China-Studien

Nachbetrachtung des chinesischen großen Widerspruchs

Anmerkungen zum Argument-Heft „Schönes Neues China"

von Helmut Peters
September 2013

„Schönes Neues China“ [1][1] ist nach 2006[2][2] das zweite Doppelheft, mit dem die Zeitschrift Das Argument dem Leser die Möglichkeit bietet, anhand einer losen Sammlung von Forschungsbeiträgen und Literaturberichten nationaler und internationaler Autoren Einblick in die gegenwärtige chinesische Problematik zu nehmen. Das Anliegen der Publikation benennt der Herausgeber in seinem einleitenden Editorial: Der von W.F. Haug bereits im Doppelheft von 2006 aufgedeckte „Große Widerspruch“ soll „neu besichtigt“ werden (33).

Wieso „Großer Widerspruch“? Haug konstatiert zunächst am Beispiel Chinas, wie zuvor der Sowjetunion, dass der Versuch, „über den Kapitalismus hinweg in die sozialistische Zukunft“ zu gelangen, historisch scheiterte. Er sieht Marx und Engels mit ihrer Auffassung im Recht, dass sich der Kapitalismus global ausbreiten wird und der Übergang zum Sozialismus nur in (kapitalistisch) entwickelten Ländern möglich ist. Daran schließt sich seine Auffassung an, dass sich in China in Auswirkung der Reform- und Öffnungspolitik „ein Hybrid aus kapitalistischer Struktur und parteikommunistischer Superstruktur, ein Doppelwesen“, entwickelt hat. Hier setzt seine These vom „Großen Widerspruch“ an. Er definiert ihn als „Verbindung einer kommunistischen Parteidiktatur mit einem nationalen und transnationalen Kapitalismus“, als eine „Ambivalenz von ‚Emanzipation und Regression’“, als einen „aus der Geschichte … zum Staat gewordenen Marxismus“, der „aus der kommunistischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts insgesamt verstanden werden“ müsse (53). Dieser Hybrid hätte China zum „Brennpunkt einer Entwicklung“ gemacht, „die sich anschickt, das Gesicht des 21. Jahrhunderts auf ganz andere und vielleicht desto nachhaltigere Weise zu prägen als die Russische Revolution das Gesicht des 20. Jahrhunderts“ (53/54). Haug gibt der linken China-Debatte mit seiner theoretischen Verallgemeinerung einen neuen, nachhaltigen Anstoß. Natürlich bleiben Fragen offen. So die, ob in China im Sinne von Marx und Engels überhaupt von der Diktatur einer kommunistischen Partei“ und einem „zum Staat gewordenen Marxismus“ die Rede sein kann. Ich werde nach der „Besichtigung“ der anderen Beiträge darauf zurückkommen.

Die Auslassungen über den „Großen Widerspruch“ lassen schon erwarten, dass die Publikation die Konturen unseres China-Bildes fasslicher machen wird. Eine Ausnahme ist für mich der Beitrag des Gastherausgebers Wolfram Adolphi, der zudem noch außerhalb des von ihm selbst gestellten Themas angesiedelt ist. Es beginnt eigentlich schon mit dem Titel des Heftes, dessen Poesie im offensichtlichen Widerspruch zum wissenschaftlichen Anliegen des Heftes steht. Es setzt sich fort im Editorial, in dem das ausgewählte Zitieren aus dem Tätigkeitsbericht der Regierung 2012 den Eindruck vermitteln kann, China befinde sich – zumal ohne größere Probleme – bereits auf dem besten Wege zu einem führenden Hochtechnologieland. Der Blick in eine mögliche Zukunft sollte jedoch die Sicht auf die ernsten Probleme und Widersprüche der Gegenwart nicht verdrängen. Offenbar neigt der Autor dazu, sich vieles anzulesen, ohne selbst die chinesische Realität genügend und unvoreingenommen zu untersuchen. Unverkennbar ist jedenfalls das Bemühen Adolphis, China auf jede Weise in ein „schönes“ Licht zu stellen. Diese Linie findet ihren Höhepunkt in seinem Beitrag „Nagelprobe China“. Hier äußert er sich in drei gesonderten Abschnitten über das angebliche „Versagen des Komintern-Internationalismus“ in den Beziehungen der KPdSU zur KP Chinas, über das „Versagen des Westens“ in den Beziehungen zur VR China und über die gegenwärtige „Nagelprobe“. Bei letzterer gehe es darum, das „gemeinsame Haus Welt“ zu schaffen, indem die „alles bedrohende Konkurrenz überwunden“ wird und es „ums Teilen“ geht (49/50). Beziehungen sind bekanntlich immer wechselseitig, warum werden sie nicht in diesem Sinne angegangen? Es fällt jedenfalls auf, dass die Haltung des Autors gegenüber der Sowjetunion, der Hauptmacht der damaligen sozialistischen Gemeinschaft, in eine gegen deren Chinapolitik gerichtete, geradezu antisowjetische Position übergeht, die nationalistisch-großmachtchauvinistische Kräfte Chinas in ihrer Politik nur bestärken kann. Die Niederlage (im Text steht „Scheitern“) der internationalen kommunistischen Bewegung führt Adolphi auf die durchgängige Dogmatisierung der sowjetischen Erfahrungen und der angeblich ununterbrochenen sowjetischen Bevormundung der KP Chinas zurück. Zweifelsohne gab es diese Elemente in der sowjetischen Politik, zeit- und teilweise sogar recht massiv. Der Autor zeichnet die Geschichte der Chinapolitik der KPdSU jedoch nicht nur einseitig, indem er die sowjetische Seite allein für die Probleme verantwortlich macht und diese Geschichte schwarz in schwarz malt. Er verzerrt die Geschichte dieser Beziehungen. Weshalb hat sich denn Mao 1949 für das Bündnis mit der Sowjetunion entschieden? Gab es in den sowjetisch-chinesischen Verhandlungen Anfang 1950 nicht eine einvernehmliche Lösung der strittigen Probleme aus dem ungleichen Vertrag zwischen der UdSSR und China von 1945? Wäre die Absicherung und ökonomisch-technische Entwicklung der jungen Volksrepublik ohne die umfassende und zum Teil uneigennützige Hilfe der Sowjetunion denkbar gewesen? War es nicht so, dass die sowjetische Seite der KP Chinas nahe legte, bei der Abfassung des ersten Fünfjahrplans nicht die Sowjetunion zu kopieren, sondern die eigenen nationalen Bedingungen stärker zu berücksichtigen? Die Reihe dieser Beispiele ließe sich fortsetzen. Adolphi ergreift hier einseitig und unbesehen Partei für die chinesische Seite, vor allem für Mao Zedong, ohne auch nur andeutungsweise ihre objektive Rolle in der globalen Klassenauseinandersetzung jener Zeit zu berücksichtigen. Gab es nicht beispielsweise Anfang der 1970er Jahre massive chinesische Bestrebungen, die imperialistischen Kräfte Westeuropas in eine noch stärkere, möglichst „heiße“ Konfrontation mit der DDR und der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft zu treiben? Der Autor reiht sich mit seiner Darstellung der Geschichte in den Kreis jener linken Kräfte ein, bei denen es Mode geworden ist, die damaligen Auseinandersetzungen in der internationalen kommunistischen Bewegung allein in einen Kampf zwischen der KPdSU und der KP Chinas umzudeuten. Seine Kritik am damaligen Kampf gegen die „kulturevolutionäre“ Politik Mao Zedongs und ihre internationalen Aspekte spekuliert auf Unkenntnis der geschichtlichen Tatsachen und der verheerenden Wirkung dieser Politik Maos; unseriös ist seine damit verbundene Behauptung, damit wäre „das Versagen des Komintern-Internationalismus endgültig“ manifestiert worden (40). Der westliche Imperialismus hingegen kommt bei Adolphi letztlich glimpflich davon. Er bescheinigt ihm in Gestalt der USA, dass er seine „langwährende Nagelprobe“ am Ende durch die Herstellung einer partnerschaftlichen Beziehung mit China in den 1970er Jahren „von allen Seiten bestanden“ zu haben scheint (46). Hier wäre eine sachliche und ausgewogene Betrachtung der historischen und zeitgenössischen Entwicklung angezeigt.

In einem gedanklich anregenden Beitrag untersucht W. F. Haug die „Herr-Knecht-Dialektik in Chimerika“. Am Beispiel der ökonomisch-finanziellen Wechselbeziehungen zwischen der VR China und den USA während der letzten Jahrzehnte meint er, einen historischen Übergang der „geschichtsbildenden Kraft“ von den USA auf China entdeckt zu haben. Die anfängliche Schwäche Chinas in diesem ungleichen Tausch hätte sich schrittweise, zuletzt sprunghaft, in Stärke verwandelt, während die Kapazitäten der Hochlohnländer mit den USA an der Spitze, die benötigten Güter selbst herzustellen, geschrumpft wären und sie sich selbst deindustrialisierten. Der Aufstieg Chinas hätte zudem dazu beigetragen, dass die Lohnabhängigen der ganzen Welt heute „im Großen Widerspruch China gefangen“ sind; denn ihnen würden niedrige Preise winken, aber auf Kosten eines sinkenden Lohniveaus und sogar des Arbeitsplatzverlustes. Das Modell Chimerika (G 2) sieht Haug mit dem Ausbruch der Großen Krise infrage gestellt, obwohl die beiden großen Nationalökonomien auf einander angewiesen und miteinander verschränkt geblieben sind. Damit stellt sich für ihn die Frage nach der „Aushandlung der Weltordnungsverhältnisse“ neu (63).

Es steht außer Frage, dass sich das Kräfteverhältnis China-USA seit der Jahrhundertwende in einem rasanten Tempo zugunsten Chinas verändert hat. Bedeutet das aber schon, dass die bislang weitgehend erst quantitativen Veränderungen vor allem im ökonomischen Bereich (BIP) tatsächlich schon die vom Autor genannte qualitative Verlagerung der „geschichtsbildenden Kraft“ bewirkt haben? Selbst in China scheint man dazu trotz des deutlich gewachsenen internationalen Einflusses noch anderer Meinung zu sein. Es wäre auch die Frage zu beantworten, ob bzw. inwieweit eine solche Verlagerung den kapitalistisch-imperialistischen Charakter der heutigen globalen Ordnung verändern würde. Ein geopolitisches Chimerika ist von der chinesischen Seite meines Wissens nie angestrebt worden, dazu sind die Kerninteressen beider Mächte zu gegensätzlich. Das schließt eine (zeitweilige) Begegnung und kooperative Wahrnehmung bestimmter Interessen nicht aus. Für Beijing jedenfalls ist die multipolare Welt für die Verwirklichung der eigenen Ziele immer die wünschenswertere globale Kräftekonstellation geblieben.

Internationale Aspekte

I. Solty geht in seinem Beitrag über die China-Politik der USA davon aus, dass Obama das Ziel verfolgt, die aufsteigende Weltmacht China durch eine Politik der Eindämmung zu zwingen, sich in das von den USA dominierte Weltsystem zu integrieren. Dazu müsse er aber den sich verschärfenden Kon­flikt mit China unter Kontrolle halten. Obama könnte sein Ziel erreichen, es wäre aber auch möglich, dass China im Ergebnis der Vertiefung der Krise die USA als Weltmacht ablösen wird. Der Geschichte Chinas seit Maos Zeiten entnehme ich, dass sich dieses China niemals der Führung durch eine andere Macht unterordnen wird. K. G. Zinn stellt in seinem Vergleich zwischen China und Indien fest, dass ersteres „die günstigeren historischen Voraussetzungen für die Entwicklung zu einer modernen Gesellschaft im westlichen Sinne“ aufweist, d.h. im Vergleich zu Indien von der Geschichte sozusagen die stärkere Zukunftsfähigkeit geerbt hat. C. Jungbluth nennt in ihrem Beitrag über chinesische Investitionen in Deutschland drei Ziele der chinesischen Strategie, in den technologisch entwickelten westlichen Ländern zu investieren: Kompensierung des begrenzten Erfolges der Politik „Marktzugang im Austausch gegen Technologie“ zur Beschleunigung der technologischen Aufholjagd, Verschärfung der internationalen Konkurrenz und Entwicklung eigener Global Players nach dem Beispiel von Samsung, Siemens oder Toyota. Nach Meinung der Autorin gehört Deutschland aufgrund seiner Hochtechnologie zu den wichtigsten europäischen Standorten für chinesische Investitionen, wenngleich das Ausmaß noch gering sei. Immerhin nimmt China mit seinen Investitionen in der BRD nach den USA und der Schweiz bereits den dritten Platz ein. Die derzeitige Krise des deutschen Mittelstandes mit den billigen Preisen bietet China weitere günstige Einstiegsmöglichkeiten. Jungbluth verweist auf das große Interesse der deutschen Seite an chinesischen Kapitalanlagen, weil sie sich davon viele neue Arbeitsplätze erhofft. Der Beitrag von M. Ebenau und St. Schmalz über die Krisenreaktionen in Brasilien, Indien und China beruht auf der These, dass in einigen Ländern des Südens durch die Veränderung des Kräfteverhältnisses die „neoliberale Revolution“ neuen Formen kapitalistischer Vergesellschaftung weichen musste: Verstetigung der neoliberalen Transformation in Indien, deutlicher Umbruch (welcher Art?) durch die XII. Fünfjahresvorhaben in China und sichtliche Festigung des sozialdemokratisch orientierten Entwicklungsmodells in Brasilien. Diese Veränderungen würden jedoch keine dauerhafte „post-neoliberale“ Transformation einschließen (warum?). Alle drei Länder hätten durch die Weltwirtschaftskrise, vor allem durch die einbrechende Nachfrage aus den Zentren, schwer gelitten. Um die Folgen der Krise zumindest einzudämmen, wurden umfangreiche Konjunkturpakete geschnürt. Ich kann nur die Ausführungen zu China hinterfragen und kommentieren. Nach meinen Erkenntnissen setzte die Auseinandersetzung mit dem Einfluss des Neoliberalismus auf den Kapitalisierungsprozess angesichts der folgenschweren sozialen Auswirkungen für die Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse bereits nach dem Wechsel zur Regierung Hu/Wen 2002/03 ein. Die ohnehin schwierige Situation der mittleren und kleinen Unternehmen spitzte sich mit der Krise weiter zu; sie profitierten kaum vom Konjunkturpaket und hatten es sehr schwer, Kredite von den Staatsbanken zu erhalten. Kostenlose Basiskrankenversicherung? Trotz verstärkter Anstrengungen können die Grundbedürfnisse der Menschen in den Bereichen medizinische Versorgung, Bildung und Wohnungswesen bei Weitem noch nicht befriedigt werden. Zuzustimmen ist hingegen der Aussage, dass China wie die anderen beiden untersuchten Länder der BRICS-Gruppe im Unterschied zu der entwickelten kapitalistischen Welt in den letzten Jahren eine deutliche Aufwertung erfahren hat.[3][3]

Chinesische Binnenverhältnisse

Th. Heberer hebt in seinem Aufsatz „Zur gegenwärtigen politischen und sozialen Lage in China“ den allseitigen Fortschritt in der Entwicklung des Landes und der Lage der Menschen hervor, obwohl der „Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür in China noch nicht so recht angekommen“ sei (117). Die Führung habe sich als erfolgreicher Krisenmanager erwiesen. Der Autor markiert die Besorgnisse der Bevölkerung und die Auseinandersetzungen um die politische Reform unter den Eliten, sieht aber den „Parteistaat“ mit der zur Volkspartei mutierten KP Chinas aufgrund der insgesamt erfolgreichen Entwicklung von der Bevölkerung wie von den Eliten als weitgehend legitim unterstützt. Die große Mehrheit ziehe einen „graduellen politischen Wandel“ vor. Eine Demokratiebewegung sei kaum zu erwarten, „da die Intellektuellen eher konservativ seien und parteiorientiert argumentierten“ (125). Demokratie werde sich erst in Zukunft und dann nur schrittweise realisieren. Eine recht differenzierte Analyse, die die politische Entwicklung Chinas an den in Europa heute herrschenden Auffassungen und Erwartungen gegenüber China misst. Eine Reihe angeführter Fakten sind aus meiner Sicht zu hinterfragen. So liegt der gesamte öffentliche Schuldenstand durch das Konjunkturpaket (die Lokalregierungen eingeschlossen) nach halboffiziellen chinesischen Angaben bei weit über 60 Prozent des BIP.

Li Qiang ist einer der führenden chinesischen Soziologen und Direktor des entsprechenden Instituts an der elitären Qinghua-Universität. Seine Grundaussage über die neue Sozialstruktur in China deckt sich mit der offiziellen, bürgerlichen Positionen angenäherten Sichtweise, ohne jedoch die ernsten sozialen Probleme zu verschweigen. Aus einer politisch strukturierten sei eine ökonomisch strukturierte Gesellschaft mit neuen Beziehungen zwischen den Gesellschaftsschichten entstanden. Li sieht darin einen großen Fortschritt; denn in dieser Gesellschaft, in der alle zusammenwirken, wären auch alle Staatsbürger gleichberechtigt. Das eröffne für jedermann die Möglichkeit, durch eigene Anstrengung und eigene Wettbewerbsfähigkeit sozial aufzusteigen. Dieser Aufstieg führe über Bildung, Markt und Beamtenlaufbahn. Auch Li mythisiert den Markt. Das wichtigste Prinzip des Marktes sei „die Gerechtigkeit bei Chancen und Wettbewerb“ (139). Wenn sie vorhanden sind, könnten die Menschen die Unterschiede (gemeint sind wohl im Einkommen, im Vermögen und in der gesellschaftliche Stellung – H.P.) akzeptieren. In der sozialen Klassifizierung der „heute verschwommenen Klassengrenzen“ unterscheidet Li zwischen Oberklasse, Mittelklasse bzw. Mittelschicht und Unterklasse. Er stimmt der offiziellen Einschätzung zu, dass eine große Mittelschicht „eine wesentlich stabilisierende Kraft dieser Gesellschaft“ sein würde (138). Arbeiterklasse und werktätige Bauernschaft werden in ihrer objektiven Bedeutung auch bei Li nicht einmal erwähnt. Er findet jedoch deutliche Worte zur realen sozialen Situation in der heutigen chinesischen Gesellschaft. Ein großer Mangel des neuen Systems sei, dass Wanderarbeiter nicht die Chance haben, über ein Hochschulstudium in die Mittelschicht zu gelangen. Der Wettbewerb bringe starke und schwache Gruppen hervor, letztere würden deutlich zulegen. Hier sei das Gerechtigkeitsproblem noch nicht gelöst. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit stehe im Vordergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse. In der vergangenen „Wettbewerbsetappe“ war das Kapital Li zufolge „absolut im Vorteil“. Viele „Arbeitgeber“ würden die Rechte der Arbeiter trotz bestehender Gesetze verletzen. Derzeit würden die Lohnempfänger den größten Teil der Einkommenssteuer tragen, während der Anteil an Steuern aus Kapitaleinkünften auffallend gering sei.

Einen grundlegenden, in den Veröffentlichungen zu China leider oftmals vernachlässigten Aspekt untersucht S. Dieckmann: den nachwirkenden Einfluss der tief verwurzelten Strukturen und Traditionen der asiatisch-feudalen Gesellschaft des Landes auf das China der Reformen und Öffnung und ihre teilweise Revitalisierung am Beispiel des ländlichen Klansystems. Offenbar vermochte die KP unter Mao Zedong in den 1950er Jahren bei ihrem Versuch, aus vorwiegend vorkapitalistischen Verhältnissen direkt zum Sozialismus/Kommunismus überzugehen, das alte Klansystem zwar zu unterdrücken, aber es gesellschaftlich nicht zu entwurzeln. Die Autorin geht davon aus, dass mit der „Restaurierung der landwirtschaftlichen Haushaltsökonomie“ in der ersten Hälfte der 1980er Jahre eine deutliche Revitalisierung der mittelalterlichen Dorfstrukturen erfolgte. Vor allem die Unwägbarkeiten des Marktes wie der gesellschaftlichen Entwicklung hätten den Klan in seiner hierarchischen, konfuzianistisch geprägten Struktur der Großfamilie und mit seiner Ahnenverehrung wieder zu einer „sozial-emotionalen Heimat“ (149) werden lassen. Für Dickmann entwickelt sich der Klan zu einem „neuen Player“ in der politischen Landschaft des heutigen China, der der Partei an der Basis teilweise schon machtvoll entgegentreten würde. Sie sieht in diesem Phänomen ein Zeichen für die generelle „kulturelle Retraditionalisierung der chinesischen Gesellschaft“ (152).

Klassenbewusstsein

Anita Chan und Kaxton Siu bereichern mit ihrem Beitrag die bisherigen Untersuchungen zur Einschätzung des Bewusstseins der chinesischen Arbeiterklasse am Beispiel der Wanderarbeiter. Sie knüpfen an die von Marx getroffene Unterscheidung zwischen „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“ an und gehen davon aus, dass sich das Klassenbewusstsein unter den Proletariern nur in einem längeren historischen Prozess herausbilden kann. Untersucht wird das Thema anhand von Materialien über Proteste und Streiks der Wanderarbeiter in der Deltaregion des Perlflusses, Provinz Guangdong. Im Ergebnis unterscheiden sie in der Entwicklung des Klassenbewusstseins dieser Wanderarbeiter drei Etappen: ein Vor-Bewusstsein, das sich in vereinzelten Protesten gegen, insgesamt aber im Dulden ihrer Degradierung zu Zwangsarbeitern äußert (1980er Jahre bis 1993); eine Phase der „rechtsbasierten Proteste“ im Rahmen des Arbeitsgesetzes von 1994, das nicht von den Arbeitern erkämpft wurde, sondern auf einem Konsens der Elite zur Wahrung der gesellschaftlichen Stabilität beruhte (1994-2009); die Phase der „interessenbasierten Proteste“, die mit dem Streik im Honda Getriebewerk in Nanhai im Mai 2010 einsetzten und mit ihren Forderungen nach einem gerechten Anteil an der Einkommensverteilung über das „legale Minimum“ hinausgehen. Selbst in dieser Phase sei das „Gewerkschaftsbewusstsein“ (Gründung von Gewerkschaften) jedoch schwach ausgebildet geblieben. Der Kampf der Arbeiter wäre noch nicht über ihre unmittelbaren ökonomischen Sorgen hinaus geführt worden. Die Autoren ziehen aus ihren Untersuchungen eine weitere wesentliche Erkenntnis: „Der chinesische Staat fürchtet im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung am meisten, dass die ökonomischen Forderungen der Arbeiter zu politischen werden könnten.“ (204) Die politischen Eliten haben, heißt es, durch ihren „klassenlosen“ Diskurs im Sinne des Weberschen Ansatzes der sozialen Schichtung das Konzept der Klasse erfolgreich aus dem gesellschaftlichen Bewusst­sein gelöscht, und der Staat tut alles, um die Wanderarbeiter nicht ideologisch zu einem Klassenstandpunkt zu inspirieren. Das Klassenbewusstsein unter den chinesischen Wanderarbeitern werde sich erst dann durchsetzen, wenn sich „Vorreiter“ aus der Intelligenz oder aus der Arbeiterklasse selbst entwickeln würden. Die Sicht von Chan und Siu auf den „Großen Widerspruch“ ist klar: Die politische Elite des Landes ist in ihrem nationalistischen Interesse bestrebt, die Wege zur Entwicklung von Klassenbewusstsein der Arbeiter zu versperren und die Verwirklichung der führenden Rolle der Arbeiterklasse zu unterbinden. Auf diesem Wege hat sie die verschiedenen Sichten und Gruppen dieser Klasse sozial auseinander dividiert. Ich füge hinzu: Damit verkam die Formulierung im Statut der KP Chinas, Avantgarde der chinesischen Arbeiterklasse zu sein, zu einer Phrase.

U. Eifler ist mit Blick auf die gesamte chinesische Arbeiterklasse auch mit der Entwicklung des Klassenbewusstseins befasst. Sie sieht in der Gründung „unabhängiger Gewerkschaften“ während der Tiananmen-Ereignisse 1989 einen neuen qualitativen Schritt in der Entwicklung der chinesischen Arbeiterbewegung. Das kann nicht überzeugen, da diese „Gründung“ durch vom Ausland inspirierte Kräfte erfolgte und nicht nachhaltig war. Gegenstand der Untersuchung von K. Suda sind die in den 1990er Jahren geborenen Hochschulabsolventen in urbanen prekären Lebensverhältnissen („Ameisenvolk“), die in den chinesischen Megastädten keine feste Anstellung finden. Ursachen für den Ausschluss dieser Gruppe aus dem ersten Arbeitsmarkt sieht die Autorin im chinesischen Hukou-Meldesystem, in den starken sozialen Netzwerken der chinesischen Gesellschaft und in der Forcierung des Bildungssystems auf die Förderung von Eliteinstitutionen. Das erschwere ihren Eintritt in die „urbane Mittelklasse“.

In ihrer Philosophensprache ist R. E. Karl unter dem Gesichtspunkt der Beziehung zwischen Politik und Kultur mit der Geschichte Chinas und des Maoismus im 20. Jahrhundert befasst. Sie zieht daraus Schlüsse für heutige kulturelle und politische Entwicklungen. Konkret wendet sie sich den Debatten Mitte der 1950er Jahre zu, in denen es aus ihrer Sicht um die Beziehungen zwischen Kultur und Politik in der sozialistischen Produktion ging. Sie arbeitet heraus, dass für Mao im Unterschied zu Stalin das Wertgesetz „mit dem Prinzip des gleichen und globalen Austauschs“ wirkte, solange Arbeitsteilung und Warenproduktion existieren. War Mao deshalb während des Großen Sprungs und in der „Kulturrevolution“ (vgl. seinen Brief an Lin Biao von Anfang Mai 1967) bestrebt, Arbeitsteilung und Warenproduktion möglichst schnell zu überwinden? Mit Reform und Öffnung sieht die Autorin eine immer intensivere Identifizierung Chinas mit dem „kapitalistischen“ Wertgesetz. Das hätte die Verschmelzung dieses Wertgesetzes mit der Entwicklung und Modernisierung erleichtert und den „Übergang zu den Ideologien des globalen kapitalistischen Systems“ ermöglicht (225). Im Mittelpunkt der Betrachtung von H. Nedderman steht die 2004 erschienene Reportage der chinesischen Journalisten Chen Guidi und Wu Chuntao „Zur Lage der chinesischen Bauern“, ein Untersuchungsbericht über die unmenschliche Ausbeutung und Unterdrückung der Bauern durch die lokalen Machthaber in der Provinz Anhui während der 1990er Jahre. Die Autorin sieht Mao Zedongs Untersuchungsbericht „Zur Lage der chinesischen Bauern“ aus dem Jahre 1927 in diesem Zusammenhang „als stillen Kommentator“. In der weiteren Betrachtung geht sie davon aus, dass sich am Gerechtigkeitsdefizit der 1990er Jahre in China bis heute nichts geändert hat.

Fazit: Die Argument-Ausgabe bestätigt, soweit sich die Autoren direkt oder indirekt dazu äußern, die „kapitalistische Struktur“ (W.F. Haug) des heutigen China. Von sozialistischen Verhältnissen ist selbst bei Li Qiang nicht die Rede. Viele Aufsätze reflektieren auch die von Haug aufgezeigte Rückwirkung der „kapitalistischen Struktur“ auf die politische „Superstruktur“ (das Sein bestimmt das Bewusstsein). Alles scheint für die These vom „Großen Widerspruch“ zu sprechen. Im Wesen wird jedoch auch die Annahme einer fortdauernden „kommunistischen Parteidiktatur“ infrage gestellt (vgl. die Beiträge von Chan/Siu und Heberer). Dabei ist ein Problem zu klären: Der politisch-ideologische Überbau in China ist augenscheinlich nicht allein durch die Rückwirkung der kapitalistischen Struktur, der ökonomischen Basis erodiert. Er unterlag aus meiner Sicht schon durch die Orientierung der chinesischen Führung, eingebettet in die kapitalistische Weltwirtschaft den Aufstieg zu einer Weltmacht voranzutreiben, einschneidenden Veränderungen. Darüber hinaus wäre aufgrund unserer heutigen Kenntnisse zu hinterfragen, ob bzw. inwieweit es zuvor in China im Sinne von Karl Marx überhaupt schon einen „aus der Geschichte … zum Staat gewordenen Marxismus“ gegeben hatte. Vierzig Millionen tote Chinesen infolge der Politik Mao Zedongs sprechen eigentlich dagegen. „Schönes neues China“?

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Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 30. 07. 2013.

[1][5] „Schönes Neues China“, hrsg. von Wolfram Adolphi, Das Argument 296, 54. Jahrgang, 2012, Heft 1-2.

[2][6] „Großer Widerspruch China“. Das Argument 268, 48. Jahrgang, 2006, H. 5/6.

[3][7] Vgl. die instruktive Übersicht in Z 89, März 2012, S. 8-16 (Globale Machtverschiebungen. Eine statistische Übersicht).

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