Buchbesprechungen

Gleichheit als Königsweg

von Anna Thalmann zu Wilkinson/Pickett
März 2011

Richard Wilkinson/Kate Pickett, Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Haffmans & Tolkemitt (bei Zweitausendeins) Berlin 2009, 320 S., 19,90 Euro

Die beiden britischen Epidemiologen Kate Pickett und Richard Wilkinson haben sich während langjähriger Recherchen auf die Suche nach Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensqualität in modernen Gesellschaften gemacht. Herausgekommen ist eine imposante Sammlung statistischer Erhebungen, die allesamt aussagen: Mehr Gleichheit bringt allen etwas – den Bedürftigen wie den Wohlhabenden. Unpassend und irreführend ist jedoch der deutsche Titel: Dass Gleichheit Glück bringen soll oder gar gleichbedeutend ist mit Glück, besagt die Untersuchung keineswegs. Zwar stellen Wilkinson und Pickett durchaus internationale Vergleiche an, wie viele Menschen sich in welchen Ländern als „glücklich“ bezeichnen. Dennoch weisen sie darauf hin, dass diese Aussage stark von der Kultur des jeweiligen Landes abhängt. Der englische Originaltitel The Spirit Level. Why More Equal Societies Almost Do Better ist wesentlich bescheidener und gleichzeitig aussagekräftiger.

Das Ausmaß der Ungleichheit messen die beiden Autoren anhand des Einkommensgefälles der reichen Industriegesellschaften. Dabei wird beim Ländervergleich jeweils das Verhältnis des Einkommens der unteren 20% zu den oberen 20% verwendet und für das Ungleichverteilungsmaß der einzelnen US-Bundesstaaten der in den Wirtschaftswissenschaften gebräuchliche Gini-Koeffizient. Diese wie alle anderen im Buch verwendeten Daten – Pickett und Wilkinson werden nicht müde, dies zu betonen – stammen von anerkannten Institutionen: von den Vereinten Nationen, der Weltbank, der WHO oder der OECD. Als erstes wird festgehalten, dass wirtschaftliches Wachstum in den reichen Ländern kaum mehr zur Verbesserung unserer Lebensqualität beiträgt. Soll heißen: Im Vergleich der reichen Länder zeigt ein Land, das doppelt so reich ist wie ein anderes, keine höhere Lebenserwartung seiner Bevölkerung. Die Sterbeziffer innerhalb der einzelnen Länder lässt einen deutlichen Zusammenhang mit der Einkommensungleichheit erkennen. Auf jedem sozialen Niveau ist ein höheres Einkommen mit einer tieferen Sterbeziffer verbunden. Die Frage, die sich die beiden Forscher deshalb stellen, lautet: Welche Folgen hat die Einkommensungleichheit innerhalb einer Gesellschaft?

Neben dem seit Jahren bekannten Phänomen, dass gesundheitliche Probleme und Gewalt vor allem in Gesellschaften mit hoher sozialer Ungleichheit vertreten sind, suchen die AutorInnen nach weiteren vergleichbaren Daten zum Gesundheitswesen und zahlreichen sozialen Problemen, um eine Korrelation dieser Probleme mit der Einkommensungleichverteilung zu prüfen. Das Ergebnis fällt aus wie erwartet: Je höher die soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft, desto weniger vertrauen sich ihre Mitglieder gegenseitig, desto schlechter fallen die schulischen Leistungen der Kinder aus, desto häufiger treten Teenager-Schwangerschaften, psychische Erkrankungen und Selbstmorde auf und desto höher ist die Zahl der Säuglingssterblichkeit, der Gefängnisstrafen und der Menschen, die an Übergewicht leiden. Ebenso führt eine Öffnung der Einkommensschere zu einer Verhärtung der sozialen Strukturen, wodurch die Chancen für einen sozialen Aufstieg verringert werden. Durchweg positive Werte erlangt in allen Kriterien Skandinavien, während sich die USA und Großbritannien mit der größten Einkommensungleichheit jeweils die hinteren Plätze teilen. Dies, genauso wie Deutschlands Positionierung im Mittelfeld, wird kaum jemanden überraschen.

All jene Korrelationen von Einkommensungleichheit und gesundheitlichen sowie sozialen Problemen weisen Pickett und Wilkinson anhand von einleuchtenden Diagrammen nach, wobei die angenehm eingängigen und mit vielen Beispielen versehenen Interpretationen und Erläuterungen des präsentierten Datenmaterials den Großteil der Studie ausmachen.

Auffällig ist, dass sich die AutorInnen ihre im Vorwort geäußerten Bedenken, neue Erkenntnisse in den Naturwissenschaften würden sich schneller durchsetzen als in den Sozialwissenschaften, anscheinend sehr zu Herzen genommen haben. Immer wieder werden zu den Datensammlungen, die im Prinzip stichhaltig genug wären und keiner weiteren Beweisführung bedürften, medizinische Erkenntnisse angefügt: So führe zum Beispiel Ungleichheit zu mehr Stress, was die Ausschüttung des Hormons Kortisol verstärke, oder die Mitglieder von gerechteren Gesellschaften würden von einer höheren Konzentration des Glückshormons Dopamin profitieren. Etwas arg in das biologistische Fahrwasser gerät das Ganze, wenn Wilkinson und Pickett den eigentlich „von Natur aus“ vorhandenen Drang des Menschen nach gesellschaftlicher Gleichheit evolutionsbiologisch damit begründen, dass unsere DNA im Sexual- und Sozialverhalten eher jener der „liebenden und teilenden“ Bonobos als jener der hierarchieorientierten Schimpansen ähnelt. Es bleibt die Frage, warum die Autoren ihrer Leserschaft nicht zutrauen, sich auch von rein sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen überzeugen zu lassen.

Zurückhaltend formuliert fällt zunächst der hintere Teil des Buches mit der Überschrift „Eine bessere Gesellschaft“ aus, in dem die gesellschaftlichen Konsequenzen aufgezeigt werden, die aus den Ergebnissen zu ziehen sind. Mehrmals betonen Wilkinson und Pickett, keinesfalls ein politisches Programm entwerfen oder gar zur Revolution aufrufen zu wollen. Im Allgemeinen scheint die Studie darum bemüht, möglichst massentauglich zu erscheinen – das Zugeständnis, dass bereits die „Frühsozialisten […] materielle Ungleichheit als Hindernis auf dem Weg zur allgemeinen Harmonie der Menschheit, zu einer universellen Brüderlichkeit, Schwesterlichkeit oder Genossenschaftlichkeit“ sahen und „damit nicht falsch lagen“ (68), sowie die Betonung, dass sich ausgerechnet Kuba als einziges Land erweise, das eine Lebensqualität über dem Human Development Index mit einem global nachhaltigen ökologischen Fußabdruck verbindet, erscheinen in Anbetracht der sonstigen Zurückhaltung beinahe schon brisant.

Und trotzdem werden die Vorschläge für mehr Gleichheit klar ausgesprochen: Nachträgliche Umverteilung durch redistributive Steuern und wohlfahrtsstaatliche Zuwendungen nach dem skandinavischen Modell oder eine Angleichung der Bruttoeinkommen wie in Japan werden – ebenso wie das Votum gegen jegliche politische Programme mit geringen Steuern und geringen öffentlichen Ausgaben – mehrmals hervorgehoben. Betriebliche Mitbestimmung, Stärkung der Gewerkschaften und Anteilseignerschaft von ArbeitnehmerInnen böten, so Wilkinson und Pickett, nicht nur Raum für soziale Emanzipation, sondern ermöglichten eine demokratische Kontrolle der Einkommensungleichheit sowie eine Umverteilung des Reichtums und würden produktivitätssteigernd wirken. Mehr Einkommensgleichheit würde schließlich eine Wirtschaft ohne Wachstum zugunsten einer sozial- und umweltpolitischen Nachhaltigkeit ermöglichen, da Wachstum als eine Ersatzdroge für Einkommensungleichheit wirkt und Konsum vor allem durch die Konkurrenz um den sozialen Status angetrieben wird.

Die Studie profitiert ungemein von ihrer durchdachten Strukturierung und sprachlichen Klarheit. Das Votum für eine gerechtere Gesellschaft wird einleuchtend begründet und stützt sich auf beeindruckendes Datenmaterial, so dass Wilkinsons und Picketts Untersuchungen durchaus als wertvolle Argumentationshilfe dienen können. Und dennoch kommt man bei aller Bemühung um wissenschaftliche Objektivität und Zurückhaltung der Autoren nicht darum herum, als politisch links denkender Mensch zu fragen: Haben wir das nicht immer schon gesagt?

Anna Thalmann