Berichte

Unsichere Zeiten

34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Jena, 6.-10. Oktober 2008

März 2009

Einer der klügeren Sponti-Sprüche lautete: „Wir wissen nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber es muss anders werden, damit es besser wird.“ Ähnlich der zeitdiagnostische common sense auf dem 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie: Gesellschaftliche Transformationen infolge des zusammengebrochenen Staatssozialismus und des rearrangierten Wohlfahrtsstaats, ergänzt um Terrorismus und Überwachungstechnologie sowie den dramatischen Klimawandel und – gerade rechtzeitig – die Finanz-marktkrise, seien verantwortlich für eine neue soziale Unsicherheit. Diese sei dramatisch, böte aber auch Chancen; der Verlust des Vertrauens in Politik und Wirtschaft führe zu einem wachsenden „Rebellionspotenzial“ – wofür, wogegen und ob sie das gut oder schlecht finden, ließen die Vortragenden weitge-hend offen.
Das Schöne an Parole und Zeitdiagnose ist, dass sie unwillkürlich Sympathien wecken, der Nachteil, dass sie sich un(an)greifbar machen. Insofern hat auch die mit jedem Kongress in der Berichterstattung der letzten Jahre wiederkehrende Kritik, die Veranstaltung sei aufgrund der Orientierung am kleinsten gemeinsamen Nenner und des Systems der ausufernden Ad-hoc-Gruppen inhaltlich beliebig, ihr Richtiges.
Darüber hinaus gibt es aus gesellschaftskritisch-emanzipatorischer Perspektive bei Großveranstaltungen wie der in Jena folgendes zu bedenken: Es sind nicht nur die Inhalte, die gute von schlechten Vorträgen und Diskussionen unterscheiden, genauso bedeutsam ist, ob und wie sie die „Lehranordnung“ in der Präsentation von Wissen, Kenntnissen und Forschungsergebnissen problematisieren. Ob es also gelingt, nicht nur – im Sinne Gramscis – „führend“ zu sein, Orientierung zu geben, moralische und kulturelle Ausstrahlungskraft zu gewinnen, sondern auch, diese Führung um ihrer Abschaffung willen zu nutzen. Von Stärke zeugten zunächst die Vorbereitungen des lokalen Organisationskomitees, nicht zuletzt die Bemühungen, mit einer Ausstellung, Videodokumentation und Publikation zum Jenaer Soziologentag 1922 und dem Soziologentreffen 1934 auch kritische Anstöße zur Geschichte der eigenen Disziplin zu geben und an die Affinität von Geist und Macht zu erinnern. Die Veran-stalter hatten also alles getan, um der Wissenschaft ein Forum zu bieten, aber auch einen Ort der Selbstverständigung und des Streits über die tatsächliche Relevanz ihrer Forschungsfragen. Dass die Risikobereitschaft der Vortragenden und der Mut zur These gering waren, ist nicht ihnen vorzuwerfen. Während etwa 1968 Dahrendorf noch feststellen konnte, dass der Kongress (in Frankfurt/Main) in einer „Atmosphäre beträchtlicher politischer Erregung“ stattfinde, kann diese heute nur noch als ‚Thema’ auf Äquidistanz gebracht werden (so in der Veranstaltung „1968 und die Soziologie“).
Nicht ganz zu Unrecht hat sich die Jenaer Soziologie zwar einen Ruf als gesellschafts- und kapitalismuskritisch erworben (vgl. etwa den für 2009 ange-kündigten Band „Soziologie, Kapitalismus, Kritik“ von Dörre, Lessenich und Rosa) und die Erwartungen konnten dementsprechend hoch sein. Zudem fokussierte das Kongressthema „Unsichere Zeiten“ auf prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse und die Transformation kapitalistischer Gesellschaften. Doch anders als vor 40 Jahren sind die Bildungsbedingungen kritischer Theorie schon strukturell ganz andere – auch ein noch so gut organisierter Kongress kann nichts daran ändern, dass die Universität nicht mehr zentraler Ausgangspunkt von Gesellschaftskritik ist, dass die Ökonomisierung und die Modularisierung des Studiums die Möglichkeit ungegängelten Denkens austreibt, dass die Prekarisierung Wissenschaftler materiell gefährdet und Einsparungen den Zugang zu Produktionsmitteln, die kritische Theorie ja auch immer braucht, beschneiden. Wurde Soziologie 1968 als – zugegeben: normativ überhöhte – Emanzipations- oder Befreiungswissenschaft betrieben, wagt man es heute gerade einmal, „soziologische Aufklärung“ zu fordern (so Ulrich Beck und der DGS-Vorsitzende Hans Georg Soeffner auf der Eröffnungsveranstaltung).
Kritische Impulse versprachen am ehesten noch die Debatten zu Arbeitsmarktun-sicherheit/Prekarisierung sowie zur Gegenwart gesellschaftlicher Klassen. Die Sozialwissenschaftler können sich darauf einigen, dass Prekarisierung – entgegen politisch-ideologisch überformter Deutungsweisen, die auf mangelnde Eigenverantwortung der Betroffenen abheben – auf gesellschaftliche Transformationsprozesse verweist, in deren Zentrum der Wandel des Lohnarbeitsverhältnisses steht (Ende der Normalarbeit, flexibilisierte Produktion, flexibilisierte Arbeitsmarktpolitik). Umstritten ist hingegen zum einen die tatsächliche Tragweite des Phänomens und zum anderen seine Beurteilung: Handelt es sich um die „soziale Frage des 21. Jahrhunderts“ (Castel, Dörre, Paugam) oder sind postfordistische Berufskarrieren nicht doch stabiler, als die Kritiker glauben machen (so etwa Struck)? Gegen die Kontinuitätsannahme spricht die Ausweitung tariflich und sozialstaatlich nicht abgesicherter, gering qualifizierter und schlecht bezahlter („unsicherer“) Arbeitsverhältnisse – eine Entwicklung, die nicht allein „Überflüssige“ oder „Ausgeschlossene“, sondern zunehmend auch die Mitte der Erwerbsgesellschaft betrifft (auf die Folgen der Prekarisierung des öffentlichen Sektors für den normativen Haushalt der Gesellschaft wies v.a. Bethold Vogel hin). Politisch sei dem durch Mindestlöhne, Standards „guter Arbeit“ und den Ausbau der Interessenvertretung für Arbeitnehmer abzuhelfen. Die Verfechter der „Stabilitätsthese“ hingegen erkennen zwar ein gewisses Maß der skizzierten Veränderungen an, betonen aber, dass die Mehrzahl der Erwerbsbiografien letztlich stabil verlaufe; das prekäre Potenzial flexibilisierter Beschäftigung mache sich nur vorübergehend und deshalb geltend, weil individuelle und gesellschaftliche Bearbeitungsweisen noch in der „Anpassungsphase“ steckten. In der Anwendung der Forschungen ginge es darum, wie dieser Prozess sozialpolitisch zu moderieren sei, d.h. wie Phasen des Übergangs von einem Erwerbsverhältnis zum anderen sozialstaatlich abgemildert werden können (etwa durch Maßnahmen zur Familienplanung; so auch der zum Kongress geladene Arbeitsminister Scholz).
An beiden Strömungen der Prekarisierungsforschung ließe sich die Einseitigkeit der integrationstheoretischen Perspektive kritisieren, ist es doch letztlich die Eingliederung in den Arbeitsmarkt, die als Problem ausgemacht wird und nicht etwa die systematische Entwertung menschlicher Arbeitskraft im (High-Tech-/postfordistischen/neoliberalen) Kapitalismus. Nach wie vor müssen sich weite Teile der Sozialwissenschaften den Vorwurf gefallen lassen, keinen adäquaten Begriff des Kapitalismus zu haben und Phänomene wie Prekarisierung daher nur reduziert begreifen zu können, weil sie nicht auf die Logik kapitalistischer Vergesellschaftung zurückgeführt wird.
Entscheidender als dieser Generaleinwand ist jedoch vielmehr, Prekarisierung als spezifische Lohnarbeitsform im Postfordismus zu thematisieren und damit: Klassenanalyse zu betreiben. In den auf dem Kongress geführten Auseinandersetzungen über den Klassenbegriff sind damit auch die Grenzen des Prekarisierungsdiskurses markiert. Die „Sektion soziale Ungleichheit“ (allein die Bezeichnung ist bezeichnend) nahm das Jubiläum des Aufsatzes von Beck („25 Jahre Jenseits von Stand und Klasse“) zum Anlass, einmal mehr einen Klassen-begriff zu verabschieden, den ohnehin niemand verteidigen mag. Statt Formen „postmoderner Sozialpositionierung“ (Ronald Hitzler, Dortmund) und – in einer Veranstaltung zu „Neue Klassen?“ – „Repräsentationsformen des Sozialen“ (Klaus Kramer, Münster) zu untersuchen, die doch nur nachweisen – wer hätte es gedacht –, dass es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Klassenlage und -bewusstsein gibt, hätte eine Umkehrung des Untersuchungsfokus gut getan: Was sind die Formen von Klassenkampf, als welche die Dynamik kapitalistischer Vergesellschaftung beschrieben werden könnte? In welchen Praktiken konstituiert sich das „historische und moralische Element“ in der Bestimmung des Werts der Arbeitskraft? Statt das „Prekariat“ zu Tode zu differenzieren, wäre ein Blick auf Potenziale politischer Verallgemeinerung interessant gewesen. Dazu wäre es freilich notwendig, die Perspektive der Betroffenen zu thematisie-ren, ihre „praktischen Bedürfnisse“ und tatsächlichen Praktiken in den Blick zu nehmen – selbst wenn die sich zunächst in der Forderung „Wir wollen Arbeit“ zu erschöpfen scheinen. Nicht „soziologische Aufklärung“ der Öffentlichkeit, sondern Aufklärung der Soziologie durch die Praxis hätte geholfen.
Wer die Frage nach den Subjekten entprekarisierender Politik stellt, so eine Debatte unter den kritischeren der Soziologen, liefert sich dem Verdacht aus, den klassischen (Frauen und Migranten exkludierenden) Wohlfahrtsstaat zurückzufordern. Tatsächlich: Früher, auch in Frankfurt 1968, war nicht alles besser. Doch die Erinnerung an „früher“ verweist auf gescheiterte soziale Kämpfe, ermöglicht überhaupt erst Lernprozesse und muss daher angesichts von Arbeits- und Aktivierungsanforderungen, die sich gewissermaßen „zeitlos“ geben, fast schon widerständig erscheinen. Niemand bringt das so schön auf den Punkt wie die Hamburger Band Kettcar: „Wir sind heiß und hungrig und hochmotiviert / Flexibel, spontan und qualifiziert / Wir sind teamfähig, unabhängig und be-lastbar / Uns ist heute egal, wo gestern noch Hass war“