichts der österreichischen Mentalität (keine klare Positionierung, möglichst wenig Auseinandersetzung, möglichst keine Verantwortung) naturgemäß verheerende Folgen haben: Sie diente und dient heute noch dazu, den Anteil und die Bedeutung von Österreichern im Partei- und Staatsapparat des Dritten Reiches sowie deren Verbrechen zu bagatellisieren bzw. zu verschleiern. Zudem ist sie natürlich falsch wie Friedrich Adler, der große alte Mann der SPÖ, 1948 bemerkte: „Nicht die ‚österreichische Nation‘ war das erste Opfer Hitlers, sondern das erste Opfer war die deutsche Arbeiterklasse“.

Auf den ersten Blick nur von historischem Interesse erscheinen die Aufsätze zu den Oktoberstreiks bzw. dem „Kommunisten-Putsch“ 1950, da es inzwischen kaum einen ernsthaften Historiker gibt, der von einem „Putsch“ spricht. Worum es sich handelte war eine Regierung und Gewerkschaften in ihrem Ausmaß völlig überraschende Streikbewegung (über 200 000 Aktivisten) gegen massive Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln im Zuge eines Lohn- und Preisabkommens. Infolge taktischer Fehler endete die Streikbewegung mit einer Niederlage und Massenentlassungen. Dennoch ist „das Beharren auf der Putschthese … ein zentraler und notwendiger Bestandteil des Selbstbildes, dass die Machteliten vor sich hertragen“ (294). Sie entwickelten nach diesem Schock sukzessive eine Politik, „welche die ökonomischen Gegensätze von den Fabriken und von der Straße auf den ‚grünen Tisch‘ verlagerte. Dies wiederum verstärkte die Entpolitisierung der Bevölkerung und somit die Sozialpartnerschaft, die zum Symbol par excellence der auf Harmonie fußenden österreichischen Gesellschaft wurde“(285). Die Klassenkämpfe 1950 markieren das Ende der ersten zaghaften demokratischen Reformen des Staatsapparates und den Beginn des institutionellen Ausbaus Österreichs zum konservativ-bürokratischen Obrigkeitsstaat.

Die Festschrift für Hautmann besteht – wie bei solchen Unternehmen üblich – aus Beiträgen unterschiedlichster Thematik und Qualität. Für den deutschen Leser ist sicherlich von besonderem Interesse „Wolfgang Abendroth im Kreisverband Marburg/Stadt der SPD“. Die von Georg Fülberth ausgewerteten Protokolle der Vorstandssitzungen und Mitgliederversammlungen zeichnen das Bild eines aktiven Sozialisten, der sich auch für lokale Probleme engagierte. Vor allem jedoch „konnte Abendroth die Programmdiskussion prägen, wenngleich die von ihm angestrebte Auswirkung auf das überregionale Ergebnis nicht erzielt wurde“. (274) Nach der Wahlniederlage 1953 orientierten die Reformisten um Fritz Erler auf ein neues Programm, das die SPD zur „Volkspartei“ machen sollte. Der von Abendroth geprägte Gegenentwurf des Kreisverbandes Marburg (277ff) wollte hingegen die SPD als Arbeiterpartei erhalten. Auf dem Parteitag 1959 wurde jedoch nur der Text diskutiert, der als „Godesberger Programm“ firmiert. Zwei Jahre später wurde Abendroth aus der SPD ausgeschlossen. Das hatte keine Marburger Gründe, sondern überregionale: die Unterstützung des SDS.

Die Mehrzahl der Beiträge ist österreichischen Themen gewidmet. Ein Aufsatz informiert über das (mangelnde) „Widerstandsgedächtnis in Kärntens Denkmallandschaft“ und einer über die 1945 in Leoben praktizierten Volksfrontpolitik. Ein Beitrag beschäftigt sich mit NS-Prozessen und ein weiterer informiert über die Probleme der KPÖ beim Umgang mit ihrer Geschichte. Es ist aber selbst für eine Festschrift mehr als bedauerlich, dass sich nur wenige Beiträge mit der Geschichte der 2. Republik befassen. Da gibt es noch viel Arbeit für linke Historiker, wenn sie dem Weg Hautmanns folgen wollen, die „Schurkereien der Mächtigen“ aufzudecken, denn die „Schurkereien“ seit 1945 sind Legion.

Karl Unger

Kämpferische Generation

Theodor Bergmann, Sozialisten. Zionisten. Kommunisten. Die Familie Bergmann-Rosenzweig – eine kämpferische Generation im 20. Jahrhundert, VSA Verlag, Hamburg 2014, 102 S., 12,80 Euro

Was für eine Familie diese Bergmann-Rosenzweigs. Beeindruckende Lebenswege von acht Geschwistern (sechs Brüdern und zwei Schwestern) sowie deren Nachkommen und Anverwandten stellt uns der jüngste, als einziger noch lebende Sohn vor –Theodor Bergmann, der nun auch schon auf die Hundert zugeht. Zunächst macht er jedoch den Leser auf anschauliche Weise mit den Zeitumständen bekannt, unter denen sich eine jüdische Familie zu behaupten und sich alle ihr Zugehörigen auf ihre Weise zu bewähren hatten. Das ist jedem und jeder auf seine oder ihre Art gelungen. In jenen Jahren, da erbitterte Kämpfe zwischen Reaktion und Fortschritt, zwischen Toleranz und rassistischem Antisemitismus ausgetragen wurden und schließlich Hitlers Griff nach der Weltherrschaft abzuwehren war, haben alle ihren Platz in dieser oder jener emanzipatorische Strömung ihrer Zeit gefunden, als Sozialisten, Zionisten, Kommunisten. Nur in die Fußstapfen des Vaters, des Rabiners Julius Bergmann, wollte zu dessen Leidwesen niemand treten. Naturwissenschaften, die soziale Frage und das Mittun am Aufstieg (nicht selten auch an der Aufrüstung) des Staates Israel übten mehr Anziehungskraft auf die neue Generation aus als die jüdische Religion.

Es sind nahezu zwei Dutzend Personen, die uns in diesem Büchlein nahegebracht werden, einige mit Hinweisen auf weiterführende Literatur. Zum Glück ist aus dem Kreis der acht Geschwister nur ein Opfer des Naziterrors zu beklagen. Das dürfte damit zusammenhängen, dass sie frühzeitig das Wesen des Hitlerfaschismus durchschaut, sich keinen Illusionen hingegeben und rechtzeitig Deutschland verlassen haben. Auch Alfred Rosenzweig war bereits den Schergen entronnen, da wurde er von der Schweizer Fremdenpolizei an die Gestapo ausgeliefert und in Deutschland hingerichtet.

Bemerkenswert der kritische Geist nahezu aller hier vorgestellten Personen. Standen die Kommunisten auf dem oppositionellen antistalinistischen Flügel der kommunistischen Bewegung, was für sie oft nicht ohne Folgen blieb, so respektierten die meisten Zionisten die berechtigten Anliegen von Palästinensern und suchten nach Wegen des Ausgleichs. Als Zeugnis solcher Bestrebungen ist in dieser Publikation ein 1973 in der Schweiz veröffentlichter Aufsatz des damals in Israel lebenden Arthur Bergmann abgedruckt. Wen die Einzelnschicksale interessieren, der muss selbst zu dieser Lektüre greifen.

Günter Benser

Faschismustheorien

Reinhard Kühnl, Faschismustheorien. Ein Leitfaden, zweite Neuauflage, Heilbronn 2014, 371 S, 18,- Euro

Die Theoriediskussion um den Faschismusbegriff hat in Deutschland nach wie vor einen schweren Stand. Der Begriff gilt noch immer als ideologisch belastet und die Debatten der 60er und 70er Jahre der alten Bundesrepublik haben Spuren hinterlassen, die viel jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen davor zurückschrecken lassen, diesen Fährten zu folgen.

Der im Februar 2014 verstorbene Marburger Politikwissenschaftler Reinhard Kühnl hat für die marxistisch orientierte Faschismusforschung der Bundesrepublik eine herausragende Bedeutung gehabt. Neben seinem „Klassiker“ Formen bürgerlicher Herrschaft und einem für viele Studierendengenerationen grundlegendem Dokumentenband zum Faschismus war es vor allem das jetzt vom Distel-Verlag neu aufgelegte Buch Faschismustheorien, das die Rolle und Bedeutung Kühnl begründet hat. Erstveröffentlicht 1979 bei Rowohlt bietet der Band eine kommentierte Übersicht der theoretischen Hauptströmungen der Interpretationen zum Faschismus, wie sie sich in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Gegenstand seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat.

Kühnl nahm in seinem Band sowohl die verschiedenen Ausprägungen bürgerlicher und konservativer Herleitungen des Faschismus in den Blick, als auch die marxistisch geprägte Diskussion. Dabei ging es ihm keineswegs darum, einen bestimmten Ansatz als alleinigen Schlüssel zu einer Theorie des Faschismus herauszuarbeiten. Wiewohl er selbst ein Vertreter des bündnistheoretischen Ansatzes war, ging es Kühnl in dem Band neben der Auseinandersetzung mit affirmativen und reaktionären Theorieansätzen (Führertheorie, Totalitarismustheorie u.a.) um die theoretische Erweiterung marxistischer Interpretationen. Sozialpsychologische Ansätze und Arbeiten, die die Massenbasis des Faschismus thematisierten, interessierten ihn besonders. Die erneute Lektüre seiner Texte zeigt, dass es Kühnl unter marxistischen Vorzeichen um eine Erweiterung des erstarrten Faschismusverständnisses ging, wie es im Anschluss an Dimitroff in den realsozialistischen Staaten vorherrschend war. Mit seinem bündnistheoretischen Ansatz der Faschismusdeutung ging es Kühnl zum einen um die objektiv herrschaftsstabilisierende Funktion des Faschismus in der Krise bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften nach dem Ersten Weltkrieg. Auf der anderen Seite wird der Faschismus von ihm jedoch gerade nicht als Marionette der herrschenden Klasse verharmlost; vielmehr arbeitet Kühnl die eigenständige Rolle des Faschismus heraus.

Die Neuauflage des Bandes ermöglicht einen Einblick in die sehr wohl produktiven Debatten der Faschismusdiskussion dieser Zeit und ist als Hintergrund einer marxistischen Bewertung heutiger Debatten, wie sie vor allem im angelsächsischen Raum geführt werden, äußerst instruktiv.

Gerd Wiegel

EU: Spaltende Integration

Steffen Lehndorff (Hrsg.), Spaltende Integration. Der Triumph gescheiterter Ideen in Europa – revisited. Zehn Länderstudien. 350 Seiten, VSA Verlag, Hamburg 2014, 24,80 Euro

Wer mag noch ein Buch über die Krise lesen, wo sie doch nach 2008 zur Regel geworden ist? Denn abgesehen von Deutschland, wo scheinbar alles wieder im grünen Bereich pendelt, schlingert die EU von einer Krise in die andere. Auf der Oberfläche erscheinen sie als solche der Regierungen oder der europäischen Institutionen, bei näherem Hinsehen jedoch als unbewältigte ökonomische Verwerfungen eines Wirtschaftsraumes, der nicht nur an einer gescheiterten Idee festhält, sondern auch an einem gescheiterten Integrationskonzept. Da kommt ein Buch zur rechten Zeit, das in zehn sehr präzisen Länderstudien zeigt weshalb und auf welche Weise die Integration in den Mitgliedsländern zwischen Stockholm und Athen aus dem Ruder läuft. Es ist das zweite Mal nach der großen Krise, dass ein europäisches AutorInnenteam um Steffen Lehndorff zehn Länderstudien vorlegt, die für GewerkschafterInnen, Arbeits- und SozialpolitikerInnen eine ebenso detaillierte wie kompakte Innenansicht der verschiedenen EU-Länder anbietet. Ging es bei der ersten, 2012 erschienenen Studie mit dem Titel „Ein Triumph gescheiterter Ideen“ noch um die unmittelbaren Verlaufsformen und Folgen der Krise, so geht es im neuen Band um die Umrisse eines unaufschiebbaren Kurswechsels, der allein das Auseinanderbrechen der Währungsunion verhindern könnte, es geht vor allem um die Probleme und alternativen Lösungen der höchst verschiedenen Länder. Obwohl es nicht an kritischen Analysen der Verwerfungen auf EU-Ebene mangelt, besteht der große Vorteil dieses Bandes darin, dass er zwar auf der europäischen Ebene mit interessanten Beiträgen beginnt, dann aber mit seinen Länderstudien in die Tiefe geht. Das ist schon deshalb von besonderem Wert, weil die Länderstudien die gravierenden Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten aufdecken, welche in der üblichen Berichterstattung zur EU-Politik kaum in Erscheinung treten. Und nichts belegt die „Spaltende Integration“ besser, als das konkrete soziale, politische und gewerkschaftliche Geschehen in diesen Ländern. So wird vor allem eines sichtbar: Es gibt keine Medizin die bei allen auf die gleiche Weise wirkt, egal wer sie auch anrührt und verabreicht. Nur eines ist sicher, diese Unterschiede werden nur dann kein Hindernis mehr sein, sondern die positive Eigenart der Mitgliedstaaten bewahren, wenn sich der Integrationsmodus ändert. Das Gift der Sparpolitik und des Austeritätskurses behindert vor allem jene Länder in ihrer Entwicklung, die vor dringenden Strukturveränderungen stehen.

In seinem Einleitungskapitel fasst Lehndorff zunächst einmal die mit den Maastricht-Kriterien festgezurrten Konstruktionsmängel der „Konkurrenzunion“ zusammen, die das Euro-Gebäude 2010 fast zum Einsturz brachten, obwohl hinter dem auslösenden Faktor des Desasters, nämlich der nach oben korrigierten Staatsschuld Griechenlands, ein Land stand, das damals nur 1,8 Prozent zur EU-Wirtschaftsleistung beisteuerte. Kein Spekulationsangriff hätte den Euro in Gefahr bringen können, wäre der gegenseitige Beistand der Euro-Länder in Maastricht nicht ausdrücklich verboten worden. Doch der Fluch der blöden Tat konnte Blödes nur gebären, als mit der vor allem von Deutschland verordneten Rezeptur versucht wurde, die Wirtschafts- zu einer „Stabilitätsunion“ zu erheben. Seit dem „hat das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur in vier der im vorliegenden Buch analysierten Länder das Vorkrisen-Niveau wieder erreicht oder übertroffen.“ (15) Dieser Rückblick ist zusammen mit Lehndorffs Kapitel zur „neuen Karriere des Modell Deutschland“ (131) insofern besonders lesenswert, weil er nicht nur die Fakten für die überfällige Revision der europäischen Austeritätspolitik liefert, sondern auch für die politische Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Bundesregierung. Denn was Merkel & Co als Erfolgsmodell verkaufen möchten, verdankt sich nicht nur einer Politik, die im eigenen Land mit stagnierenden Arbeitseinkommen und der Aufblähung des Niedriglohnsektors bezahlt wurde, sondern dieses Modell speist sich auch aus der Not anderer. Einerseits bremst die deutsche Binnenmarktschwäche deren Exporte aus und andererseits kann sich der deutsche Staat auf Grund der Schuldenkrise seiner Nachbarn „real zum Nulltarif“ verschulden. (151) Auch die berechtigte Klage über die den deutschen Exportüberschuss muss eigentlich umformuliert werden: „Deutschland importiert zu wenig“. (93)

Natürlich werden sich die meisten zunächst für die Länderstudie Griechenlands, gewissermaßen den Brandherd der Staatsschuldenkrise interessieren. Der Beitrag belegt aber zunächst einmal wie hoffnungsvoll sich die Entwicklung vor der Krise entwickelte, als Griechenland nach den Iren die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der Eurozone war.(83) Zeigt dann aber auch die inneren Probleme auf, die der Staatsverschuldung einen enormen Aufschwung verliehen. Aber erst die dann verordnete Schocktherapie mündete in die griechische Tragödie. In seiner Hauptaussage am überraschendsten ist der Beitrag über Irland, dem es überraschenderweise gelang, den sozialen Zusammenbruch zu verhindern und wo der Gini-Koeffizient trotz allgemein sinkender Einkommen sogar leicht zurückging. Auch in Österreich konnte in der Krise eine leichte Reallohnsteigerung durchgesetzt werden. Ganz anders Spanien, wo „die Kluft zwischen den Einkommen der unteren 20% in Einkommensskala (…) um fast 30% größer geworden“ ist. (60) Wozu auch noch die extrem gestiegene Jugendarbeitslosigkeit kommt, unter der auch Italien zu leiden hat (70) und Frankreich einen traurigen Rekord erreichte. (71) Jugendarbeitslosigkeit und zunehmende Präkarisierung sind die Konstante fast aller Länderstudien, doch damit hören die Gemeinsamkeiten fast schon auf. Sämtliche Länder, vor allem auch Frankreich, haben zwar gravierende Strukturprobleme, letztlich aber doch sehr unterschiedliche. Der düstere Ausblick insgesamt: Diese Probleme werden sich bei Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Integrationsmodells weiter zuspitzen.

Harald Werner

Streikberichte aus China

Hao Ren u.a. (Hrsg.), Streiks im Perlflussdelta. ArbeiterInnenwiderstand in Chinas Weltmarktfabriken. Herausgegeben und übersetzt von Ralf Ruckus, mandelbaum Verlag, Wien 2014, 186 S., 16,90 Euro.

Über die industriellen Beziehungen Chinas, die Reformbestrebungen der letzten Jahre und die diversen jenseits der gesetzlichen Schlichtungsinstanzen ausgetragenen Arbeitskonflikte liegt mittlerweile einiges an Literatur vor. Doch übersetzte Interviews, Berichte und O-Töne der chinesischen Arbeiter selbst sind dabei vergleichsweise selten. Das Buch enthält Streikberichte und Interviews, die chinesische Betriebsaktivisten in verschiedenen Industriebetrieben durchgeführt haben und in denen die (Wander-)Arbeiter selbst zu Wort kommen. Die Berichte dokumentieren die Ansprüche chinesischer (Wander-)Arbeiter an Lohnarbeit, die Spaltungslinien in der Belegschaft, sowie die Organisation des Alltags vor, während und nach dem Arbeitskampf. Für die wissenschaftliche und politische Diskussion der konfliktiven Entwicklung des chinesischen Lohnarbeitsverhältnisses bieten die Berichte somit einiges interessantes Material.

Die insgesamt 13 ins Deutsche übersetzten Interviews sind zwischen 2010 und 2011 von chinesischen Betriebsaktivisten durchgeführt und im Selbstverlag veröffentlicht worden. Sie folgen einem primär aktivistischen Erkenntnisinteresse und sollen Streikerfahrungen der vergangenen 20 Jahre bündeln und anderen chinesischen Arbeitern zugänglich machen. Die Interviews sind in drei thematische Abschnitte (Kämpfe gegen Fabrikschließungen, Kämpfe gegen Lohnsenkungen, Kämpfe für Lohnerhöhungen) zusammengefasst, die nach Ansicht der chinesischen Herausgeber die drei wesentlichen Motive der Streiks abbilden. Den Großteil der Arbeitskämpfe würden laut Aussage der Herausgeber Kämpfe gegen Lohnsenkungen ausmachen. Den Berichten ist ein einleitender Text über die „Restauration des Kapitalismus in China“ (12) voran gestellt, der die Arbeiterproteste an Chinas Ostküste ab 1990 in vier Phasen unterteilt (1992–2003, 2004–2007, 2008–2009 und 2010 bis heute) und der Charakteristika wie auch die wichtigsten Akteure der Phasen heraus stellt. Die chinesischen Herausgeber kritisieren NGOs, Medien, Arbeitsrechtler und Sozialwissenschaftler für einen mitunter beschränkten oder instrumentellen Zugang zu den Arbeiterprotesten.

Der Großteil der geschilderten Arbeitskämpfe ist defensiv und entzündet sich an alltäglichen Missständen und Unrechtserfahrungen. Die Streikursachen reichen von vorenthaltenen Löhnen, gewalttätigen Gruppenleitern bis zu miserablen hygienischen Zuständen. Meist hängt die Mobilisierung zum Arbeitskampf an Einzelnen, die Betriebserfahrung haben und über genug Kontakte und Ansehen verfügen, um die Kollegen zum spontanen Widerstand animieren zu können. Viele von ihnen besetzen auch Schlüsselpositionen des Produktionsprozesses. Besonders spannend ist daher ein Kapitel, das Gespräche mit ehemaligen Streikanführern versammelt.

Die Protestformen folgen oft auch dem Wunsch, sich eine Pause von der harten Arbeit zu verschaffen: So werden Streikversammlungen und Straßenblockaden mitunter zum Picknick oder zum gemeinsamen Spaziergang oder Singen genutzt. Sie sind kein durchritualisierter Ausstand, sondern werden als Chance gesehen, „einige Tage Urlaub zu machen, sich auszuruhen und Luft zu holen“ (70).

Die Schwächen der spontanen Organisierung werden dann spätestens in der Kommunikation mit den Unternehmensvertretern deutlich. Werden die Arbeiter aufgefordert, dem Management ihre Forderungen vorzubringen, müssen diese besprochen und Vertreter delegiert werden. Einige der Streiks scheitern daran. Teilweise werden Delegierten auch isoliert und entlassen, mitunter werden sie bestochen und unter Druck gesetzt, um die Streikenden zu spalten. „Kommunikation und Vertrauen“ (119) sind dabei die größten Probleme, wie ein Arbeiter berichtet.

Ein wiederkehrendes Motiv in den Berichten der Arbeiter ist auch die Betonung regionaler Herkunft. Sie ist eine Quelle gemeinsamer Identität, kann aber auch spaltend wirken. Auch das Alter spielt eine Rolle sowohl für die formulierten Ansprüche an Lohnarbeit als auch die Bereitschaft zum Protest.

Die Rolle der Arbeitsbehörden und des All-Chinesischen Gewerkschaftsbundes (ACGB) wird unterschiedlich beschrieben. In einigen Fällen handeln die Behörden im Sinne der Streikenden und zahlen bspw. ausstehende Löhne. Ähnlich der ACGB, dessen Vertreter z.T. aber auch unternehmerfreundlich handeln und Streiks für illegal erklären. Die Berichte bestätigen damit den politisch heterogenen Charakter der Arbeitsbehörden und Gewerkschaften, der in der Literatur über Chinas industrielle Beziehungen beschrieben wird – hier allerdings „von unten“ und aus der unmittelbaren Erfahrung der Arbeiter.

Die im Buch versammelten Berichte sind lebhafte Schilderungen des Alltags einer jungen und kampfbereiten Arbeiterschaft in den industriellen Zentren des südöstlichen Chinas. Sicher stellen auch sie letzten Endes nur einen Ausschnitt dar, jede Textauswahl ist letztlich selektiv. Den Wert der hier ins Deutsche übersetzten Erfahrungsberichte schmälert das nicht. Für einen politisch wie auch wissenschaftlich interessierten Einblick in Chinas Arbeitskämpfe vor, jenseits oder unterhalb der staatlichen Institutionalisierung von Lohnarbeit sind sie sehr gut geeignet.

John Lütten

Transformationsstrategie der Linken – Vorschläge

Michael Brie (Hrsg.), Futuring. Perspektiven der Transformation im Kapitalismus über ihn hinaus, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2014, 435 Seiten, 39,90 Euro

Ein tiefer Widerspruch prägt die politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Verhältnisse der kapitalistischen Länder. Einerseits wird es immer notwendiger, den Kapitalismus zu verändern, andererseits stagniert die reale gesellschaftliche Entwicklung und die vorherrschende neoliberale Politik führt sogar zu Rückschritten auf Gebieten, die für das Leben der Menschen wichtig sind. Dieser Widerspruch trifft auch die Konzepte der Linken zur Transformation all der Verhältnisse, die einem menschenwürdigen Leben für alle und einer zukunftsfähigen Entwicklung entgegenstehen. Im linken Diskurs spiegelt er sich u.a. darin wider, dass die Literatur zur Transformationsproblematik zwar stark zugenommen hat, Fortschritte in der Politik der Linken und in der Bereitschaft der Menschen, sich für notwendige Veränderungen zu engagieren, aber nur gering sind oder sogar fehlen.

In dieser Situation kommt dem vorliegenden Buch eine wichtige Rolle zu. Es ist nicht einfach eine weitere Publikation zum Thema Transformation, da es die genannten Widersprüche nicht nur aufgreift und gründlich analysiert, sondern auch vielfältige und teilweise neue Sichtweisen und Überlegungen bietet, die zu Lösungsansätzen führen. In dem Band sind Beiträge von 14 Autorinnen und Autoren enthalten, die in der linken wissenschaftlichen Community für ihre Untersuchungen bekannt sind: Ulrich Brand, Lutz Brangsch, Michael Brie, Mario Candeias, Erhard Crome, Judith Dellheim, Alex Demirovic´, Frigga Haug, Bob Jessop, Dieter Klein, Horst Müller. Rolf Reißig, Rainer Rilling, Michael Thomas.

Durch die meisten Beiträge zieht sich der Grundgedanke der „doppelten Transformation“. Klein schreibt hierzu: „Die realistische Annahme, dass eine zweite Große Transformation zu einem demokratischen grünen Sozialismus schon mitten in einer systeminternen postneoliberalen bürgerlichen Transformation erste Konturen gewinnen wird, macht einen so erwarteten Sozialismus zu einer irdischen Angelegenheit für alle, die heute, in absehbarer Zeit und nicht irgendwann, von einer linken Politik vor allem soziale und ökologische Verbesserungen ihrer Arbeits- und Lebenswelten erwarten, lange bevor der Kapitalismus zu Ende geht.“ (121) Aus einem solchen Konzept könnten auch Grundlagen für eine breitere Bündnispolitik entstehen. Mehrere Beiträge machen deutlich, dass die Umsetzung dieser Konzepte noch erheblicher Anstrengungen bedarf. Dellheim weist darauf hin, dass sich diejenigen, die sich für eine sozialökologische Transformation einsetzen, in einer „strukturellen gesellschaftlichen Defensive“ befinden (332).

Ein Vorzug des Sammelbandes besteht darin, dass er im Vergleich zu anderen Veröffentlichungen zum Thema Transformation den veränderten Bedingungen und neuen Herausforderungen für den Inhalt und die Durchsetzung von Reformvorstellungen, die mit der Internationalisierung und der Herausbildung einer globalen Welt entstehen, stärker Rechnung trägt. Allerdings halte ich es für notwendig, die qualitativ veränderten globalen Verflechtungen und Abhängigkeitsverhältnisse und die Nord-Süd-Problematik stärker als bisher in den Transformationsdiskurs zu integrieren, insbesondere mit den Konsequenzen für die Art und Weise eines Übergangs zu einer neuen emanzipativen, sozial gerechten und grünen Gesellschaft.

In den Beiträgen wird dargelegt, dass die Ausarbeitung einer modernen, realistischen Transformationsstrategie ein kreatives und innovatives Herangehen voraussetzt, um die Ziele und die Wege dorthin zu bestimmen. Die Autoren stellen diese Forderung jedoch nicht nur an die Politik, sondern praktizieren sie zum großen Teil auch in ihren eigenen Beiträgen.

Die vorliegende Literatur wurde sehr umfassend ausgewertet – die Literaturverzeichnisse am Ende der Beiträge umfassen mehr als 40 Seiten. Die Literatur wird jedoch nicht nur auszugsweise zitiert und kritisch interpretiert, sondern schöpferisch verarbeitet, häufig auch als Anregung für neue und weitergehende Gedanken genutzt.

Die Zahl vier scheint im Buch eine besondere, fast symbolische Rolle zu spielen. In der Hälfte der Beiträge kommt jeweils vier Bereichen, Sphären, Leitideen oder Prozessen eine herausgehobene Rolle zu. Ich will sie hier nennen, um wichtige Grundgedanken der jeweiligen Autoren knapp zu charakterisieren.

Frigga Haug bezieht sich auf das von ihr vor mehreren Jahren entwickelte Konzept der „Vier-in-einem-Perspek-tive“ als eine „Utopie von Frauen, die eine Utopie für alle ist“ und das zu einem wichtigen Transformationsprojekt der Linken entwickelt werden könnte. (179) Die vier Bereiche (Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, ehrenamtliche politische Arbeit und Tätigkeiten zur eigenen persönlichen Entwicklung) gehören zusammen. An diesem Projekt wird auch deutlich, an welche Errungenschaften des Kapitalismus sich anknüpfen lässt, wie hohe Arbeitsproduktivität, Verkürzung der Arbeitszeit, welche Reformen im Kapitalismus noch möglich sind und wie die Utopie in einer nicht vom Kapital beherrschte Gesellschaft zur Realität werden kann.

Dieter Klein begründet mit vier Leitideen entscheidende Züge einer doppelten Transformation:

- Gerechte Umverteilung von Lebenschancen und Macht – anstelle wachsender Kluft zwischen Reichtum und Armut;

- sozialökologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft – statt zunehmender Bedrohung ihrer Naturgrundlagen;

- demokratische Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft – anstelle fortschreitender Erosion der Demokratie;

- umfassende Solidarität und Friedenssicherung – anstatt Egoismus, Verdrängungskonkurrenz und Gewalteskalation.

- Nur in Wechselwirkung dieser ‚vier U’ sei eine emanzipatorische Transformation vorstellbar. (112)

Michael Brie greift für eine differenzierte Analyse des Reichtums die „Vier-in-einem-Perspektive“ auf. Er unterscheidet vier Sphären des Reichtums: natürlicher Reichtum, gesellschaftlicher Reichtum, sozialer Reichtum und kultureller Reichtum. Daraus leitet er Schlussfolgerungen für eine neue Art des Kampfes um den Reichtum, seine Produktion und Verteilung in einem Transformationsprozess ab. Die Verknüpfung der sozialen Kämpfe auf den vier Feldern der Reichtumsproduktion stellt neue Anforderungen an eine realistische Transformationsstrategie der Linken und eröffnet zugleich neue Perspektiven für Erfolge im Kampf um soziale Gerechtigkeit und einen sozial-ökologischen Umbau. (201f.)

Mario Candeias beschreibt in seinem Beitrag vier widerstreitende Szenarien grüner Transformation: den Autoritären Neoliberalismus, den Grünen Kapitalismus, den sozial-libertären Green New Deal und die sozial-ökologische Transformation/grüner Sozialismus. Für jedes dieser Szenarien werden die sozial-ökologischen Konsequenzen, die ökonomischen Widersprüche und die politischen Konsequenzen benannt. Bei der Charakterisierung der sozial-ökologischen Transformation spielen Interessenunterschiede und Widersprüche und die möglichen Wege ihrer Lösung eine wichtige Rolle. Die Transformation muss auf den Übergang zu einer „grün-sozialistischen Reproduktionsökonomie gerichtet sein“. (303-317)

Judith Dellheim hebt im Ergebnis ihrer Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus einen „Vier-plus-zwei-Zusammenhang“ hervor: „Das Quartett aus Energiewirtschaft, Transport, Agrobusiness, MIK/Sicherheitsbereich organisiert den stofflich energetischen Zusammenhang. Die öffentlichen Finanzen wie die Finanzindustrie dominieren den Gesamtprozess der Kapitalverwertung, und der high-tech Bereich stellt jene Technologien, die zur Grundlage der globalisierten Produktions-, Reproduktions- und Lebensweisen geworden sind.“ (339)

Erhard Crome untersucht in seinem Beitrag u.a. den Rahmen gesellschaftlicher Transformationsprozesse und nennt hierfür vier Problemkomplexe:

- „Was ist das internationale Umfeld für einen (nationalstaatlichen oder regionalen) Transformationsprozess mit sozialistischer oder zumindest partizipativer Ausrichtung?“ (393)

- Die Gegenkräfte der Transformation und deren Stärke. (394)

- Die Frage nach der „Unumkehrbarkeit gesellschaftsverändernder Entwicklungen, die den oligarchischen Interessen der herrschenden Eliten zuwiderlaufen ...“. (395)

- „...die Gewaltfrage in der jeweiligen Gesellschaft und in ihrem Verhältnis zu anderen Gesellschaften und Staaten.“ (395)

Insgesamt handelt es sich um einen sehr lesenswerten und anregenden Sammelband, der auf umfangreichen und gründlichen Analysen beruht. Er enthält ein sehr breites Spektrum von Problemen, Widersprüchen, Lösungsvorschlägen, deren Beachtung für die notwendige Transformation des Kapitalismus wichtig ist. In ihm werden neue Fragestellungen, deren Antworten noch offen sind, mit vorliegenden gesicherten Erkenntnissen verknüpft. Er kann damit auf diesem Politikfeld auch zu einem konstruktiven Verständigungsprozess in der Mosaik-Linken beitragen.

Klaus Steinitz